Verfangen. Ingrid Neufeld

Читать онлайн.
Название Verfangen
Автор произведения Ingrid Neufeld
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847622246



Скачать книгу

Arschlöcher… verdammte Wichser… hirnlose Bande…“ Mit jedem Schimpfwort wütete er gegen seine Hoffnungslosigkeit. Er trat auf den morschen Holzteilen herum, bis sie zerbröselten. Lauter kleine Holzstücke verschandelten jetzt den gesamten Platz. Doch Sven hatte noch immer nicht genug. Er näherte sich der Rutsche und rüttelte am Aufbau. Dann zerschlug er mit der bloßen Hand die Sprossen der Leiter.

      Erst jetzt kam Sven langsam zur Ruhe. Er hatte sich den Alkohol aus dem Leib gewütet. Jedenfalls wurde er allmählich wieder nüchtern. Na ja so richtig blau war er ja gar nicht. So ein paar Flaschen Bier waren gerade mal genug, dass man so richtig wütend werden konnte, aber besoffen? Besoffen war was anders. Jetzt hatte er den Alkohol größtenteils wieder rausgeschwitzt.

      Genug, um sich die Misere mit klaren Augen anzuschauen.

      Er begriff, was er da angerichtet hatte. „Scheiße verdammte!“, schimpfte er. Aber diesmal galten die Aggressionen ihm selbst.

      „So eine Sauerei!“

      Er schaute sich die Folgen seiner Raserei an und schämte sich auf einmal in Grund und Boden. Sven war ein Baum von einem Kerl, der auch schon mal seine Aggressionen so richtig raus ließ. Aber jetzt fiel ihm wieder ein, dass er eine Tochter hatte.

      Morgen wollte er Anja vom Kindergarten abholen und danach auf den Spielplatz gehen. Aber auf diesen Schrotthaufen? Er sah, dass er das seiner Tochter nicht mehr zumuten konnte. Einem anderen Kind auch nicht. Nervös schaute er sich um. Zum Glück war gerade niemand da, der auf den Spielplatz wollte.

      Obwohl Sven nicht gerade der gute Kumpel von nebenan war, hatte selbst er das, was man einen guten Kern nannte. Dieser Keim seines besseren Ichs durchrang sämtliche Schichten und schwamm in sein vom Alkoholdunst umnebeltes Gehirn. Dort breitete sich sein besseres Ich aus und befahl ihm, die Verantwortung für die Spielplatzrandale zu übernehmen. Deshalb, beschloss Sven, die Schäden zu beseitigen.

      Also suchte er nach dem Hausmeister der Anlage. Nicht in der Absicht, dem zu erzählen, dass der momentane Zustand des Spielplatzes auf sein Konto ging.

      „Gut, dass ich Sie treffe. Am Spielplatz müsste was gemacht werden. Die Bretter… und so…“, begann er.

      Der Hausmeister reparierte gerade eine Türklingel und war gar nicht gut drauf. Irgendein Kontakt funktionierte nicht, wie er sollte. „Als hätte ich sonst nichts zu tun.“, knurrte er ungnädig.

      „Ja, deshalb wollte ich ja helfen. Wenn Sie ein paar Bretter hätten, würde ich das für Sie übernehmen.“, bot sich Sven an.

      Der Hausmeister, Martin Schlegel, legte den Schraubenzieher hin, kratzte sich am Ohr und schaute Sven ungläubig an. Der wollte freiwillig was tun? Kam sonst nie vor. Alle wollten sie was von ihm. Keiner tat selber was.

      Natürlich wusste er über die morschen Bretter Bescheid, aber er hatte bisher keine Zeit und auch keine Lust gehabt, sie zu reparieren, aber wenn der Bachmeyer das tun wollte…

      „Im Keller gleich hinter der ersten Tür liegt ein Stapel Bretter. Sind noch übrig. Die können Sie nehmen.“

      Wenig später machte sich Sven am Spielplatz zu schaffen. Zuerst entsorgte er die kaputten Holzreste. Richtig ordentlich, obwohl Sven sonst gar nicht zur Ordnung neigte, eher zum Chaotentum. Danach machte er sich daran, die neuen Bretter des Hausmeisters entsprechend zurechtzusägen und am Sandkasten fest und kindersicher zu verschrauben.

      Auch die Holzkonstruktion, die als Leiter auf die Rutsche führte, versah er mit stabilen Holzbalken, auf die die Kinder treten konnten, ohne durchzubrechen.

      Als er die Arbeit beendet hatte, fühlte sich Sven so richtig zufrieden mit sich selbst.

       Unheimlich

      Paul saß abends noch im Büro und arbeitete Unterlagen auf, zu denen er den ganzen Tag über nicht gekommen war. Auf seiner Etage gab es sonst niemanden mehr. Alle genossen längst ihren wohlverdienten Feierabend. Erst recht seine Sekretärin, die heute wegen eines Zahnarzttermins schon um fünfzehn Uhr gegangen war. Paul kniff die Augen zusammen. Er arbeitete ungern bei künstlichem Licht. Wenn er so lange am Computer saß, sah er zunehmend immer schlechter. Plötzlich schrak er hoch, denn jemand stand vor ihm am Schreibtisch. Komisch, er hatte doch gar niemanden kommen hören. Außerdem müsste doch längst die Eingangstür abgesperrt sein. Seltsam. Er musterte den späten Besucher. Ein Mann unbestimmten Alters, gekleidet in einen gut sitzenden Anzug. Paul spürte sofort die ungewöhnliche Ausstrahlung und wurde augenblicklich von dessen faszinierender Persönlichkeit in Bann gezogen. Obwohl der Besucher eher durchschnittlich aussah und keine besonderen Merkmale, wie ein besonders markantes Gesicht, oder einen durchtrainierten muskulösen Körper aufwies. In seiner Durchschnittlichkeit wirkte dieser Mann außergewöhnlich. Paul hätte nicht sagen können wieso.

      Die Firma, in der Paul arbeitete, stellte wichtige Medikamente her. Das Geschäft lief ausgezeichnet. Als Betriebswirt wusste er wie gut das Unternehmen dastand. Vor kurzem hatte die Geschäftsführung beschlossen, zusätzlich zur Herstellung auch eine Forschungsabteilung aufzubauen. Pauls derzeitige Arbeit bestand darin, die richtigen Lieferanten für die Einrichtung der benötigten Laboratorien zu finden.

      „Mein Name ist Lukas Morgen. Ich komme von der Firma Laboromed und wollte Sie noch mal daran erinnern, dass wir uns an Ihrer Einrichtungs-Ausschreibung beteiligt haben. Also wie sieht’s aus?“

      Überrascht klappte Pauls Unterkiefer herunter. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er wollte den Kopf schütteln. Eine abwehrende Bewegung machen. Doch er war von der Persönlichkeit seines Gegenübers so sehr gefangen genommen, dass er all seine Kraft brauchte, um zu murmeln: „Ihr Angebot wird wohlwollend geprüft.“

      Lukas Morgen zog sich einen Stuhl heran, auf den er sich unaufgefordert setzte. „Das reicht mir nicht.“

      Er schaute Paul so durchdringend an, dass dem in Sekundenschnelle kleine blitzartige Schauer durch den Körper jagten, von der Fußsohle bis ins Gehirn, wo sie in atomkleine Teile explodierten. Dort lähmten sie ihn so, dass er das Folgende wie in Zeitlupe wahrnahm.

      „Sie haben finanzielle Probleme, Herr Hübschmann.“, verriet der Besucher. Pauls Gesicht verlor jede Farbe. Woher wusste der Besucher das? Er hatte mit keinem Menschen darüber gesprochen. Pauls Magen krampfte sich zusammen und er fühlte sich, als habe er einen Schlag dorthin erhalten. Langsam kroch ihm die nackte Angst den Rücken hinauf. Sie spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen wieder. Wer war der unheimliche Besucher?

      „Aber wer hat die nicht?“, relativierte Lukas Morgen das vorher Gesagte. „Trotzdem haben wir eine Lösung für Ihr Problem. Wir machen das Geschäft und geben Ihnen ein Stück vom großen Kuchen ab. Sagen wir 10 000 Euro? Das dürfte genügen.“

      Paul sagte gar nichts mehr. Er schluckte. Das Angebot hörte sich verlockend an.

      Dann meinte er: „Das kann ich nicht allein entscheiden.“

      Morgen lächelte unmerklich. „O doch, das können Sie und Sie werden. Ihre kleine Firma brauchen wir da gar nicht erst zu erwähnen.“

      Paul Hübschmann sackte zusammen. Der fremde Besucher kannte nicht nur sein finanzielles Desaster, sondern wusste sogar von seinen unsauberen Geschäften!

      Er saß in der Zwickmühle. Er, der sich immer für integer und absolut unbestechlich gehalten hatte, für den Ehrlichkeit so etwas wie Ehrensache gewesen ist, sah sich jetzt einer völlig ausweglosen Situation gegenüber. Einer Situation, die zwangsläufig in Unehrlichkeit enden musste.

      Paul erkannte, dass diese unerklärliche Angst, die ihn befallen hatte, berechtigt war. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die ausweglose Situation jagte Adrenalin in absoluter Höchstdosis durch seine Adern.

      Wie war er nur hier hineingeraten? Hektisch schaute er von seinem Besucher hinüber zum Fenster, als ob er sich von dort Hilfe erhoffte. Doch die gaben nur den Blick auf den dunklen Nachthimmel frei, an dem noch nicht einmal Sterne als Hoffnungsschimmer blinkten. Nur der Mond ließ kurz seine