Название | Familien-Biografik |
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Автор произведения | Rainer Adamaszek |
Жанр | Зарубежная психология |
Серия | |
Издательство | Зарубежная психология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783844206920 |
Wenn Rupert Sheldrake (1988, 158) im Zusammenhang mit seiner Theorie der „morphischen Felder“ von „Wahrscheinlichkeitsstrukturen“ spricht, dann verzichtet er auf den Blick für das im menschlichen Leben Wesentliche. Es tauchen bei ihm zwar Analogien zur Problematik der Verantwortlichkeit auf, aber es handelt sich dabei eben nur um Analogien, nicht um Analysen. Darum wäre zu ergänzen: Wenn das von mir so genannte „semantische Feld“ in seiner ersten und zweiten Ordnung zunächst ja nur beobachtet wird, dann scheint die Wahrheit der Verantwortung durch die Phänomene bloß hindurch und bleibt noch weitgehend unkonturiert. Wirklich erfasst werden kann, was die Wahrheit dieser „Felder“ ausmacht, erst dann, wenn sie ihrer dritten Ordnung gemäß untersucht werden. Dazu ist die genaue Betrachtung der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse zwischen den beteiligten Personen erforderlich, und zwar nicht nur das Verhältnis zwischen den Anwesenden, sondern vor allem das Verhältnis der jeweils Anwesenden zu den Abwesenden. Um dies nun doch wenigstens in ersten Ansätzen zu demonstrieren, habe ich zunächst die drei folgenden Fallbeispiele gewählt.
2.4 Drei schicksalhafte Einbrüche im Leben
Beinbruch
Das nächste Beispiel steht für die Erfahrung, dass es nicht allein um endogen hervorgebrachte Symptome und Erkrankungen geht, sondern um eine das Innere sowie das Äußere umfassende Dynamik, an deren aktuellem Zustandekommen auch andere Personen beteiligt sind. Infrage kommen dabei vor allem Personen aus derselben Familie, aber durchaus auch Fremde:
Ein junger Mann, der mich in einer Entwicklungskrise aufsuchte und über dessen Geschichte ich, abgesehen von seinen psychischen Beschwerden, noch nichts erfahren hatte, kam zur zweiten Sitzung. Er hatte sich, meinem Wunsch entsprechend, mit den Eckdaten der Familiengeschichte präpariert. Diesmal fiel mir bei seinem Eintreten auf, dass er nicht gleichmäßig ging. Mir war sein Gangbild beim ersten Besuch nicht ungewöhnlich vorgekommen. Jetzt fragte ich nach dem Grund. Er berichtete, dass er vor über 8 Wochen eine Schienbeinfraktur erlitten habe, die ihm manchmal noch Schmerzen bereite. Ich teilte ihm mit, dass der Bruch nach meiner Erfahrung eine Bedeutung habe, die sich aufklären würde, wenn wir unsere Arbeit fortsetzten. Zuvor wollte ich ihm aber schon in allgemeiner Form ankündigen, was wir herausfinden würden: Da es das rechte Bein sei, das er sich gebrochen habe, sähe ich mich zu der Annahme veranlasst, dass seine Standfestigkeit durch einen schweren Einbruch in der väterlichen Linie seiner Familie Schaden gelitten habe. Ich füge hier eine Bemerkung ein: Nach meinen Erfahrungen ist die rechte Körperhälfte eines Menschen in einem grundlegenden Sinne auf seinen Vater bezogen. Diese Erkenntnis drängt sich jedem auf, der die Symptome radikal als Symbole für die „Eigentümlichkeit“, d.h. leibhaftige Bezogenheit, eines Menschen aufzufassen bereit ist. Die Auffassung selbst mag ungewohnt, esoterisch oder gar befremdlich erscheinen. Dem Befremden liegt aber eine halbherzige, ängstliche Haltung gegenüber der Empirie als dem ersten Prinzip aller Wissenschaft zugrunde. Denn es handelt sich hier tatsächlich um Alltagserfahrungen, die jedermann machen kann und beständig macht.
Als ich meinen Patienten dann ohne Umschweife nach den Lebensdaten seines Großvaters väterlicherseits fragte, erfuhr ich, dass dieser mit 29 Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen sei. Der Vater des Patienten war damals zwei Jahre alt. Der Patient war zum Zeitpunkt des Schienbeinbruchs 29 Jahre alt. Und nun war er verblüfft, als er erkannte, dass ich ihm im Grunde genau einen derartigen Zusammenhang als wirksamen angekündigt hatte.
Bei genauer Betrachtung des Genogramms (Abb. 2.3) zeigt sich, dass die Ehe des Vaters nach fünf Jahren zerbrach, also genauso lang währte wie die Ehe des Großvaters, dass aber diesmal die Frau die Trennung nicht erlitten, sondern aktiv vollzogen hat. Und die Trennung erfolgte nicht, weil der Mann starb, sondern weil er sein Leben in einer außerehelichen Tochter verdoppelt hat, indem er diese zeugte. Als er aber diese Tochter zeugte, verwirklichte er damit einen unerfüllten Wunsch seiner Mutter. Diese hätte gern mit ihrem Mann neben dem Sohn noch eine Tochter gehabt, was aber infolge des Krieges nicht möglich war. Ihr Sohn also vollbrachte dies unvollendete Werk mit seiner zweiten Frau: einer Stellvertreterin seiner Mutter und seiner Ehefrau. Es gibt also mehrfach Anlass, in diesem Fall von - unbewussten - Umkehrungen und Ausgleichsbewegungen durch verschiedene Stellvertreter zu sprechen. Eine derartig konkretisierte Betrachtung kommt der Wahrheit einer Erkrankung ein ganzes Stück näher. Grundsätzlich vertrete ich aber die Auffassung, dass bei der Erfassung sämtlicher wirksamer Zusammenhänge Vollständigkeit praktisch nicht zu erlangen ist, sondern eine - therapeutisch unbedingt zu respektierende - Utopie bleibt. (Vgl. Abb. 2.3)
Mir kommt es hier nur darauf an, einen ersten Eindruck von den Gesetzen zu vermitteln, die ich unter dem Begriff Biografik, sowie der Gesetzmäßigkeiten, die ich unter dem Begriff der Leibhaftigkeit zusammenfassen möchte: Ich schaue nach dem, was in der Generationenfolge einer Familie gefehlt hat. Das ist immer eine verantwortliche Person bzw. eine Person, die Verantwortung hätte wahrnehmen müssen, um einem Kind Schutz zu geben. Es spielt für die Analyse nur am Rande eine Rolle, ob das Fehlen als Verlust oder als Verfehlung zustande gekommen, ob das Fehlende eine Handlung oder eine Unterlassung gewesen ist. Primär sind die systemischen Folgen zu bedenken, die darin bestehen, dass ein Kind das Fehlende als eigene Schuldigkeit, wie automatisch, unbewusst übernimmt und sein Lebensrecht davon abhängig macht, inwiefern es ihm gelingt, dafür zu sorgen, dass die „Schuld“ beglichen werde. Die körperlichen Folgen dieses Prozesses sind mit den emotionalen Folgen ebenso verschränkt, wie Wahrnehmen und Bewegen miteinander verschränkt sind. Das ist das wesentliche Argument, warum ich es vorziehe, vor jeglicher Einzelbeobachtung zunächst grundsätzlich von „leiblichen“ Folgen zu sprechen. Denn die Leiblichkeit ist die widersprüchliche Einheit des (im Verhältnis von Wahrnehmen und Bewegen bereits auf geheimnisvolle Weise zwiespältig erscheinenden) Körperlichen und Seelischen. (Viktor von Weizsäcker, 1950, 1988)
Abb. 2.3: Beinbruch (1995)
Legende: ein Schrägstrich = Trennung; zwei Schrägstriche = Scheidung
Praktisch wirkt sich die primär unabweisbare Stellvertreterfunktion des Kindes wiederum so aus, dass das Kind unter seiner Ohnmacht leidet oder an seiner Ohnmacht andere Menschen leiden lässt. Charakteristisch ist das Aufbrechen des Schmerzes im Leben dieses Kindes, in anderen Situationen auch das Aufbrechen von Angst oder von Scham, in jedem Fall aber ein elementares (seltener auch abgeleitetes) Gefühl für jene Ohnmacht, die bei den Eltern eines Kranken durch das Fehlen bzw. durch die Verfehlung(en) von Vergangenen erfahren worden ist. Diese Folgen lassen sich aus den Symptomen und Erkrankungen eines Menschen mit einem - für den Ungeübten kaum glaublich - hohen Maß an Treffsicherheit erschließen, und zwar auch dort, wo man sie nicht, wie in dem angeführten Beispiel, schon unmittelbar voraussagen kann.
In Bezug auf den Beinbruch lässt sich also die Frage „Warum ausgerechnet jetzt?“ sofort beantworten, wenn man sich auf die Kenntnis der Gesetze des Lebenslaufs von Nachfahren stützt, mit Blick auf das Genogramm des jungen Mannes. Die Antwort lautet aber nicht etwa: „Weil der Großvater väterlicherseits in demselben Alter gestorben ist.“ Sie lautet vielmehr: „Weil der Tod des Großvaters vom Vater bis heute nicht verschmerzt