ein ungeklärter Mord. Iris Bleeck

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Название ein ungeklärter Mord
Автор произведения Iris Bleeck
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847681717



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in Moskau als Partisan oder Geheimagent, was auch immer er dort gewesen war, viel gelernt. Zum Beispiel wie man den Feind unterwandert, aber mit Sicherheit nicht, wie man Irmi unterwandert.

      Es kam der Tag, an dem das Mädchen Olga, die erste, bewusst wahrgenommene Ablehnung traf. Ein Junge aus dem Dorf rief: „Russen- Olga- Popolka, welcher Iwan ist dein Vater?“ Dabei signalisierte sein Lachen tiefe Verachtung für sie oder ihren Namen, beides verletzte Olga. Sie lief zu ihren Großeltern, beklagte sich, worauf der Großvater dem Jungen eine Ohrfeige verpasste und den heulenden Buben aufklärte, dass Olga im richtigen Leben Marie hieße, und nur ihre Mutter sich diesen Namen ausgedacht hatte. So zu sagen, um Marie ein wenig zu ärgern. Warum sie das tat, wisse nur der Himmel. Seit diesem Tag nannten alle Kinder Olga nur noch Marie. Zu gefürchtet waren Mertens Ohrfeigen.

      Entspannung

      Für Irmi entspannte sich das Verhältnis zur Dorfbevölkerung spürbar, seit dem Tag, an dem sie in der Zentrale für die Vergabe von Wohnraum, Baustoffe und Brennmaterial saß. Die Menschen grüßten sie freundlich, auch gab es keine schmutzigen Kommentare mehr über das uneheliche Kind und seine Herkunft. Sie erfuhr Respekt, und das wusste sie zu nutzen. Karl unterschrieb als Bürgermeister, was Irmi vorher beschlossen hatte. Geschickt spielte sie immer wieder mit seiner Hoffnung, ihr Herz doch noch zu erobern. In solchen Momenten legte sie einen Antrag auf Bewilligung einer Zuzugsgenehmigung für die Stadt auf seinen Schreibtisch. Das tat Irmi besonders gern, wenn sie jemanden loswerden wollte. Schnurrte dann wie eine Katze, streifte bewusst im Vorbeigehen Karls behaarten Arm: „Dieser Willi Schielke, du weißt schon, der seine Finger nicht von anderen Frauen lassen kann, der hat jetzt Arbeit als Schlosser auf der Werft in Stralsund. Immerhin zwölf Kilometer von der Insel bis zur Volkswerft, und dann noch über den Rügendamm. Das bedeutet für Emma, sie muss mitten in der Nacht aufstehen, um Brote zu schmieren, damit Schielke mit dem Fahrrad pünktlich zur Schicht kommt. Und wie soll er das im Winter schaffen, wenn alles verschneit ist? Die erste Kleinbahn fährt erst morgens um acht Uhr. Und wahrscheinlich ahnt seine Frau, was er nach der Schicht in der Stadt so treibt.“ Karl schaute aufmerksam. Es war ihm nicht entgangen, dass Irmi die Sicht von Schielkes Frau vorgetragen hatte: „Du bist zu gut für diese Welt. Hat der Dreckskerl dich auch belästigt?“ Irmi ließ seine Worte eine Weile im Raum wirken: „Darauf muss ich nicht antworten, Genosse Karl“, erwiderte sie leicht pikiert. Das bedeutete für ihn alles oder nichts. Er nahm den Antrag und unterschrieb. Ziemlich zornig, wie es Irmi schien. Sorgsam darauf achtend, dass Karl ihr dabei zusah, wie sie die Tinte trocken hauchte, nahm sie das Dokument, und machte sich auf den Weg zu Emma Schielkes Notunterkunft. Irmi hatte immer noch diese Grazie, warf ihre langen blonden Haare, die sie jetzt zum Zopf gebunden hatte, wie in früheren Zeiten, in den Nacken. Erst ging sie die Dorfstraße entlang, vorbei an den Weiden, die der alten Martha in ihrem knorrigen Wuchs, ähnlich waren, bis hin zum Weiher. Dort etwas außerhalb, stand das frühere Armenhaus, in dem jetzt Emma mit ihrer Familie hauste. In dem trostlosen Backsteinbau waren vor dem Krieg die Armen untergebracht. Nicht zu nah am Dorf, man wollte nicht ständig an deren Elend erinnert werden. Nach dem Kriegsende hatten hier Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf gefunden. Nur Emma war mit ihrer Familie geblieben, andere wurden umverteilt oder flohen über die grüne Grenze in den Westen.

      An der Baracke angekommen, stieg Irmi über unzählige Kothaufen der umherlaufenden Hühner und Gänse, bis sie endlich den Eingang erreichte. Erst auf kräftiges Klopfen öffnete Emma zögernd die altersschwache Tür. Als sie Irmi erblickte, erschrak sie ein wenig. Gleichzeitig fragte sie sich; Warum allein deren Gegenwart sie verunsicherte, weshalb fiel es ihr schwer, Irmis Blicke zu erwidern? War es wirklich nur das armselige Dasein in dieser Baracke, für das Emma sich schämte? Oder doch Irmis weibliches Aussehen, das nicht nur Männer verwirrte? Während Emma das Empfinden hatte, dass ihre Figur nach der Geburt ihres Kindes aus der Form gelaufen war, sah Irmi immer noch aus, als ob die Jahre spurlos an ihr vorüber gehen würden. Als Irmi Emma freundlich begrüßte, wischte die sich flüchtig mit einem Schürzenzipfel über ihr Gesicht. So, als wolle sie damit die Last der jüngsten Vergangenheit und der jämmerlichen Gegenwart ungeschehen machen, und heraus käme ein stolzer Schwan. So wie Irmi einer war. Als die ihr die Bewilligung der Zuzugsgenehmigung für die Stadt aushändigte, fiel Emma der Überbringerin um den Hals. Endlich konnten sie dieses gottverdammte Nest verlassen, in das es sie und ihren Willi 1945 als Schlesien- Flüchtlinge verschlagen hatte. Keine Träne würde sie dem Leben hier nachtrauern. Nur noch weg, schlimmer konnte es mit der Wohnsituation in der Stadt auch nicht sein, als hier, in dieser halb verfallenen Baracke, deren Dasein nur durch Schielkes Ausbesserungskünste an einem seidenen Faden hing. Schuldbewusst sagte Emma: „Irmi, ich hab dir wohl Unrecht getan, vor allem, wegen deines Kindes. Dass du uns geholfen hast, werde ich nicht vergessen. Nun kann endlich ein neues Leben beginnen“. Emmas Gesicht bekam einen glänzenden Ausdruck, als ob sie es mit Melkfett eingerieben hätte: „In der Stadt gibt es genug Handarbeitsgeschäfte, ich kann ins Kino gehen, oder mich in ein Lokal setzen. Ach, Irmi, du musst uns unbedingt besuchen.“ Irmi wand sich ein wenig unter Emmas überschwänglicher Dankbarkeit. Versprach vorbeizuschauen, wenn das Wohnungsproblem geklärt ist. Das Irmi mit dieser Bescheinigung ein ganz anderes Problem für sich gelöst hatte, konnte oder wollte Emma nicht ahnen.

      Willi Schielke hatte längst ein Auge auf Irmi geworfen. Unverhohlen stellte er ihr seit Wochen mit anzüglichen Bemerkungen nach. Erst vor wenigen Tagen war es am Waldrand zu einer bedrohlichen Begegnung zwischen beiden gekommen. Ihr war schnell klar, dass er ihr aufgelauert hatte. Sie rief ihren Hund bei Fuß, damit sie ihn auf Schielke hetzen konnte. Mit seinen Blicken wanderte er über ihren Körper. Nur einen winzigen Augenblick verschwendete sie an die Überlegung, wie es wäre, wieder mit einem Mann zusammen zu sein. Bei diesem Gedanken verzogen sich ihre Mundwinkel angewidert nach unten. Nie mit diesem selbstgefälligen Kerl, der sich für unwiderstehlich hielt, seine Frau schlecht behandelte und zu viel trank. Nun stand er nah, zu nah bei ihr. Sein nach Alkohol riechender Atem verstärkte ihren Ekel. Die Worte: „Du willst es doch auch. Wer weiß, wo du dein Balg aufgesammelt hast“, warf er ihr geradezu entgegen.

      Irmis Hund begann zu bellen, verbiss sich gefährlich knurrend in ein Hosenbein von Schielke, während der einen Schritt zurücktrat, als wolle er Anlauf nehmen, dann begann Irmi zu laufen. Der träge Willi hatte keine Chance, sie einzuholen.

      Das alles fiel ihr ein, als sie sich von der dankbaren Emma verabschiedet hatte.

      Lehrer Groothe

      Als das Mädchen Olga eingeschult wurde, war ihr russischer Name im Dorf fast vergessen, selbst der einarmige Lehrer Groothe übernahm den Rufnamen Marie.

      Groothe hatte in Russland seinen rechten Arm verloren, schnell und schmerzhaft für Leib und Seele. Eine Granate riss ihn aus der Verankerung mit seinem Körper. So, als werde der Arm nicht mehr gebraucht. Seit dieser Zeit flatterte an Groothes rechter Körperseite der inhaltlose Ärmel seines Hemdes. Wie ein vergessenes Stück Wäsche, auf der Leine im Wind. Die Kinder übersahen bald seine Verstümmelung. Nur noch manchmal fanden sie ihn bedauernswert. Es war noch nicht lange her, seit Groothe Emma gebeten hatte, ihm den Haushalt zu führen. Für sie war es eine willkommene Abwechslung, und ab und zu strickte sie einen Pullover für ihn. Dabei tat sie so, als ob es diesen verloren gegangenen Arm nie gegeben hätte. Nicht die kleinste Öffnung ließ sie, durch die sein Hemd hätte nach draußen schlüpfen können.

      Hansi

      Hansi war Emma und Willi Schielkes einziges Kind, geboren im Frühling 1945. Gutmütig war er, etwas dicklich, und manchmal konnte man glauben, er sei ein wenig einfältig. So trödelte er in jeder Hinsicht den anderen Kindern des Dorfes hinterher.

      Groothe aber mochte das Kind. Vielleicht erinnerte der Junge ihn an seine eigene Versehrtheit, oder es waren der Glanz und die rosige Aufgeregtheit im Gesicht von Hansis Mutter, die er nicht übersehen konnte, wenn sie wieder etwas für ihn gestrickt hatte. Zweimal in der Woche lief Emma zur Schule, um Groothes Stube, die kleine Küchenecke und das Klassenzimmer zu säubern. In dem größten Zimmer der Dorfschule wurden die Kinder unterrichtet. Jedes Mal strich Emma mit ihrem Putzlappen über Hansis Sitzplatz und