Töchter aus Elysium. Werner Siegert

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Название Töchter aus Elysium
Автор произведения Werner Siegert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847699941



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geht es doch, Hugo! Sie sind doch nur Mitwisser. Sie sind Kronzeuge. Können auf Milde hoffen. Sie sind doch nur der Letzte, den die Hunde beißen! Geben Sie doch auf! Lassen Sie Ihr Schießeisen fallen!“

      „Das ist doch nur ein Trick! Sie haben mich doch schon lange auf dem Kieker! Ich kenne Sie doch! Wenn Sie mich eingelullt haben, klicken die Handschellen. Da liefere ich Ihnen lieber ein Gefecht bis zur letzten Patrone und sterbe hier, wo ich mein beschissenes Leben geführt habe!“ Wie zur Bestätigung schoss er wieder in Richtung Klosterhof, wo die Querschläger durch die Luft sirrten.

      „Hugo, ich komme jetzt rein zu Ihnen. Ich bin nicht bewaffnet. Ich will nur mit Ihnen reden. Ich habe keine Handschellen. Wenn Sie kooperieren, kommen Sie gut aus der ganzen Sache raus. Dann können Sie wahrscheinlich bald wieder zurückkehren oder gehen, wohin Sie wollen! Sie haben es in der Hand, ob Sie für immer hinter Zuchthausmauern verschwinden oder bald als freier Mann leben können!“

      Lothar Velmond kam langsamen Schrittes mit erhobenen Händen aus seiner Deckung.

      „Freier Mann! Dass ich nicht lache! Ich habe ja noch nicht einmal Papiere! Ich bin doch gar nicht existent! Was wissen denn Sie schon, wie es den Stiefelknechten dieser Scheißgesellschaft geht? Wann - glauben Sie denn - habe ich zuletzt Geld gesehen? Wann meinen Lohn bekommen, wenn ich ihn nicht erpressen konnte? Oh ja, wenn wieder was schief gelaufen war, dann klingelte mal ein kleines Sümmchen Schweigegeld in der Hand. Dumm genug, wie ich war! Schweigegeld! Wo sollte ich es denn ausgeben? Wofür? Die hatten mich doch in der Hand. Hugo! Hugo! Ich heiße nicht Hugo, damit Sie es wissen! Die haben mich doch nur zum Hugo gemacht! Hugo, Hugo - das ist doch nur eine Kurzform von Arschloch, von Mistkerl, von G’schwerl! Von Abtreter!“ Voller Wut schoss er abermals eine Salve in die Fenster des Haupthauses.

      Velmond hatte inzwischen die Tür erreicht. Die Polizisten hatten das Haus umstellt und waren mit Hilfe zweier Bewohnerinnen über die Küche und Wäscherei in die ehemaligen Stallungen und jetzigen Garagen gelangt. Hinter Hugos Wohnung hatten sie Leitern angestellt. Einige Polizisten versuchten, ihn zu provozieren, damit er seine Position am kleinen Fenster nicht verlässt. Das war ja seine Schießscharte, hinter der er sich sicher fühlte. Dennoch verschwand er plötzlich. Offenbar hatte er Velmond gehört, der die Treppe zu seiner Wohnung hinaufzusteigen begann.

      „Ich bin nicht bewaffnet, Hugo oder wie Sie immer heißen! Sie sind für mich nicht der Hugo. Ich will mit Ihnen sprechen. Ich will, dass Sie uns helfen. Unerlaubter Waffenbesitz - da kommen Sie drüber hinweg.“

      „Bleiben Sie stehen, Herr Hauptkommissar! Euch Bullen kann man doch nicht trauen! Knöpfen Sie Ihre Jacke auf! Ziehen Sie Ihre Jacke aus, damit ich sehen kann, was Sie da drunter versteckt haben!“

      Velmond folgte seinen Anweisungen. Hugo hielt seinen Gewehrlauf ständig auf ihn gerichtet. Da schepperte irgendetwas hinter ihm. Blitzschnell drehte er sich um und schoss blindlings eine Salve in den hinter ihm liegenden Flur. Dann hörte man nur noch das Klicken in seiner Waffe. Das Magazin war leer. Zwei Polizisten traten von beiden Seiten aus Zimmertüren, schlugen Hugo die Waffe aus der Hand. Er taumelte und fiel hinterrücks die Treppe hinunter, Hauptkommissar Velmond mit sich reißend, den er sofort an der Gurgel zu packen versuchte. Der aber rammte sein Knie mit voller Wucht zwischen Hugos Beine. Mit einem Aufschrei ließ dieser ihn los. Ein Beamter, der sich an der Haustür bereit gehalten hatte, bekam ihn an den zappelnden Füßen zu packen und zog ihn raus auf den gepflasterten Hof. Nun allerdings klickten die Handschellen.

      „Hugo oder wie immer Sie wirklich heißen, das hätten Sie alles vermeiden können. Was in den letzten Sekunden zusammengekommen ist, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Tötungsversuche und so weiter und so weiter, jetzt wird es erst richtig schlimm für Sie! Abführen!“

      Nachdem Hugo in Gewahrsam genommen war, konzentrierten sich die Beamten auf die möglichen Waffenverstecke. Sie wurden schnell fündig. Auf dem Dachboden der Stallungen stießen sie auf ein umfangreiches Waffenarsenal, ausschließlich Kriegswaffen der deutschen Armee. Ganze Kisten mit Munition, Handgranaten, Panzerfäuste. Wenn der Blitz mal in dieses Haus eingeschlagen hätte, nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Eine Sondereinheit wurde angefordert, um das gefährliche Gut zu bergen und abzutransportieren.

      Velmond durchsuchte in aller Eile Hugos Wohnung. Er fand in der Schublade eines alten, wackligen Küchentisches ein paar Schreibhefte und alte Kalender. Dazu ein Sparbuch - noch auf Deutsche Mark lautend. Voller Erstaunen stellte er fest, dass Hugo in fast allen Zimmern Regale voller Bücher bis an die Decke hatte.

      Das Hinterhaus wurde versiegelt. Im Haupthaus summte es wie in einem Bienenstock. Die Schießerei, die klirrenden Fensterscheiben, die in die Wände geballerten Geschosse, die Einsatzwagen, die jetzt rasch mit Blaulicht und Sirene aus dem Wald kamen, das war ja wie im Krieg. Aber so schnell, wie der Konvoi vorgefahren war, so schnell setzte er sich wieder in Bewegung. Nur eine kleine ‚Task Force’ blieb zurück. Velmond war sich dessen bewusst: Dies war erst - wie man zu sagen pflegt - die halbe Miete.

      Eigentlich empfand Velmond Mitleid mit diesem Mann, so wie er Mitleid mit den vielen, unzählig vielen Hugos in dieser Gesellschaft empfand. Mit jenen, die die Drecksarbeit verrichten und dann noch ihren Kopf dafür hinhalten mussten. Oh ja, auch er selbst fühlte sich manchmal als Hugo. Und wenn er an die Soldaten in Afghanistan dachte, waren sie nicht alle Hugos?

      Am nächsten Tag musste er ihn vernehmen, zusammen mit Elsterhorst und seiner Assistentin Möbius. Jetzt machte Hugo einen äußerst entspannten Eindruck, so als ob er froh wäre, dass nach viel zu langer Zeit eine qualvolle Epoche für ihn zu Ende gegangen wäre. Velmond übernahm die erste Runde:

      „Ihr Name, Geburtsdatum, Geburtsort und Wohnsitz?“

      „Herr Hauptkommissar, mein bürgerlicher Name ist Franziskus Faller. Oder so ähnlich. Franz oder Franziskus. Jedenfalls muss das noch irgendwo registriert sein. Damit endet aber schon mein Wissen. Ich bin ein Bankert, vermutlich ein sogenanntes Pfaffenkind, Fehltritt eines Pfarrers oder Kaplans, abgeschoben in ein von Nonnen geführtes Waisenhaus. Vermutlich geboren 1948, Nachkriegskind. Einen Geburtstag habe ich nicht. Nur Namenstag. Wo ich wohne, wissen Sie ja!“

      „Wann sind Sie in das Nonnenkloster St. Agatha gekommen?“

      „Nach der Schule, also wohl mit 14. War eine Befreiung!“

      „Wieso? Welchen Schulabschluss haben Sie?“

      „Na ja, es ging sehr streng zu. Wir Pfaffenbankerts mussten wohl die Züchtigungen erleiden, die die Nonnen eigentlich unseren Erzeugern oder deren Liebchen zugedacht hatten. Es gab die unschuldigen Kindlein - und uns. Heute würde man sagen, ich habe einen Hauptschulabschluss. Ein Zeugnis habe ich nicht.“

      „Und dann, Herr Faller? Erzählen Sie mal, wie den Ihr weiteres Leben ablief!“

      „Also wissen Sie, Herr Hauptkommissar, dieses ‚Herr Faller’ klingt so, als sei da noch ein anderer Mann im Raum. Dann schon eher ‚Franz’ oder lassen Sie’s beim ‚Hugo’. Also im Kloster oder vielmehr in der Ökonomie kam ich in die Lehre beim Fridolin. Der hieß auch nicht so, wurde aber von allen so genannt. Wissen Sie, unsereins ist nicht ‚Herr Soundso’, sondern eben Fridolin oder Hugo. Fridolin war ein Kriegsheimkehrer. Er erzählte mir oft von den wirren Tagen bei Kriegsende. Ende des Krieges diente das Kloster als Lazarett. Dann war es wohl ein Fluchtort versprengter Soldaten. Als die Amis kamen, hat Frido sich in dem verlassenen Gemäuer versteckt. Die Nazis und die Soldaten waren geflohen. Er hat dann im Park, im See, in den Ställen die Waffen und den ganzen Kram aufgesammelt. Hat er mir erst viel später gezeigt.

       Früher, zu Zeiten der Nonnen, gab es ja noch Kühe, Schweine und Hühner sowie ein Pferd für den Wagen. Nachdem der Fridolin verstorben war, wurden die Tiere abgeschafft. Erst das Pferd, dann die Schweine, dann die Kühe. Jetzt gibt es nur noch meine Hühner.

       Vom Fridolin habe ich alles gelernt. Wie man Stromanschlüsse legt, Wasserleitungen repariert, undichte Dächer. Dann natürlich alles, was im Garten zu tun ist. Die Nonnen lebten ja fast nur von dem, was die Ökonomie, der Garten und der Wald so her gab. Fischen habe ich gelernt, denn freitags gab’s ja nur Fisch oder, wenn wir nicht genügend Fische gefangen