Название | Die kleine Insel am Ende der Welt |
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Автор произведения | Richard Mackenrodt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738028805 |
Wenn Phillip Schwarz mit dem E-Bike unterwegs war und anderen Menschen begegnete, benahm er sich unauffällig und kein bisschen exzentrisch. Er trat zurückhaltend auf, aber nicht wortkarg. Er besuchte Kunstausstellungen, und manchmal führte er dort mit Gleichgesinnten fachkundige Gespräche. Er flog in der Economy-Klasse nach Monte Carlo, um sich dort, von einer Hotelsuite an der Strecke, das Formel-Eins-Rennen anzusehen. Oder er begab sich, bekleidet mit einem Schutzanzug, in die Niederungen der Münchner Kanalisation und durchstreifte sie einen Nachmittag lang. Solche Dinge tat er nicht, um sich zu entspannen – und auch nicht, weil er vielleicht nicht ganz bei Trost gewesen wäre – sondern ausschließlich, um sich Inspiration zu holen für neue Spiele. Oder für Updates zu bereits bestehenden Spielen. Denn Nero Black Enterprises war einer der bedeutendsten Hersteller von Computerspielen, und Phillip Schwarz das große Mastermind dahinter. Er tat nichts aus purem Vergnügen. Vergnügen war nicht Teil seiner Existenz. Schwimmen ging er, um seine körperliche Kraft zu erhalten und den Geist frei zu bekommen für neue Ideen – nicht, weil es ihm Spaß gemacht hätte. Filme sah er, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was inhaltlich und stilistisch bei der Jugend, die seine Spiele kaufte, gerade angesagt war. So funktionierte er. Alles verfolgte einen Zweck, nichts geschah ohne tieferen Sinn. Manchmal fragte er sich, warum er so war und wieso er das eigentlich alles tat. Er hatte mehr Geld verdient, als er jemals ausgeben konnte. Es bereitete ihm auch längst keine Befriedigung mehr, Erfolg zu haben. Ganz im Gegenteil sogar: Er hasste die Vorstellung, dass Hunderttausende vor irgendwelchen Konsolen, Tablets oder Handys saßen und mit seinen Spielen auf raffinierte und grafisch ach so anspruchsvolle Weise ihre tumben Gewaltfantasien auslebten und ihren Geist verdorren ließen. All diese Menschen hielt er für Schwachköpfe, und sich selbst für schuldig, ihnen auch noch das letzte bisschen Individualität aus den Köpfen zu saugen. Trotzdem steckte er all seine Kraft in die Weiterentwicklung der Spiele, und seine Fangemeinde dankte es ihm. Der geheimnisvolle Nero Black war eine Kultfigur, voller Begeisterung trugen die Leute T-Shirts mit Motiven aus seinen Spielen, und natürlich mit dem berühmten Firmenlogo von NBE, das in der Mitte sein stilisiertes Konterfei mit schwarzer Sonnenbrille trug.
Kathrin Schmidtbauer war Nero Blacks persönliche Assistentin und die einzige Person im gesamten Unternehmen, mit der er in Kontakt stand. Die meiste Zeit saß sie vor ihrem Computermonitor, und wann immer er es für nötig hielt, loggte er sich ein und erteilte ihr schriftliche Anweisungen. Phillip Schwarz wollte nicht, dass in der Firma irgendjemand auch nur seine Stimme kannte. Natürlich hatte er leitende Angestellte, und es gab auch einen Aufsichtsrat, aber mit all diesen Leuten kommunizierte er nicht direkt. Die einzige Schnittstelle war Kathrin Schmidtbauer. Sie nahm für ihn an allen wichtigen Sitzungen teil und übermittelte seine Kommentare. Kathrin empfand diese Art der Zusammenarbeit noch immer als skurril, hatte sich aber daran gewöhnt. Und warum hätte sie sich beklagen sollen? Sie wurde gut bezahlt, sie musste keinen schwarzen Kohlenstoff tragen, weil sie nicht in der Öffentlichkeit auftrat, die Kollegen in der Firma waren größtenteils in Ordnung, und sie war ohnehin jemand, der pragmatisch dachte und dazu neigte, das Positive zu sehen. Phillip Schwarz schätzte derart unkomplizierte Menschen, und er mochte vor allem Kathrins Stimme, die so weich und melodisch war. Denn er schickte ihr zwar immer nur schriftliche Nachrichten, sie aber sprach zu ihm, wenn sie antwortete. Mit keiner Stimme war er so vertraut wie mit ihrer. Kathrin hingegen kannte ihren Chef zwar nicht persönlich und hielt ihn für einen verklemmten Sonderling, aber irgendwie mochte sie ihn trotzdem und entwickelte für ihn fast so etwas wie mütterliche Gefühle, obwohl sie nur wenige Jahre älter war. Wenn sie zu ihm sprach, nahm sie schon lange kein Blatt mehr vor den Mund, und er hatte sie dafür noch nie zurecht gewiesen.
An diesem Morgen stellte Kathrin eine Leitung her, damit ihr Chef hören konnte, was die beiden Mitarbeiter vom Gelände der morgen beginnenden Games Convention zu berichten hatten. Das schwarz gekleidete Duo war verabredet mit Lisa Bürger, die mit ihrer Firma Messebau B&B für den Aufbau des Messestands von Nero Black Enterprises zuständig war.
Lisa war spät dran und deswegen etwas unruhig, denn schließlich würde sie gleich nach dem Termin zum Flughafen fahren müssen. Deswegen fiel ihr der Zehnjährige nicht auf, der auf einem Skateboard umher fuhr, und vor allem entging ihr, dass er während der Fahrt einen großen, rosafarbenen Kaugummi auf den Asphalt spuckte. Auf dem Weg zur Halle war Lisa eingerahmt von ihrer jungen Assistentin Simone und den beiden gutgebauten Kerlen in Schwarz. Ihre Jacketts trugen Aufnäher von der Größe eines Tennisballs, die das NBE-Logo mit dem verschatteten, stilisierten Gesicht des Firmenchefs zeigten. Also mussten sie dem supercoolen Image der Firma entsprechen bis unter die gefärbten Haarspitzen.
»Der Stand ist so gut wie fertig«, sagte Lisa.
»Aber Sie werden nicht hier sein? Und Ihre Geschäftspartnerin auch nicht?« Der größere der beiden Männer stellte diese Fragen, und in seinen Worten schwang Verwunderung mit. Seine Miene aber blieb hinter der pechschwarzen Sonnenbrille absolut regungslos.
»Es wird alles perfekt sein«, antwortete Lisa und bemühte sich, besonders viel Ruhe und Überzeugungskraft in ihre Stimme zu legen. »Auch ohne unsere Anwesenheit. Frau Eggers wird uns würdig vertreten.«
Lisas Assistentin deutete ein Nicken an. Die Männer in Schwarz ließen nicht erkennen, was sie von Lisas Worten hielten. Der Vibrationsalarm ihres Mobiltelefons fing an zu brummen. Lisa sah auf dem Display, wer mit ihr sprechen wollte, entschuldigte sich kurz bei den beiden Männern, wischte über den Touchscreen, nahm das Gespräch an und sagte ohne jede Begrüßung: »Ich ruf dich gleich zurück.« Sie legte auf, steckte das Gerät wieder ein, und ohne es zu ahnen, steuerten die vier Personen nicht nur auf den Eingang der Halle, vor dem große Plakate von der bevorstehenden Messe kündeten, sondern auch direkt auf den rosafarbenen Kaugummi zu, der wie eine Monster-Amöbe lauernd auf dem Boden lag…
Der Stand von Nero Black Enterprises war sehr groß und hauptsächlich in Schwarz gehalten, was nicht wirklich überraschend war. Es gab aber auch ein paar Grautöne, und analog zu den angepriesenen Spielen sogar ein paar sparsame Farbreflexe. Das Logo mit dem Sonnenbrillen-Gesicht war omnipräsent, in allen möglichen verschiedenen Größen, und vor allem auf dem Hintergrund des Standes prangte es gigantisch, fast vier Meter hoch. Oberhalb davon stand NBE geschrieben, darunter Nero Black Enterprises. Über den Stand verteilt waren eine ganze Reihe von Konsolen, PC’s und Tablets installiert, bereit für den spielwütigen Ansturm der Messebesucher, dem es ab morgen Früh standzuhalten galt. Ein paar Männer und Frauen wuselten herum, sie alle waren durch eine Weste mit dem Rückenaufdruck Messebau B&B als Lisas Leute erkennbar.
»Heute«, erläuterte Lisa, »werden nur noch Kabel verlegt und Geräte getestet.« Sie lächelte die Männer in Schwarz gewinnend an und fragte sich, wieso die beiden auch in der Halle ihre Sonnenbrille aufbehielten. Sie wusste noch nicht, dass es dafür tatsächlich einen Grund gab.
»Herr Black ist ein wenig verwundert«, sagte der kleinere der beiden.
»Und worüber?«
»Weil Sie morgen nicht zur Eröffnung kommen. Und Ihre Geschäftspartnerin auch nicht.«
Lisa sah ihn irritiert an. »Das kann er doch noch gar nicht wissen. Ich habe es Ihnen ja gerade eben erst gesagt.«
»Trotzdem weiß er es.«
»Woher?«
»Herr Black ist uns zugeschaltet.«
»Wie kann das sein?« Lisa war verblüfft.
Der kleine NBE-Mann legte die Kuppe seines Zeigefingers auf den Steg seiner Sonnenbrille, der die beiden Gläser miteinander verband. Lisa beugte sich vor, als hätte sie vorgehabt, ihn zu küssen. Nun sah sie, exakt in der Mitte der Brille, die winzige Linse und dicht daneben den noch etwas kleineren Audio-Eingang.
»Das gibt’s doch nicht«,