Neukonzept. Elisa Scheer

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Название Neukonzept
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737562812



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das bisschen Licht, das durch eine Felsspalte in der Decke fiel, nicht ausreichte. Als sie immerhin die Erdwand wieder sehen konnte, entdeckte sie, dass ein zweiter Fuß aufgetaucht war. Wütend packte sie beide und zerrte ruckartig daran, bis in einer Ladung von Schlamm und prasselnden Steinen der ganze Körper auftauchte und auf den Boden aus trockener Erde fiel.

      Er blieb regungslos liegen und Leonie erfasste eisiger Schrecken: War er tot? Hatte sie so langsam gezogen, dass er die Luftblase verloren hatte und erstickt war? Sie tastete nach seinem Gesicht und schlug ihm leicht auf die Wangen, ohne Ergebnis. Sie kramte in ihrem Rucksack hastig nach der Taschenlampe und leuchtete ihm ins Gesicht – eine Masse aus trocknendem Schlamm. Flüchtig kratzte sie den Schlamm um seinen Mund weg, holte tief Luft und presste ihre Lippen auf seine. Er schmeckte nach Erde, kaum verwunderlich, und reagierte nicht. Sie versuchte es erneut, immer mit der dumpfen Angst, etwas falsch zu machen – der Sofortmaßnahmenkurs war einfach schon zu lange her. Endlich hustete er und wandte sich zur Seite. Sie blieb neben ihm hocken und wartete, bis er Erde und Kies ausgespuckt hatte und sich blinzelnd aufsetzte. „Oh du Scheiße!“, sagte er dann, sich umsehend.

      „Danke schön hätte es auch getan“, tadelte Leonie und versuchte, ihn zu betrachten, soweit das bisschen Licht aus der winzigen Taschenlampe und aus dem Felsspalt das möglich machte.

      „Ja, Entschuldigung. Danke“, knurrte er. „Aber Sie haben mich ja reingezogen!“

      „Raus konnte ich ja schlecht, wenn ich selbst drinnen bin“, gab sie ärgerlich zurück, erhob sich und knipste die Taschenlampe aus. „Wenn Sie natürlich lieber in den Dreckhaufen zurückwollen... soll ich schieben?“

      Er fuhr sich durch das dreckverklebte Haar. „Nein... schon gut. Ich dachte eben nur, ich würde mich im Freien wiederfinden. Was ist das hier?“

      „Wonach sieht´s denn aus?“ Da landete man mit einem Kerl in einer gottverlassenen Höhle, und dann war er hochgradig beschränkt. Und schlecht erzogen obendrein. „Geht´s dahinten vielleicht noch weiter?“

      „Stellen Sie sich vor, ich hatte noch keine Zeit, nachzusehen“, fauchte sie. „Fehlt Ihnen sonst noch was? Ich meine, außer Manieren und Hirn? Kopfweh? Was gebrochen?“

      „Nein...“

      „Dann setzen Sie sich mal besser auf den Stein da, das ist sicher nicht ganz so kalt von unten.“

      Er gehorchte schweigend. Sie konnte erkennen, dass er ziemlich groß war, wahrscheinlich größer als sie selbst, und eine dunkelblaue Jacke trug. Ansonsten schien er nur aus Schlamm zu bestehen.

      Sie horchte in die Stille. Ab und an hörte man es von draußen rieseln, aber darunter war ein anderer Laut zu vernehmen, etwas wie ein ganz leises Plätschern.

      „Irgendwo gibt es hier Wasser“, stellte sie fest. „Ich gehe mal gucken.“

      Ohne seine Reaktion abzuwarten, machte sie sich auf den Weg. Der dünne Lichtstrahl tanzte über den felsigen Boden, der hier und da mit Erde bedeckt war. Die Höhle machte eine Biegung und wurde breiter und niedriger; an ihrem Ende floss tatsächlich ein schmaler Bach, der zwischen riesigen Felsen auf der einen Seite hervorquoll und zwischen ebensolchen Felsen auf der anderen Seite wieder verschwand. Etwas Größeres als eine Maus passte aber dort nicht hindurch. Und einen dritten Raum gab es auch nicht. Na, immerhin Sauerstoff und Wasser. Und in ihrem Rucksack hatte sie noch zwei Energy-Riegel und einen Apfel. Sie kehrte um.

      „Dahinten fließt ein Bächlein, aber raus geht´s da auch nicht.“

      Er sah auf, nun deutlicher erkennbar – zum einen hatten sich ihre Augen wohl an das Dämmerlicht gewöhnt, zum anderen hatte er eine Kerze angezündet und auf den Boden geklebt. Was manche Leute so in ihren Rucksäcken spazieren trugen...

      Sie sah einen langgliedrigen Mann in verdreckter Kleidung und mit schlammverschmiertem Gesicht, dunklen Haaren und dunklen Augen, soweit das Kerzenlicht sie nicht trog, die sie musterten. Er sah wohl eine ebenfalls langgliedrige, schlanke Frau in verschwitztem Trägertop, verbeulten Cargohosen und Trekkingstiefeln, mit zurückgebundenem, schulterlangem Haar undefinierbarer Farbe (aber eher hell), schmalen Augen und mäßig freundlichem Blick.

      „Hallo“, sagte er, als er mit der Musterung fertig war, „und vielen Dank nochmal.“

      „Ach, jetzt doch? Wo ich Sie doch erst in die Katastrophe reingezogen habe? Ich sag´s Ihnen lieber gleich, hier geht kein Handy. Funkloch oder so.“

      Er ließ seinen Blick über die flackernden Schatten auf den Felswänden wandern. „Kein Wunder. Waren Sie alleine unterwegs?“

      Sie setzte sich auf einen zweiten, etwas niedrigeren Felsen. „Nein, mit einer bescheuerten Gruppe. Blöde Idee. Aber die müssten mich eigentlich irgendwann vermissen. Luft und Wasser haben wir, und heute ist erst Mittwoch.“

      „Was hat der Wochentag denn damit zu tun?“

      „Ich hab die Woche Urlaub. Solange ich nicht unentschuldigt fehlen muss, kann ich´s hier aushalten. Dieser Wanderurlaub hat mir eh nicht gefallen."

      „Völlig verbucht?“

      „Kann man so sagen. Sie auch?“

      „Naja, verbucht… vielleicht. Eher einfach verschätzt. Ich muss das vorübergehend für eine gute Idee gehalten haben. Mann, ich könnte jetzt in einer schönen Stadt sein! Paris, Wien, Barcelona, London...“

      „Ja, ich hab´s verstanden.“

      „Was besichtigen, zwischendurch in ein Café, abends anständig essen gehen...“

      Sie schielte zu ihm, um zu gucken, ob man ihm die Fresslust schon ansah, aber dafür war es immer noch nicht hell genug. Also seufzte sie ausdrucksvoll. „Und ich könnte jetzt direkt am Meer sitzen, lesen, die Sonne genießen, abends vielleicht durch eine malerische Altstadt bummeln... stattdessen mache ich hier einen auf Ich war bei einer echten Naturkatastrophe dabei.“

      „Eher ein Kataströphchen, oder? Mir kam es zwar recht eindrucksvoll vor, als mich diese Dreckflut mitgerissen hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir einem Nachrichtensender eine Sondersendung wert sind.“

      Leonie musste kichern. „Stellen Sie sich das mal vor, wir sitzen hier drin, und draußen steht diese Reporterin, die sie da immer haben, wenn irgendwo das Wasser kniehoch steht, und brabbelt mit betroffener Miene ins Mikro – über den Bergungsfortschritt und ob wir wohl noch Sauerstoff haben...“

      Er lachte ebenfalls. „Und sobald wir raus sind, bitten wir um das Video, zur Erinnerung?“

      „Wir könnten auch in die Kamera winken, wenn wir rauskommen.“

      „Und grüßen – alle, die mich kennen.“

      „Unbedingt!“, freute sich Leonie. „Das ist absolut unverzichtbar.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Wir hätten aber auch tot sein können.“

      „Ja. Na, wenn schon. Mir weint keiner nach.“

      „Mir auch nicht“, entgegnete sie, „aber ich hätte es doch schade gefunden. Ich hätte eigentlich schon noch so einiges vorgehabt.“

      Schweigen breitete sich aus, vielleicht, weil das Ende des Gesprächs doch etwas arg persönlich gewesen war, überlegte Leonie. Sie kannte den Kerl ja gar nicht, sie hatte ihn nicht mal richtig gesehen. Wollte sie ihn denn kennen lernen? Wozu, überlegte sie, innerlich die Achseln zuckend, und starrte auf ihre Schuhe.

      Auch ihm schien es zu weit gegangen zu sein, jedenfalls wandte er sich ab und begann in seinem Rucksack zu kramen. Schließlich förderte er ein Handtuch und eine kleine Flasche zutage, außerdem ein verknittertes Hemd.

      „Da hinten ist ein Bach, sagten Sie? Dann werde ich mal versuchen, ob ich den Berg von mir runterkriege.“

      Er schritt vorsichtig an ihr vorbei in die Düsternis, und sie grübelte weiter vor sich hin. Verflixt, wann fiel es dem Ernstl denn endlich auf, dass sie verloren gegangen war? Sollten nicht schon längst Leute von der Bergwacht oder der Feuerwehr oder vom THW draußen graben und rufen? Sie sah