Dem Glück auf den Fersen. Liliana Dahlberg

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Название Dem Glück auf den Fersen
Автор произведения Liliana Dahlberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737536530



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immer Geschichten. Jede Träne, die man vergoss, erzählte eine davon. Meine standen für ein Drama in drei Akten. Einleitung: Eine Frau taucht ein in die Welt der Schuhe. Hauptteil: Eine Schuhverkäuferin findet ihre Bestimmung. Schluss: Ein wunderbarer Beruf wird zu Grabe getragen. Obgleich ich mir vorgenommen hatte, den nächsten Kunden oder die nächste Kundin wie üblich mit einem Lächeln zu bedienen, scheiterte ich bei dem Versuch, meine Mundwinkel nach oben zu bewegen, erbärmlich. Durch die Geschäftsaufgabe glaubte ich, einen entscheidenden Teil von mir zu verlieren. Für mich waren all die Markenschuhe, die mich umgaben, nicht einfach nur eine Ware, die ich verkaufen sollte, sondern vielmehr eine Lebenseinstellung. Dementsprechend hatte ich das Gefühl, man würde mich durch die Geschäftsaufgabe meiner Familie entreißen. Das mag übertrieben klingen, aber so dachte ich nun einmal. In dem Moment war ich sogar überzeugt davon, dass mir das so oft griesgrämige Gesicht von Frau Wirth fehlen würde. Ich griff schnell zu meiner Handtasche, um ein paar weitere Taschentücher herauszufischen, mit denen ich meine von Neuem aufwallenden Tränen auffangen und wegwischen wollte. Da trat Herr Schöne auf mich zu, der immer noch wesentlich fröhlicher und entspannter wirkte als sonst. Ja, des einen Freud, des anderen Leid.

      Er konnte an meinen mittlerweile deutlich geröteten Augen erkennen, dass ich geweint hatte. Er registrierte sicherlich auch, dass ich mich gerade wie ein Häufchen Elend fühlte. Zu meinem großen Unbehagen hielt er ein Schild in den Händen, auf dem stand: Wir schließen! Räumungsverkauf! Dreißig Prozent auf alles! Ich hatte es geahnt. Aber er konnte doch nicht im Ernst von mir verlangen, dass ich dieses Schild am Schaufenster anbrachte. Sollte er doch Frau Wirth darum bitten, der die Geschäftsaufgabe sicherlich bei Weitem nicht so zusetzte wie mir. Sie betrachtete die ganze Angelegenheit bestimmt mit ihrer gewohnten Nüchternheit. Nach dem Motto: Verlierst du eine Arbeit, suchst du dir einfach eine andere. Ich dagegen litt unter dem bedrückenden Gefühl, eine große Liebe verloren zu haben, mit der man eine wundervolle Zeit verbracht hatte. Mehr als niedergeschlagen dachte ich: Trenne Milly und Schuhe genauso wenig wie ST, denn es tut den beiden weh. Dabei fiel mir ein, dass ich schon immer für die Dekoration des Schaufensters verantwortlich gewesen war und Herr Schöne wohl deshalb von mir erwartete, dass ich dieses verdammte Schild dort anbrachte. Wie gerne hatte ich das Schaufenster immer mithilfe unterschiedlich farbiger Tücher für die künftige Frühlings-, Sommer-, Herbst- oder Wintersaison vorbereitet.

      Ich hatte die Tücher immer schön drapiert. Im Frühling und Sommer hatte ich blaue kunstvoll ausgebreitet, im Herbst orangefarbene und im Winter rote. Doch auch das würde ich von nun an nie mehr tun können, denn wir würden ja in Kürze schließen. Mir hatte das Schaufenster immer die Gelegenheit geboten, mich kreativ zu entfalten, war mir immer eine Art Abenteuerland gewesen, das ich nach meinen Vorstellungen gestalten konnte. Herr Schöne meinte: „Frau Sievers, ich habe natürlich bemerkt, dass Ihnen Schuhe und Ihr Beruf viel bedeuten. Sie haben all die Zeit hervorragende Arbeit geleistet. Aber ich würde mich selbst und meine Träume verraten, wenn ich dieses Geschäft weiter betreiben würde. Bitte verstehen Sie das. Schäume soll es in meinem Leben nur noch auf einem guten, kühlen Bier oder einem Kaffee geben. Wer seinen Träumen nicht hinterherjagt, wird irgendwann von der Zeit eingeholt und muss sich eingestehen, dass er die Chance seines Lebens verpasst hat. In diesen Räumlichkeiten würde ich nur immer älter, aber keinesfalls glücklich werden.“ Ich konnte ihm in diesem Punkt zwar nur beipflichten, aber mich würde bald die raue Wirklichkeit einholen. Die der Arbeitslosigkeit. Es war schon verrückt, dass mein Chef seinen Traum von der Musik leben wollte, während er dabei meinen zerstörte. Trotz seiner Worte fühlte ich mich jedoch nicht imstande, das Schild am Schaufenster anzubringen. Mit schwacher Stimme brachte ich mühsam hervor: „Bitten Sie doch eine meiner Kolleginnen darum, das Schild gut sichtbar am Fenster anzubringen. Ich bin dafür im Moment noch etwas zu aufgewühlt.“ Herr Schöne reagierte mit einem verständnisvollen Kopfnicken.

      Christine erwies sich mal wieder als richtige Freundin. Sie hatte die Szene beobachtet, und mein Gesicht, das Ernüchterung und Verzweiflung widerspiegelte, weckte in ihr wohl ein Gefühl der Solidarität. Sie ging auf Herrn Schöne zu und meinte: „Ich bringe das Schild gerne am Schaufenster an. Wir sind doch alle Teamplayer.“ Sie bedachte mich mit einem herzlichen Lächeln, das mich aufbauen und mir versichern sollte: Wir stehen das gemeinsam durch. Ich war so gerührt, dass sich auf meinem Gesicht das erste Lächeln seit gut 60 Minuten vorwagte. Denn so lange war es her, dass Karl Schöne uns verkündet hatte, dass das Geschäft bald nur noch eine Erinnerung sein würde. Für mich war der Laden eine Insel des Glücks gewesen, die in Kürze wie einst Atlantis im Meer versinken sollte. Bald würde ich diese Insel nie wieder betreten und nie wieder dieses wohlige Gefühl in meiner Magengrube spüren können. Diese Mischung aus Geborgenheit, Vertrautheit und Freude.

      Ich wollte gerade ein paar Quittungen auf der Theke sortieren und einige Schuhe, die dahinter herumstanden, mit einem Preisschild versehen, als ein junger Mann über die Ladenschwelle trat. Er sah sehr gut aus. Er hatte kurzes dunkelblondes Haar, sein Körper wirkte durchtrainiert, und seine Augen leuchteten in einem wunderbaren Schokobraun. Er schaute sich gar nicht erst näher im La Scarpa um, sondern eilte direkt auf mich zu. „Entschuldigen Sie, ich bräuchte ein Paar Schuhe in Größe zweiundvierzig. Von Vernice, genarbt und in Schwarz.“ Der Mann lächelte mich so freundlich an, dass sich meine Lippen wie von selbst zu einem breiten Lächeln auseinanderzogen. Das hätte ich noch vor wenigen Minuten für vollkommen unmöglich gehalten. Doch das selbstbewusste und zugleich offene Auftreten dieses jungen Mannes machten es möglich. „Ich glaube, diesen Schuh haben wir noch da. Sie müssen nämlich wissen, dass wir in einem Monat schließen. Ich frage meinen Chef mal, ob der Räumungsrabatt schon jetzt gültig ist. Es sind dreißig Prozent Preisnachlass geplant.“

      Überraschenderweise zwinkerte mir der Mann daraufhin verschwörerisch zu und sagte: „Das mit dem Rabatt vergessen wir mal ganz schnell. Ich spiele nämlich nur mal wieder den Laufburschen für meinen Vater, der unbedingt ein paar neue schicke Schuhe braucht. Er kann es sich durchaus leisten, den vollen Preis zu zahlen.“ Ich sah den Mann etwas verwundert an, beschloss jedoch, ihm keine weiteren Fragen stellen. Das Verhältnis zu seinem Vater ging mich schließlich nicht das Geringste an. Doch dann plauderte er zu meiner Überraschung von selbst aus dem Nähkästchen. „Mein Vater ist Personalmanager bei einem Modemagazin und heuert den ganzen Tag neue Leute an, während er andere feuert.“ Der Mann schmunzelte vielsagend.

      „Er ist mit der Chefredakteurin verheiratet. Sie ist für mich eine Art Zierpflanze, er das Nachschattengewächs. Er lebt gewissermaßen in ihrem Schatten, was ihn durchaus wurmt, denke ich. Ich bin das ungeliebte Kind aus erster Ehe, das zu Botengängen abgestellt wird. Ich trage den Mädchennamen meiner Mutter, was meinem Vater, glaube ich, mehr als recht ist. Wahrscheinlich schämt er sich für mich, weil ich an meinem Physikstudium gescheitert bin. Schon nach ein paar Semestern war mir klar, dass ich nie eines Tages nervtötende Schüler unterrichten oder Atome spalten würde. Das wiederum hat meinen Vater und mich sozusagen gespaltet.“ Er legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr: „Ich sage Ihnen das nur, weil Sie so einen traurigen Eindruck auf mich gemacht haben. Hat wohl etwas mit der Geschäftsaufgabe zu tun. Ich wollte Ihnen damit klarmachen, dass auch ich nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehe. Aber selbstverständlich will ich Sie nicht mit meinem Leben langweilen oder Ihnen zu nahe treten.“

      „Das ist schon in Ordnung“, entgegnete ich. Ich musste zunächst einmal verdauen, dass da ein Mann vor mir stand, der mir ohne Umschweife einen tiefen Einblick in sein Leben gegeben hatte. Dass er an seinem Physikstudium gescheitert war und dies ganz offen zugab, machte ihn mir sehr sympathisch. Bei dem Wort Modemagazin hatte mein Herz einen kleinen Sprung gemacht und mein Wunsch sich wieder in meine Gedanken gedrängt. Der Wunsch, eine Kolumne zu schreiben. Um der Unterhaltung wieder den Anstrich eines Verkaufsgesprächs zu geben, meinte ich: „Ich hole Ihnen jetzt den Gegenschuh zu dem, den Sie dort in der Ablage sehen. Dafür muss ich schnell ins Lager, bin aber gleich wieder da.“ Irgendwie fühlte ich mich mit einem Mal sehr in mich gekehrt. Völlig in Gedanken versunken. Als ich im Lager stand, brauchte ich auch deutlich länger als sonst, um den passenden Schuh zu finden. Als ich endlich den richtigen Karton in Händen hielt, ging ich zurück zur Theke. Der Mann hatte mittlerweile den gewünschten Schuh aus dem Regal geholt. Ich nahm ihm diesen aus der Hand und legte ihn zu dem in dem Schuhkarton, den ich daraufhin sofort schloss. „Wie möchten Sie zahlen?“, fragte ich und merkte, dass ich