Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg. Horst Lederer

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Название Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg
Автор произведения Horst Lederer
Жанр Документальная литература
Серия gelbe Reihe bei Jürgen Ruszkowski
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783742721822



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Zahl an Hausbewohnern, die hier auf engstem Raum zusammen wohnten, deren Herkunft, Temperament, Lebensgewohnheiten sehr unterschiedlich waren, eskalierten Konflikte zwischen den einzelnen Familien recht selten. Ich kann mich nur an einen Fall erinnern, als ein etwa siebenjähriges Mädchen in höchster Bedrängnis seine Notdurft in einem Sauerkrautfass verrichtete, das seine Besitzer auf dem Kellergang abgestellt hatten. Das sorgte einige Tage lang für Aufsehen.

      Grundsätzlich war das ganze Gutshaus tagsüber von unbeschreiblichem Lärm erfüllt, von Kindergeschrei, von lautem Gebrüll, von den Auseinandersetzungen zwischen Familienmitgliedern, die mitunter zornig und schrill geführt wurden. Sie waren durch die dünnen Wände ebenso vernehmbar wie das heftige Schluchzen, das verhaltene Weinen und das leise Wimmern. Aber niemand behelligte die Nachbarn mit seinen Sorgen und Schwierigkeiten.

      Von dem Wenigen, was diese Flüchtlinge besaßen, wurde nichts gestohlen oder absichtlich beschädigt. Im Gegenteil, man half einander, soweit das möglich war, nahm Rücksicht aufeinander, insbesondere bei der Nutzung der Waschküche für die große Wäsche oder das Kochen von Rübensirup. Niemand beneidete den anderen wegen eines unbedeutenden Vorteils.

      So gab Georg Manthey, der nicht imstande war, seine Kuh zu melken, meiner Mutter täglich die Milchmenge für uns Kinder ab, die über sein Ablieferungssoll hinaus übrig blieb, dafür dass sie ihm das Melken abnahm, während unsere Kuh trockenstand.

      Am 22. Dezember 1945 trafen meine Tante Liesbeth Rettig, die jüngste Schwester meiner Mutter und ihre Tochter Rosemarie, aus Godow bzw. Waren/Müritz kommend, im Gutshaus ein und begehrten hier Aufenthalt. Das bedeutete, dass wir in unserem Zimmer weiter zusammenrücken mussten. Von nun an teilte sich meine Mutter das eine Holzbett mit unserem Bruder Klaus, und das andere Tante Liesbeth mit Rosemarie. Später äußerte „Tante Lieschen“, diese Anrede mochte sie nicht gern, sie sei „nach Arpshagen gekommen, um die Siedlungen ihrer Schwestern auf Vordermann zu bringen“. Ob sie diesem hochgesteckten Anspruch gerecht geworden ist, kann ich nicht bestätigen. Nach meiner Erinnerung hielt sich Tante Liesbeth bei Feld- und Stallarbeiten weitestgehend zurück. Die blieben weiterhin das Betätigungsfeld der Lederer-Schwestern. Tante Lieschen hielt sich meistens im Hause auf, kochte und buk, wusch, kaufte in Klütz ein, säuberte die Zimmer gewissenhaft und strickte viel. Die Wolle dafür lieferte ihr unsere Großmutter, die sich in den Kochpausen häufig am Spinnrad betätigte.

      Anschluss an die Kirchgemeinde Klütz

      Als am 1. Oktober 1945 der Unterricht an der Klützer Volksschule wieder begann und die Eröffnungsfeier mit etwa 900 Kindern in der Klützer St.-Marien-Kirche u. a. mit einer Ansprache des Pastors Wömpner stattfand, wähnten unsere Familienangehörigen, darin einen Ausdruck der Religiosität dieser neuen Zeit zu erkennen. Dieser Eindruck wurde dadurch noch bestärkt, dass einmal wöchentlich nach der letzten Unterrichtstunde in den Räumen der Schule Christenlehre erteilt wurde, und zwar von der Nichtpädagogin Frau Pasemann. Uns Schülern wurden Hausaufgaben erteilt, die wir nur mit Hilfe von Bibel und Gesangbuch lösen konnten, z. B. biblische Geschichten nachzuerzählen oder etliche Liedstrophen auswendig zu lernen. Eine Bibel hatten wir auf unserem Fluchtwagen mitgebracht, aber ein Gesangbuch fehlte uns. Ich lieh es mir anfangs bei der alten Frau Müller aus, die mich aber immer harsch und unfreundlich empfing, mich bei jeder Begegnung bissig anblaffte, sodass ich Tante Liesbeth um Hilfe bat. Sie konnte die meisten Lieder auswendig, schrieb mir die Texte der einzelnen Strophen auf, korrigierte auch meinen fehlerhaften Gesang. Aber jetzt war ich nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen.

      An einem Sonntagmorgen im Winter 1946 holte mich meine Mutter aus dem Bett und erklärte mir Folgendes: „In unserer Familie war es immer ein ungeschriebenes Gesetz, dass an jedem Sonntag eine Person zum Gottesdienst in die Kirche ging. Wegen der landwirtschaftlichen Arbeiten und der Versorgung der Tiere konnten wir das nicht alle. Aber meine Mutter bestimmte jeweils eine von uns, die für die ganze Familie am Gottesdienst teilnahm. Du musst verstehen, dass ich melken, den Stall ausmisten, füttern, mich um die Ablieferung der Milch kümmern und anschließend Klaus versorgen muss. Solange Vati noch nicht zu Hause ist, habe ich für den Kirchgang keine Zeit. Da habe ich gedacht, das müsstest du übernehmen, weil du ja der Älteste bist. Mach dich fertig, damit wir beide noch gemeinsam frühstücken können!“ Von da an hatte ich jeden Sonntag jeweils um dieselbe Zeit meine ganz konkrete Aufgabe für die Familie zu erfüllen.

      In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Klützer Kirche bei jedem Gottesdienst bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige Besucher nahmen die inzwischen verwaisten Plätze auf der Empore der Familie von Bothmer, der Patrone der Klützer Kirche, ein. Ich ergatterte mir mit Mühe einen Platz in der letzten Reihe unter der Orgel, der meist in Dämmerlicht getaucht war.

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       Klützer St.-Marien-Kirche

       Foto: Rabanus Flavus

      Viele weinten während des Gottesdienstes. Einige wischten sich verschämt die Tränen aus den Augen, andere schluchzten hörbar. Ich hatte das Gefühl, dass Hunger, der Verlust eines Angehörigen, die Trennung von der Heimat oder eine Krankheit sie so depressiv und freudlos gemacht hatten. Zum anderen imponierte mir auch der Pastor Wömpner, der im schwarzen Talar mit dem weißen Beffchen auf der Kanzel stand und mit dem, was er sagte, diesen hoffnungslosen Menschen Trost und Lebensmut zusprach, und das ohne Manuskript, aber mit wechselnder Lautstärke und sich ständig änderndem Tonfall. Trotzdem verstand ich manches nicht, weil er sich ja an die Erwachsenen wandte.

      Es gab für mich manche Schwierigkeiten: Zunächst war für mich der gesamte Ablauf des Gottesdienstes neu, auch die gesamte Liturgie. Ich besaß kein Gesangbuch, konnte deshalb nicht mitsingen oder in anderer Weise aktiv werden. Das Schlimmste aber für mich war, dass ich Sonntag für Sonntag eine Stunde lang entsetzlich fror, vor allem so kalte Füße hatte, dass ich sie manchmal gar nicht spürte. Zwei Dinge beeindruckten mich: Die Kirchenbesucher waren zumeist sehr traurig, sahen bleich, mager, abgehärmt, hoffnungslos, sehr ernst drein.

      lm Gutshaus berichtete ich davon meiner Mutter und Tante Liesbeth. Meine Mutter schlug mir daraufhin vor, ab Ostern eine Stunde später zur Kirche zu gehen und am Kindergottesdienst teilzunehmen. Vorher erlebte ich aber noch am Palmsonntag, dass unter den Konfirmanden dieses Jahrgangs auch zwei Arpshagener waren, Helga Russow und Rolf Kaßner. Von nun an wurde der Kirchgang für mich erheblich angenehmer. Da es Frühling geworden und mithin wärmer war, hatte ich keine kalten Füße mehr. Für die Gestaltung des Kindergottesdienstes hatte Pastor Wömpner einen ganzen Mitarbeiterstab gewonnen, ausschließlich junge Mädchen, die zur Klützer Jungen Gemeinde gehörten, Irmgard Wigger †, Fräulein Brauner, Evamaria Lehmann †, Ruth Rogowski †, Lieselotte Sander, später auch die Katechetin Irma Ziebell †, die jeweils in einem anderen Teil der Kirche eine Altersgruppe auf die in der zusammenfassenden Predigt zu behandelnde biblische Geschichte vorbereiteten, uns Fragen dazu stellten, aber auch unsere Fragen beantworteten, unbekannte Begriffe erklärten und mit uns eines der Lieder übten, das später gemeinsam gesungen werden sollte. Am meisten freute ich mich immer auf eine in der amerikanischen Zone gedruckte, reich bebilderte Kinderzeitschrift, die Pastor Wömpner an uns beim Verlassen der Kirche verteilte.

      Jeden Donnerstagabend fand im Klützer Gemeindesaal eine Bibelstunde statt, an der auch eine Reihe Frauen aus Arpshagen regelmäßig teilnahm, Frau Maria Schulz, Martha Glass, die alte Frau Müller, Frau Schmidt, Frau Anna Reinke, Frau Ziesler und unsere Großmutter Alwine Diethert, also ausschließlich Flüchtlinge.

      Meine Tante Else gehörte als junges Mädchen dem Netztaler Jugendbund an, den die Diakonisse Henriette Roth leitete und u. a. auch einen leistungsstarken Jugendchor gründete. Schwester Henriette erkannte Else Dietherts gesangliches Talent und förderte es, indem sie Else Soloparts und Duette mit Orgelbegleitung singen ließ. Der Jugendchor trat anlässlich von weltlichen und kirchlichen Festen auf, so alljährlich zu Fronleichnam in den Eichbergen. Viele der Lieder hatte sich meine Tante so fest eingeprägt, dass sie sie auch noch in Arpshagen bei manchen Feldarbeiten oder auch häuslichen Tätigkeiten vor sich hin summte oder laut trällerte. Dann hörte sie, dass in der Klützer Kirchgemeinde ein gemischter Chor