Wer ist Archibald Meerrettich?. Maya Khoury

Читать онлайн.
Название Wer ist Archibald Meerrettich?
Автор произведения Maya Khoury
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847629122



Скачать книгу

Klassenlehrer nickte und wartete gespannt auf die Antwort des Neuen. Er hatte allerdings nur mit einem kurzen Beitrag gerechnet.

      Archibald räusperte sich und begann zögernd, einen längeren Vortrag über Attila dem Hunnen zu halten. Sie erfuhren, dass Attila von etwa 406 bis 453 gelebt hat, dem asiatischen Nomadenvolk angehörte, welches während des 4. und 5. Jahrhunderts von den Kaspischen Steppen aus nach Westen vordrang. Attila war somit Beherrscher eines Großreiches zwischen Schwarzem Meer und dem Rhein.

      Doch plötzlich versagte seine Stimme und er musste ein paar Mal nach Luft schnappen. Mit der einen Hand klammerte er sich an der Tischkante fest, als drohe er umzukippen. Doch er fing sich schnell wieder und sprach fließend und ohne Unterbrechung weiter.

      „Im Jahre 451 fiel er in Gallien ein. Er traf dort auf den römischen Feldherrn Flavius

      Aetius, der ihn in der Schlacht auf dem Katalaunischen Feldern besiegte. Es soll eine der schrecklichsten Schlachten des Altertums gewesen sein.“

      Archibald Meerrettich stockte wieder Sekunden lang, fasste sich aber schnell. Herr Kieling kam gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Archibald Meerrettich wusste jede Einzelheit zu berichten. Er war ein wandelndes Lexikon. Sehr beeindruckend, fand Herr Kieling, äußerte sich jedoch nicht, um nicht den Unmut der Klasse heraufzubeschwören. Vielleicht würden sie ihn vorschnell aus ihrer Gemeinschaft ausschließen und ihn als Musterknaben abstempeln. Aber nach der Stunde könnte er ihn zur Seite nehmen und ihn nach seiner Schulbildung fragen. Möglicherweise sollte er in die nächsthöhere Klasse wechseln. Der Neue fuhr derweil unbeirrt fort:

      „Attila starb im Jahre 453 in seiner Hochzeitsnacht mit der Gotin Ildikó. Die Todesursache wurde nie geklärt. Nach seinem Tod zerfiel das Reich.“

      An dieser Stelle wurde er von Herrn Kieling unterbrochen.

      „Sehr gut,“ lobte der Lehrer, blickte jedoch jetzt ein wenig gereizt auf seinen neuen Schüler, denn die Stunde näherte sich bereits ihrem Ende und der Neue schien überhaupt nicht aufhören zu wollen. Er stand immer noch aufrecht vor seinem Platz und machte keine Anstalten sich zu setzen.

      „Soll ich auch noch das Gedicht über den Hunnenzug von Börries Freiherr von Münchhausen vortragen?“ fragte er in freudiger Erwartung und schaute Beifall heischend in die Klasse.

      Herr Kieling verneinte aber entschieden.

      „Nein, das ist erst einmal genug.“

      Und das war es wirklich. Jetzt wollte er zunächst einmal gründlich über Attila dem Hunnenkönig mit seiner Klasse diskutieren. Dann sah man weiter.

      „Widerlicher Streber,“ flüsterte Berti und Flips drehte sich um und stimmte ihm mit verschwörerischer Miene aus tiefsten Herzen zu. Palle aber war eingenickt. Sein Kopf berührte fast die Tischplatte. Er zuckte zusammen, als er einen schmerzhaften Stoß vom Ellenbogen seines Tischnachbarn spürte und sah in das dreckig grinsende Gesicht von Berti.

      „Selber blöd,“ murmelte Palle und kam langsam in die Wirklichkeit zurück. Er setzte sich aber wieder ordentlich hin.

      Herr Kieling sank ermattet auf seinen gepolsterten Stuhl, als ahnte er, dass er es mit

      dem neuen Schüler nicht leicht haben würde. Er passte einfach nicht in seine Klasse.

      Das fanden die anderen auch. Aber Sternchen war anderer Meinung. Hoffentlich würde sie später nicht enttäuscht werden. Gut, dass sie nicht in die Zukunft schauen konnte.

      Der Klassenlehrer war sichtlich erleichtert, als es zur Pause läutete. Er würde später mit Archibald Meerrettich über dessen Schulbildung sprechen. Für heute reichte es ihm. Jedoch sollte er auch die nächsten Tage nicht dazu kommen, seinen neuen Schüler zu befragen.

      Grüppchenweise versammelten sie sich in der Pause auf dem Schulhof, um über den Neuen zu quatschen. Das war erst einmal das Thema des Tages. Sowohl den Jungen als auch den Mädchen ging Archibald Meerrettich gehörig auf den Wecker. Man war sich ausnahmsweise einmal einig. Nur Sternchen tanzte aus der Reihe und nahm ihn in Schutz.

      „Warum seid ihr alle gegen ihn?“ fragte sie. „Weil er so schlau ist und alles weiß? Oder weil er anders aussieht als wir?“

      Da wurde sie mit bösen Blicken bedacht und sagte lieber erst einmal gar nichts mehr, denn sie wollte es sich mit den anderen nun auch nicht verderben.

      Der Neue verharrte während der Pause still auf seinem Platz im Klassenzimmer und wartete geduldig auf die nächste Unterrichtsstunde. Er hatte sich den anderen nicht angeschlossen. Vielleicht hatte er befürchtet, wieder ausgelacht zu werden?

      Mathematik stand auf dem Stundenplan. Nachdem es zum Unterrichtsbeginn geläutet hatte und alle wieder vollzählig versammelt waren, betrat Herr Krause, ihr Mathelehrer, den Unterrichtsraum. Er warf einen kurzen neugierigen Blick auf den fremden Schüler, beachtete diesen jedoch ansonsten nicht weiter. Natürlich war er schon von Herrn Kieling vorgewarnt worden. Aber er, das begnadete Genie Axel Krause, würde den Schüler mit Leichtigkeit in die Tasche stecken, will heißen diesen in jeder Hinsicht besiegen. Das wäre doch wirklich gelacht. Und deshalb machte er sich auch überhaupt keine Gedanken. Doch sollte auch er sich gewaltig irren.

      Herr Krause griff lässig und schwungvoll nach der Kreide und schrieb ein paar mathematische Formeln an die Tafel. Dann drehte er sich um und schaute erwartungsvoll in die Klasse.

      „Ich bitte höflichst um Entschuldigung, etwas ist offensichtlich falsch. Ich werde es korrigieren,“

      bemerkte Archibald Meerrettich in seiner etwas geschwollenen Ausdrucksweise und stand auf. Herr Krause dachte zunächst, er habe sich verhört und verzog ärgerlich seine Mundwinkel nach unten. Der Neue ging unaufgefordert zur Tafel, nahm sich ein Stück Kreide und berichtigte die dritte Formel. Dann setze er sich wortlos wieder auf seinen Stuhl.

      „Sonst wäre es unlogisch,“

      meinte Archibald Meerrettich bescheiden und schaute den Lehrer treuherzig an.

      Einige begannen leise zu kichern. Das geschah Herrn Krause, diesem Wichtigtuer, ganz Recht. Der Lehrer starrte auf die Tafel und mochte es kaum glauben.

      Wie konnte ihm so ein Fehler unterlaufen? Er nahm sich vor, konzentrierter zu

      arbeiten.

      Sein Selbstbewusstsein schien jedoch stark angeknackst zu sein. Und er war mit einem Mal mit Herrn Kieling einer Meinung: Der Neue passte nicht hierher. Nicht etwa deshalb, weil er so begabt war, nein, nur wegen seines Äußeren und seines überheblichen Verhaltens, rechtfertigte er sich gedanklich.

      In Wahrheit aber empfand er die außergewöhnliche Klugheit des Neuen als persönliche Bedrohung. Kein Schüler hatte ihn zu übertrumpfen, noch dazu vor der ganzen Klasse. Nachdem er noch drei weitere Formeln ausgearbeitet hatte, bat er Fiete an die Tafel. Dieser sollte sein Werk vollenden. Fiete stand unschlüssig vor der Tafel und konnte mit dem blöden Gekritzel überhaupt nichts anfangen. Er verfiel in Schweigen, sah auf den Boden, als könne er dort das Ergebnis ablesen, und hielt krampfhaft das Stück Kreide in der Hand. Doch kein Laut kam über seine Lippen.

      „Rike, wie ist es mir dir?“ fragte er barsch seine Schülerin, obwohl er von vornherein wusste, dass auch Rike kläglich versagen würde. Aber auf irgendeine Weise wollte er sein Selbstvertrauen wiedergewinnen.

      Das dauerte Herrn Krause einfach zu lange. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie wusste es auch nicht, denn Mathe war sowieso nicht ihr Ding. Und Formeln schon gar nicht. Auch ihre Freundin Sternchen hielt sich zurück. Sie beugte sich unter den Tisch und putzte sich umständlich die Nase – obwohl das gar nicht nötig war - um nicht an die Tafel zu müssen. Herr Krause forderte einen nach dem anderen auf, es wenigstens zu versuchen und übersah geflissentlich den Neuen, der wie ein Verrückter versuchte, auf sich aufmerksam zu machten. Er schien sich fast den Arm auszurenken. Zuletzt musste der Lehrer wohl oder übel nachgeben und bat mit innerem Widerwillen Archibald Meerrettich an die Tafel. Der kritzelte in Windeseile das richtige Ergebnis an die Tafel, so dass die Kreide ein quietschendes