Miriams Baby. Hermann Brünjes

Читать онлайн.
Название Miriams Baby
Автор произведения Hermann Brünjes
Жанр Языкознание
Серия Jens Jahnke Krimi
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750235137



Скачать книгу

ich bin jetzt entbehrlich und kann mit Ihnen nach nebenan gehen. Die Aufgabenverteilung kriegt ihr allein hin. Andy, übernimmst du die Leitung?«

      Der zuletzt angesprochene Andy, ein Mann mit Dreitagebart, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und alle anderen nicken. Typisch Teamsitzung, denke ich. Papiere, zwei oder drei Smartphones, Kaffeetassen, O-Saft, Wasser und wichtige bis gelangweilte Minen. Das bedeutet Redaktionssitzung. Hier nennen sie es also DB. Gut, dass wenigstens der Chef gemerkt hat, dass er die Abkürzungen zumindest zu Beginn einem Nicht-Insulaner erklären muss.

      »Vielleicht ist es gut, wenn ich Ihnen unser Team vorstelle. Später sprechen Sie ja noch mit den Einzelnen.«

      Ich bin mehr als einverstanden. Genauso habe ich es mir gedacht: Zuerst ein Gespräch mit dem Leiter, dann sehen, was hier so läuft, einzelne Interviews, Fotos, vielleicht auch Interviews mit Gästen und ... mal sehn. Wahrscheinlich muss ich noch ein- bis zweimal wiederkommen.

      »Fangen wir mit dem Nachwuchs an. Das da unten ist unser aller Jeschu!« Beyer zeigt mit einem gewissen Stolz auf das Baby und schmunzelt. »Manchmal quakt er auch, aber wir freuen uns, dass seine Mutter jetzt bei uns ist.«

      Wer von den jungen Frauen hier die Mutter des Kleinen ist, sagt er leider nicht. Vielleicht ist es das Mädchen, das gerade mit Jeschu spielt. Jeschu? Ist das ein jüdischer Name?

      Das Team, das sich mir nun vorstellt, ist eine bunte Mischung aus jung und alt – Tendenz jung.

      Bereits dies ist in meiner bescheidenen Reporterpraxis untypisch für Kirche. Die kirchlichen Veranstaltungen, über die ich bisher berichtet habe, wurden vor allem von älteren Leuten besucht. Kam man von hinten in einen Raum und sah die Köpfe der Besucher, schaute man auf ein graues Einheitsmuster. Hier jedoch sah man nur bei Andy, Petra und Irmtraud graue Schläfen. Andy ist als Geschäftsführer für die Belegung mit Gruppen zuständig, Petra leitet die Hauswirtschaft und Irmtraud ist Küchenchefin. Sie bilden zusammen mit dem Leiter und dem Pastor der Gemeinde sozusagen das Stammteam des Hauses. Andy ist schon sehr lange dabei. Er grinst mich an.

      »Hey, Jens Jahnke! Wir sind uns schon mal begegnet.«

      Es stimmt. Ich habe ihn einmal auf einer Lebensmittel-Messe interviewt. Damals war er noch für den Einkauf von Nahrungsmitteln zuständig.

      Die Freiwilligen machen einen aufgeschlossenen Eindruck. Anna Lena, Andreas, Christian und Jakob sitzen am Tisch. Yvonne spielt mit dem Baby und Magda hat gerade ihren FT (freien Tag). Sie schütteln mir brav die Hand. Einige haben einen festen, zwei einen laschen Händedruck. Wie in allen Teams dieser Welt wird es auch in diesem hier »solche und jene« geben. Also – alles ganz normal.

      Bereits wenn ich eine christliche Gemeinschaft als »normal« bezeichne, würde mein geliebter Florian Heitmann zusammenzucken. Aus seiner Sicht sind sie allesamt entweder religiöse Spinner, Verführte oder Scharlatane. Schade, dass Florian jetzt nicht hier ist, denke ich. Diese jungen Menschen wirken engagiert, offen und modern. Auch die Kleidung entspricht dem, was man heute so trägt. Handys scheinen hier allerdings während der Besprechung tabu zu sein. Wie bei uns in der Redaktion.

      Andy übernimmt die Moderation der Besprechung und ich gehe mit Theo Beyer in einen Raum nach nebenan. Das Büro ist ansprechend eingerichtet. An der Wand hängen Originale einer befreundeten Künstlerin. Schreibtisch, Stühle und Schrank sind aus hellem Holz hochwertig gefertigt. Auf dem Schreibtisch steht ein Flachbildschirm und davor zwei Stühle.

      »Hier empfängt Andy die Leiter der Gästegruppen«, erklärt Beyer mir. »Er macht die Buchungen und hält Kontakt zu den Gästen. Viele der Gruppen kommen regelmäßig zu uns.«

      Ich erfahre, dass es je zur Hälfte Jugendliche und Erwachsene sind, die das Tagungshaus nutzen. Im Moment ist keine Gruppe da. Nun verstehe ich, warum ich auf dem Gelände niemanden gesehen habe. Sonst bevölkern Konfirmanden, Jugendgruppen, Chöre, Kirchenvorsteher, Mitarbeiter und diverse andere kirchliche Gruppen das Gelände und die Häuser.

      Theo Beyer vertritt seine Sache ausgesprochen gut. Ich tippe ein paar Notizen in mein iPad. Vor allem Namen vergesse ich schnell, also besser aufschreiben! Er erzählt mir vom Leben der Hausgemeinde. Sie sei das »Herz des Hauses«, ihretwegen kämen die meisten Gruppen. Die jungen Leute laden zur Abendandacht in die Kirche ein und stehen als Mitarbeiter für Gruppen zur Verfügung. Das sei vor allem bei Konfirmandenfreizeiten eine riesige Entlastung der Pastoren.

      Das kann ich mir denken. Zu meiner Zeit gab es noch keine Freizeiten für Konfirmanden! Wir mussten vor allem lernen, lernen ... um dann alles wieder zu vergessen.

      »Sie sollten morgen wiederkommen. Am Abend wird eine Gruppe hier sein und die Hausgemeinde ihre Andacht feiern. Da hören Sie dann unser Herz schlagen ...«.

      Theo Beyer lacht, als er das sagt.

      Während der nächsten Dreiviertelstunde führt er mich durch die Häuser, die zum Tagungshaus gehören. Das Haupthaus war einmal die Dorfschule. Durch einen Anbau wurde der Speiseraum vergrößert. Hier können jetzt locker bis hundert Personen verpflegt werden. Aus den Klassenräumen sind ein Clubraum mit Kamin und ein Tagungsraum geworden. Letzterer hat noch am meisten Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer, ist er doch ausgestattet mit Whiteboard, Flipchart und was man sonst so bei Seminaren braucht ... Alles ist sehr stilvoll eingerichtet. Die Möbel sind teilweise neu. Bilder des Künstlers Werner Steinbrecher hängen in vielen Räumen.

      »Und hier, schauen Sie sich diese Fotos an!«

      Beyer zeigt mir einen Bilderrahmen im Treppenaufgang. Darin sind mehrere Farbfotos als Collage zusammengestellt, Fotos aus Indien. Allerdings ist es ein sehr schlichtes, primitives Indien. Menschen in Hütten, ein großer Fluss, Kinder.

      »Dies sind Fotos von 1981. Es sind die ältesten Fotos, die wir von unserer Partnerkirche im indischen Stammesgebiet haben.«

      Jugendgruppen werden in Mehrbettzimmern untergebracht. Es erinnert mich an die Jugendherbergen von früher, nur dass hier modernisiert wurde. Trotzdem, in einem Zimmer mit fünf anderen möchte ich nicht mehr schlafen! Auch den Sanitärbereich mit anderen zu teilen, wäre mir unangenehm. Theo Beyer hat meine Gedanken vermutlich erraten.

      »Wir werden umbauen!«, sagt er. »Für Erwachsene haben wir ja längst einen anderen Standard in den neuen Häusern. Nun sind die Jugendlichen dran. Die sind heutzutage häufig Besseres gewöhnt.«

      Seinem Tonfall entnehme ich ehr »verwöhnt«. Immerhin scheinen sie hier mit der Zeit zu gehen, oder es zumindest zu versuchen.

      Der Leiter zeigt mir noch die anderen Häuser. Dort sind Zimmer für Erwachsene mit Hotelstandard. Helles Holz, originale Kunst an den Wänden, gemütliche Clubräume und funktionale Tagungsräume. Die Einrichtung kann sich sehen lassen. Die Bewertungen bei Google und in verschiedenen Gästehausportalen sind also keine Fakes.

      »Wie haben Sie das alles finanziert?«

      Beyer lacht. Vermutlich hat er auf diese Frage gewartet.

      »Teils Zuschüsse der Landeskirche, teils Spenden unserer Freundinnen und Freunde – und die zweite Hälfte hat Gustav bezahlt.«

      Wer ist nun schon wieder Gustav? Beyer klärt mich auf.

      »Das ist ein Bauunternehmer, der sich hier bei uns, aber auch in anderen Einrichtungen sehr engagiert. Uns ist er von Beginn an verbunden. Ohne Gustav hätten wir all das nicht durchziehen und aufbauen können.«

      »Und was hat dieser Gustav davon?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen. Derart große Spenden machen – da steckt meistens etwas dahinter.

      »Weiß nicht. Ich vermute, er sieht es als Geburtstagsgeschenk für Jesus – wo Sie schon mal zum Thema ›Jesus aktuell‹ und ›Weihnachten‹ recherchieren.«

      Ich bin beeindruckt. Vielleicht sollte ich diesen Bauunternehmer mal interviewen. Beyer lacht.

      »Sorry, der ist bei seinem Chef angekommen, im Himmel. Aber Sie können ja mal seinen Sohn oder seine Enkel fragen. Die machen weiter, was Gustav begonnen hat. Aber Themenwechsel: Bleiben Sie noch zum Mittagessen?«

      Gerne sage ich zu.