Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit. Katja Kerschgens

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Название Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit
Автор произведения Katja Kerschgens
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847611097



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ließ seinen irgendwie etwas zu klein geratenen Kopf beinahe verschwinden.

      Nadine setzte sich neben ihn, schnappte sich einen anderen Kopfhörer, an dem auch ein Mikrofon angebracht war. Die Leitung zu Micha war freigeschaltet, sie sah es an den Blinklichtern. Das Licht, das anzeigte, dass das Mikrophon in die Sprecherkabine freigeschaltet war, sah sie nicht.

      »Oh Mann, was für ein verdammt blöder Start in den Tag. Brigitte ist im Krankenhaus, die hatte einen Blinddarmdurchbruch heute Nacht, das ist gar nicht witzig, die fällt jetzt länger aus, und ich war da jetzt überhaupt nicht drauf vorbereitet und hatte meine Gleitzeit heute genutzt, darum war ich später dran und dann hatte ich als Einzige ein Projekt gerade abgeschlossen und hierfür Luft und dann bin ich schnell losgefahren, aber die Straßenbahn war schon weg und dann kam kein Taxi ...«

      Micha sah kurz auf, blickte ein bisschen durch sie hindurch und dann wieder zurück auf seine Knöpfe und Schieberegler.

      »Gut, Soundcheck haben wir, warm gesprochen ist auch. Wir sind bei Seite vier jetzt. Willst du kurz reinhören?«

      Der Toningenieur stand offenbar unter Druck. Sie musste darauf hoffen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Er rechnete wohl nicht mit einem Ja, denn er sagte sofort: »So, die Produktionsleiterin Frau Walters ist dann jetzt auch gekommen. Wir machen da weiter, wo wir waren.«

      Da schwang so ein Hauch Ärger in seiner Stimme. Und Nadines Magen tat einen Satz, der Mensch in der Sprecherkabine musste alles mitgehört haben.

      »Hallo«, sagte sie. Sie wollte entspannt und souverän klingen, hörte aber im eigenen Kopfhörer nur ein kleines, piepsiges Schulmädchen.

      »Hallo«, kam es aus dem Kopfhörer.

      Diese Stimme kannte sie noch nicht.

      »Auf gute Zusammenarbeit, Frau Walters.«

      Diese Stimme.

      Diese Stimme.

      Sie ging Nadine bis in die Fußnägel, dann in ihre Nackenhaare und landete schließlich. Landete da, wo ... Sie klapperte mit den Augendeckeln. Was. War. Das. Denn?

      »Sie entschuldigen bitte, dass ich zur Begrüßung sitzen bleibe.«

      Diese Stimme.

      Nadines Kehle war mit einem Mal völlig ausgetrocknet. Das Manuskript, das sie gerade noch in den Händen gehalten hatte, segelte sanft zu Boden, die einzelnen Seiten schwebten wie Herbstblätter in langen Wellen nieder und verteilten sich malerisch auf dem braunen Korkfußboden.

      Ein Leben in Zeitlupe. Von jetzt auf gleich.

      »Eine Sekunde bitte, ich trinke noch einen Schluck Wasser.«

      Diese Stimme.

      Der Blick, den sie von Micha erntete, rauschte lautstark durch sie hindurch.

      »Können wir dann weiter machen, Frau Walters?«, fragte er sie, wartete aber nicht auf ihre Antwort. »Und bitte, Herr Noack!«

      Micha schaltete gleichzeitig die Verbindung in die Kabine aus und die Aufnahme ein.

      »Der Mann hinter dem Vorhang musste groß sein. Smith sah die Falten des schweren Vorhangstoffes auf eine bestimmte Weise verändert, die sein fotografisches Gedächtnis sofort interpretieren konnte.«

      Nadines Hände zittern wie dürre Äste im Sturm, während sie das Papier zusammenklaubte. Alles durcheinander, sie zu spät und völlig unvorbereitet - auf das! Hier! Dass es sich um ein brandeiliges Hörbuchprojekt handelte, weil es gleichzeitig mit der Übersetzung des Romans auf den Markt kommen sollte, machte die einzelnen Blätter brandheiß. Dass sie sich beim Bücken beinahe mit dem Kopfhörerkabel strangulierte, war so. So. Sexy.

      »Diese winzigen Nuancen im Farbenspiel des schweren Samtes waren eindeutig. Der Eindringling war größer als er selbst. Dass es ein Mann war, hatte seine Nase schon beim Betreten des Raumes ...«

      Diese Stimme.

      »Entschuldigen Sie bitte, Herr Noack, den letzten Satz freundlicherweise noch mal neu starten. Frau Walters ist gerade gegen den Crossfader gekommen.«

      »Dass es ein Mann war, hatte seine Nase schon beim Betreten des Raumes wahrgenommen. Diese Mischung aus Sandelholz mit einem Hauch Moschus und Angstschweiß war ganz eindeutig männlich. Er ging mit langen Schritten auf die Fensterseite des Raumes zu ...«

      Das Rauschen in Nadines Kopf schwoll an.

      »Sorry«, murmelte sie in Richtung Micha, der mit einem Auge sein eigenes Manuskript, mit dem anderen auf seinem Monitor die auf- und abschwellenden Digitalsäulen fixierte.

      »Wir müssen da insgesamt saugut durchkommen, dein Verlag und der Buchverlag hängen mir im Nacken«, Micha schaute sie kurz an, dann blickte er wieder auf seine Anzeigen, »und wir haben hier einen Topspeaker sitzen, der macht das alles nicht zum Spaß.«

      Nadine wollte zu einer Antwort ansetzen, aber endlich griff ein Teil der professionellen Routine der letzten Jahre. Sie suchte sich die richtige Stelle im Manuskript. Dass ihr das Herz aus den Ohren herausschlug, ihr Magen heiß lief und ihre Hände Eisklötze waren, war neu, aber sonst.

      »Kommen Sie da raus, sofort!«

      Ihr Atem flog.

      »Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?«

      Die Buchstaben auf dem Manuskript flatterten wild durcheinander.

      »Seien Sie lieber vorsichtig, ich bin bewaffnet.«

      Ihr gesamter Körper kribbelte.

      »Wie sind Sie hier hereingekommen?«

      Nadine fragte sich, wie sie hier wieder herauskommen sollte. An konzentriertes Arbeiten war überhaupt nicht zu denken. Schlagartig wurde ihr bewusst, in was sie da hineingeraten war: Von jetzt auf gleich hatte sie ein absolut hochrangiges Projekt übernommen. Vor ihr lag das Manuskript eines weltweiten Topsellers. Dieses Buch wurde genauso sehnsüchtig auf dem Markt erwartet wie die ungekürzte Hörbuchfassung. Höchste Aufmerksamkeit garantiert.

      Und sie saß da und hatte nur einen Gedanken.

      Diese Stimme.

      Sie war fassungslos darüber, wo es einem Menschen überall heiß werden konnte.

      »Pardon, sicher haben Sie es auch gerade gemerkt, Herr Noack«, Micha klang regelrecht unterwürfig, »da hatten Sie im letzten Abschnitt eine Inquit-Formel übersprungen.«

      »Ja, das stimmt. Ich handhabe das absichtlich an manchen Stellen so, damit die Dialoge flüssiger klingen.«

      »Aha. Ja, also gut, wie Sie meinen.«

      Micha bewegte die Computermaus, drückte Knöpfe. Ohne seine Sitznachbarin anzusehen, nörgelte er: »Ich mache übrigens gerade deinen Job hier.«

      Nadine hatte überhaupt nicht gemerkt, dass der Sprecher ein »sagte er« übersprungen hatte. Der gesprochene Text hatte ohne dieses Füllsel tatsächlich besser gewirkt.

      »Ja. Äh. Ich bin jetzt ganz da«, stammelte sie.

      »Na hoffentlich.«

      Die nächsten Seiten flogen vorbei. Nadine war berauscht. Entrückt. Erregt.

      Sie hatte schon so viele ausgefallene, warme, voluminöse, ergreifende, rauchige oder knarzende Stimmen gehört. Und nie, wirklich nie hatten die Sprecher so ausgesehen, wie sie sich den Menschen hinter dieser Stimme vorgestellt hatte.

      Das war nicht schlimm. So war das halt.

      Aber hier wäre das schlimm.

      Das hier war eine unglaublich attraktive, aufregend männliche, im wahrsten Sinne atemberaubende Stimme. Es konnte kein Gesicht geben, das dazu passte. Das wäre zu viel des Guten. Und jedes andere Gesicht wäre eine Katastrophe.

      Ihre Gefühlswallungen mischten sich mit ihrem Gedankenkarussell vom Vortag. In ihrer Welt war alles gut, schlechte Erfahrungen waren ihr fremd. Und so sollte es auch bleiben,