Die silberne Flöte. Sylvia Obergfell

Читать онлайн.
Название Die silberne Flöte
Автор произведения Sylvia Obergfell
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847638445



Скачать книгу

ein Stapel Zeitschriften, außerdem stand links von ihm eine alte Holztruhe, die mit allerlei Schnitzereien verziert war.

      „Wie alt bist du jetzt?“ fragte die Märchenfrau, während sie aus dem Schrank in der Kochecke eine Schachtel Kekse holte und vor ihn hinstellte.

      Gierig griff Misha danach und steckte sich gleich zwei auf einmal in den Mund. Zwischen kauen und schlucken erwiderte er: „Zwölf.“

      Die Märchenfrau sagte eine Weile nichts, sondern sah ihm beim Essen zu, dann stand sie auf, ging hinüber zu der Truhe und öffnete sie. Sie winkte Misha und zog einen länglichen in ein Seidentuch gewickelten Gegenstand heraus. Misha trat neugierig näher.

      „Ich habe ein Geschenk für dich“, hauchte die Märchenfrau geheimnisvoll, während sie langsam das Tuch aufwickelte. Darunter kam eine kleine, silberne Flöte zum Vorschein, die so hell glänzte, als wäre sie eben erst hergestellt worden. Alles an ihr war aus Silber, sogar das Mundstück. Die Märchenfrau gab Misha die Flöte in die Hand, sie fühlte sich kalt und glatt an.

      „Das ist eine ganz besondere Flöte“, erklärte sie, „du kannst sie spielen wann immer du willst und die Leute werden dir zuhören. Aber eines musst du mir versprechen: Du darfst nie wieder etwas stehlen.“

      Misha verstand nicht. Was meinte die Frau damit, alle würden ihm zuhören? Er konnte doch gar nicht Flöte spielen. Und wieso sollte er versprechen nie wieder zu stehlen? Am liebsten hätte er die Flöte zurückgegeben, aber dann besann er sich plötzlich. Wenn die Flöte aus echtem Silber war, konnte er sie verkaufen und viel Geld mit nach Hause bringen.

      „Ich verspreche es“, sagte er schnell, mit Lügen und Betrügen hatte er keine Probleme, aber die Märchenfrau war noch nicht zufrieden.

      „Nein, nein“, rief sie, „du darfst das nicht nur so dahinsagen. Du musst erst einmal in die Flöte hineinblasen und dann musst du laut und deutlich sagen: Solange ich diese Flöte spiele, werde ich nicht mehr stehlen.“

      Misha sah die Frau verwundert an, vielleicht war sie ein bisschen verrückt, aber leichter würde er an so ein wertvolles Stück nicht mehr gelangen, also tat er, wie ihm befohlen. Vorsichtig setzte er die Flöte an die Lippen und blies hinein. Ein hoher, schriller Ton erklang, der in Mishas Ohren klingelte, so dass er erschrocken abbrach und laut und schnell den vorgegebenen Satz wiederholte: „Solange ich diese Flöte spiele, werde ich nie mehr stehlen.“

      Die Märchenfrau lächelte und flüsterte: „Sie gehört dir. Nimm sie und geh und spiele damit den Leuten etwas vor.“

      Misha bedankte sich bei der Frau und stieg zum Wagen hinaus. Er betrachtete die Flöte eine Weile, dann lies er sie in seiner Tasche verschwinden. Er würde sie zum alten Oleg bringen. Dieser besaß einen kleinen Krämerladen und hatte Misha schon einiges an Diebesgut abgenommen: Uhren, Taschen, kleine Spiegel. Misha machte einen weiten Bogen um den Gemüsemarkt, weil er dem Bärtigen nicht noch einmal über den Weg laufen wollte. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und es war bitterkalt. Misha zog die viel zu dünne Jacke fest um seinen Körper zusammen und schob seine Hände tief in die Taschen. Er beobachtete seinen Atem, der weiße Wölkchen in die Luft zeichnete, während er lief. Von weitem konnte er schon den Krämerladen sehen, über dem in Großbuchstaben PETROV KLEINHANDEL stand. Zufällig berührte Mishas Hand die Flöte, die in der Tasche lag und zu seinem Erstaunen fühlte sie sich nicht mehr glatt und kalt an, sondern warm und lebendig. Verwundert griff er danach, zog sie aus der Tasche und betastete sie. Tatsächlich, sie strömte Wärme aus und regte seine Finger dazu an, über die verschiedenen Löcher zu gleiten. Misha sah nach vorne. Nur wenige Meter trennten ihn noch von Olegs Laden. „Ach was soll`s, ich hab ja Zeit“, sagte er zu sich selbst, er konnte später auch noch zu Oleg gehen, denn der wohnte direkt über dem Laden, war also immer da. Misha setzte sich auf die Treppenstufen eines Hauseingangs, hob die Flöte zum Mund und blies vorsichtig hinein. Ein heller, weicher und bezaubernd schöner Ton erklang, seine Finger fanden von selbst die Löcher, hüpften auf und nieder, formten eine Melodie, die weithin zu hören war und klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Mishas Hände waren nicht mehr kalt, sondern warm und er fühlte sich, als würde er schweben. Sanft, weich und harmonisch klang die Melodie, die der Flöte entwich, die Töne wurden hoch in die Luft getragen und verklangen leicht und leise. Erstaunt hielt Misha inne, sah die Flöte an und bemerkte, dass um ihn herum die Leute in ihrem Tun innehielten und zu ihm herübersahen. Er blies ein zweites Mal in die Flöte und wieder spielten seine Finger von alleine, wieder erklang eine Melodie, wie aus einer fernen Welt. Die Leute kamen näher, um genauer zu betrachten, welch kleiner Junge zu solch wundervoller Musik fähig war. Misha zog seine Fellmütze vom Kopf, legte sie vor sich hin und innerhalb kürzester Zeit klimperten unzählige Münzen darin. Misha fühlte sich sofort hineinversetzt in eine andere Welt, eine Welt die nur aus Tönen und Klängen bestand, Hunderten von Tönen, die in der Luft schwirrten und die Ohren zum Zuhören zwangen. Eben war er noch ein kleiner Dieb gewesen, jetzt war ein Botschafter der Musik, einer den alle bewundernd ansahen. Das Gefühl für Zeit und Raum ging ihm völlig verloren, er bemerkte nicht einmal, dass es schon dunkel geworden war, bis ihn plötzlich jemand grob in die Seite stieß und der Zauber von der einen auf die andere Sekunde erlosch. „He“, schnauzte ein dicker Mann, mit einer sehr großen, knollenförmigen Nase, „Jetzt ist Nachtruhe, die Menschen wollen schlafen.“

      Dabei machte er eine weitausholende Handbewegung in Richtung der umliegenden Häuser. Misha blinzelte, als sei er aus einem Traum erwacht und stellte fest, dass außer ihm und dem Mann keiner mehr zu sehen war. Schnell steckte er die Flöte in seine Tasche, packte seine Mütze mit dem Geld und rannte an dem Mann vorbei, der ihm kopfschüttelnd nachsah. Zwei Straßen weiter stoppte er, legte die Mütze vor sich hin und begann das Geld zu zählen. Langsam wurden seine Finger wieder kalt, während er die Münzen aufhob und eine nach der anderen in seiner Tasche verschwinden ließ. So viel Geld hatte er wohl noch nie in seiner Tasche gehabt, die Leute die er bestahl hatten meist selbst nicht viel, wenn er Glück hatte war mal ein Schein dabei. Die richtig Reichen verirrten sich nur selten in diese Gegend und wenn, dann hüteten sie ihre Geldbörsen wie einen Schatz. Mishas Tasche wurde ganz schwer, von den vielen Münzen. Er griff in die andere Tasche und fühlte die Flöte, immer noch warm und lebendig und noch immer konnte er nicht so recht begreifen, was eigentlich geschehen war. Nur eines hatte er verstanden: Die Märchenfrau war nicht verrückt gewesen, sondern eine Zauberin, die ihm eine Zauberflöte geschenkt hatte. Obwohl es schon so spät war, schlug er nicht den Weg nach Hause ein, sondern steuerte seine Schritte wieder Richtung Rummelplatz. Er musste sich unbedingt näher erkundigen, was dies für ein Zauber war und er musste sich noch einmal richtig bedanken. Bald schon konnte er die flimmernden Lichter vor sich sehen und den Lärm des Rummels hören. Vielleicht war aber alles nur Zufall gewesen. Misha stoppte mitten im Schritt, zog die Flöte aus seiner Tasche und betrachtete sie lange. Sie war klein und schön. Er konnte sein Spiegelbild in ihr erkennen, das kleine Gesicht mit der vor Kälte geröteten Stupsnase, den blau – grünen Augen und dem blonden Haarschopf, der unter seiner Mütze hervorblickte. Stimmen wurden hinter ihm laut und aus den Augenwinkeln konnte er eine Gruppe Jugendlicher erkennen, die schnell näher kamen und wohl getrunken hatten, denn sie redeten laut und ihr Gang war schwankend. Eilig lies Misha seine Flöte tief in der Tasche verschwinden und lief schnell, fast schon rennend hinüber zum Rummelplatz. Dort zwängte er sich zwischen zwei Buden hindurch und versuchte sich zu orientieren. Er sah in die Richtung in der der Gemüsemarkt lag. Rechts war ein Kettenkarussell, links eine hell beleuchtete Schießbude. Dazwischen standen drei Wagen, von denen einer der Märchenfrau gehören musste. Es schien schon sehr spät zu sein, denn die meisten Buden hatten geschlossen oder waren gerade dabei zu schließen, der Rummelplatz war, bis auf ein paar vereinzelte Personen, menschenleer. Misha wurde ein bisschen unheimlich zumute, aber da er jemand war der eigentlich keine Angst haben durfte, drängte er dieses Gefühl zur Seite, steckte seine Hände, fest zu Fäusten geballt, tief in die Taschen und ging entschlossen hinüber zu den Wohnwagen. Der Erste war rot gestrichen, fiel also schon mal aus, der Zweite war weiß und klein, er könnte es sein, der Dritte war auch weiß, aber viel zu groß und schied somit auch aus. Misha lauschte. Irgendwo im Hintergrund grölte ein Besoffener herum und die Metallgestänge des Kettenkarussells nebenan schlugen im leichten Wind gegeneinander und erzeugten so ihr eigenes Konzert. Vorsichtig trat er an den mittleren Wagen heran, zog seine Hand aus