Der verborgene Erbe. Billy Remie

Читать онлайн.
Название Der verborgene Erbe
Автор произведения Billy Remie
Жанр Языкознание
Серия Legenden aus Nohva 5
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742739742



Скачать книгу

sein dürfen.

      Wexmell bereute in solchen Augenblicken, dass sie Melecay nicht schon Jahre früher gefunden hatten. Doch wie alle anderen hatten sie ihn für tot gehalten. Der Junge Prinz war von seinem Schamanen lange Zeit erfolgreich versteckt und beschützt worden. Trotzdem fragte Wexmell sich stets, welcher Mann aus Melecay geworden wäre, hätten sie ihn als Jungen gefunden und beschützen können.

      »Welch düstere Gespräche.« Melecay lachte plötzlich dreckig auf und schlug Wexmell gegen den Arm. »Dabei kam ich nicht zum Reden herein.« Ein lüsterner Blick schwenkte auf Daintys schlafenden Leib.

      Wexmell verstand den Wink. »Ich lasse Euch allein.«

      »Das müsst Ihr nicht«, lachte Melecay.

      Als Wexmell vom Trittbrett sprang, landeten seine Stiefel in einer Pfütze. Der Regen hatte so abrupt aufgehört wie er angefangen hatte, die Sonne strahlte durch die abziehenden Wolken und brannte auf seiner von langen Jahren im Eisland blassen Haut nieder. Die schwüle Hitze sammelte sich auf der Straße. Die mannshohen Gräßer der Wiesen kesselten sie ein und wirkten wie Ofenwände, zwischen denen sie langsam gegart wurden.

      Immerhin blieben sie so vor neugierigen Blicken verborgen. Bisher waren sie noch keiner Seele begegnet, seit sie die Grenze überquert hatten. Hoffentlich blieb ihnen das Glück hold.

      Kaum schlug die Tür hinter ihm zu, warf der zottelhaarige Kutscher einen Blick nach hinten. Die trabenden Pferde wurden gezügelt, damit Wexmell Karic hinter der Kutsche losbinden konnte. Dann ging es im leichten Trab weiter.

      Wexmell stieg auf und ritt nach vorne zum Kutscher, blickte zu ihm hinauf. »Wie schaut`s aus?«

      »Alles ruhig«, versicherte Allahad. Neben ihm saß Karrah und schlief tief und fest. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, ihre violetten Wellen ergossen sich über seinen Arm.

      »Pass auf, dass sie genug trinkt und isst«, trug Wexmell besorgt auf. Er würde nie eine Frau in ihr sehen können. Genau wie für Desiderius, blieb sie auch für ihn immer ihr kleines Mädchen. Doch für andere war sie eine mächtige, eigenwillige Hexe. Aber auch die mussten regelmäßig essen.

      Allahad nickte. Mit starrem Blick nach vorne fragte er: »Wird die Kutsche gleich wieder wackeln, sodass ich befürchten muss, vom Weg abzukommen?«

      »Du wirst ein wenig gegenlenken müssen.«

      »Entzückend.«

      Mit einem amüsierten Schnauben trieb Wexmell Karic an, um die Kutsche und drei weitere Reiter zu überholen. Janek, Lazlo und Iwanka nickten ihm stumm zu, ihre Gesichter waren wachsam und professionell, keine Spur von Müdigkeit. Das hätte Melecay nicht erlaubt.

      Er ritt kaum einen Augenblick an der Spitze, als durch die hohen Gräßer bereits ein Späher heran galoppierte. Luro lenkte seinen dunkelbraunen Hengst direkt neben Wexmell.

      »Die Grenze war von den Elkanasai bereits stark bewacht, Wexmell«, berichtete Luro so atemlos, als wäre er selbst gerannt und nicht sein Reittier, »der Kaiser muss weiterhin einen Angriff von Carapuhr erwarten. Ich sah selten solch große Armeelager.«

      »Sind wir noch in ihrer Reichweite?«, fragte Wexmell besorgt.

      Luro schüttelte den Kopf und lächelte entspannt. »Nein, aber nur knapp. Ich habe uns genau zwischen zwei Lagern durchgeführt, wir sind jetzt eine Tagesreise hinter ihnen.

      Und Melecay wollte schon ein Lager angreifen! Ha! Dass ich nicht lache. Nach all den Jahren habe ich die Schleichkunst nicht verlernt. Selbst mit diesem riesigen Anhang. Ich bin eben unschlagbar, nicht wahr?«

      Er grinste auf seine ganz eigene freche Art, die auch Wexmell ein Lächeln abrang.

      »Wir sind sicher«, versicherte Luro ernst. »Und wir werden den verdammten Carapuhrianer zeigen, wie man das richtigmacht, oder, Wexmell?« Luro knuffte ihn lachend in die Seite, und Wexmell nickte nachsichtig schmunzelnd.

      Einen herausfordernden Blick nach hinten werfend, drehte Luro sich um. »Passt gut auf, von uns könnt ihr Grünschnäbel noch was lernen.«

      Iwanka und Lazlo verengten angriffslustig die Augen, Janek schüttelte nur amüsiert den Kopf.

      Luro liebte Abenteuer, da wurde er wieder zum Kind. Es war schön, ihn so glücklich zu sehen, dass er scherzen konnte. Ganz im Gegensatz zu Allahad. Wexmell sah dem Schurken die Sorgen Tag für Tag an. Sein geliebter Luro war mittlerweile als Mensch etwas in die Jahre gekommen. Doch gerade für einen Menschen hatte sich der Jäger außerordentlich gut gehalten. Wexmell zweifelte nicht daran, dass Luro noch genauso gut kämpfen konnte wie vor zwanzig Jahren. Vielleicht nur nicht mehr so gänzlich lange wie im Jugendalter. Sie würden sehen. Die Zeit würde zeigen, ob sie noch die Männer waren, die sie gewesen waren, als sie vor über zwei Jahrzehnten ihre Heimat verlassen mussten. Es würde sich zeigen, wer sie ohne Desiderius sind.

      Doch Wexmell wusste schon jetzt, dass diese Reise, die gefährlichste ihres Lebens sein würde, und dieses Mal hatten sie keinen Blutrachen, der sie retten konnte.

      5

      Es flackerten etwa ein Dutzend weiße Kerzen im Inneren der Kapelle, als er zögerlich den nach Weihräuchern duftenden Raum betrat. Es war seltsam an diesem jahrelang verlassenen, düsteren Ort Licht zu sehen. Langsam schritt Eagle die Reihen der dunklen Bänke ab und versuchte, sich zu erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war. Als Junge, der gerade erst Laufen gelernt hatte und sich stets aus der Aufsicht seiner Mutter gestohlen hatte, um die Welt zu erkunden. Schon immer war die Neugierde im ihm stark gewesen, stärker als jedes andere Gefühl, ihm war nichts wichtiger, als Neues zu erkunden, selbst als kleiner Fratz, der noch unsicher auf wackligen Beinen herum stakste. Er lächelte traurig bei der Erinnerung, wie die Rufe seiner Mutter durch die Festungshallen schallten, und er sich kichernd aus dem Staub gemacht hatte. Hier, unter einem dieser Bänke, hatte er sich versteckt. Eine Wache hatte ihn gefunden und wie einen jungen Wolf aufgehoben und zu seiner panisch aufgelösten Mutter zurückgebracht, um deren Hals er lachend die kleinen Arm geschlungen hatte.

      Keiner von ihnen hätte damals ahnen können, dass Eagle ihr eines Tages das Leben nehmen würde.

      Schwer seufzend ließ er sich in der düsteren Kapelle auf eine Bank nieder und stützte das Gesicht in die Hände. So nach vorne gebeugt war er gut vor allen Blicken verborgen, die vielleicht zur offenen Tür hineingeworfen wurden.

      Nicht, dass ihn jemand zur Geisterstunde suchen würde.

      Seltsam war, dass ihn sein Weg nach jedem Alptraum vom Bett ohne Umwege genau hierherführte, wo dieser Ort doch einst nur ein vergessener Raum gewesen war. Seine Mutter war nicht unbedingt gläubig gewesen, und die unter Bann stehende Bevölkerung der Festung hatte keinen freien Willen gehabt, um sich an einen möglichen Glauben zu erinnern. Ohnehin hatte kaum etwas in dieser Kapelle mit dem Glauben der menschlichen Kirche zu tun, alles hier war luzianischer Abstammung. Kein Gold, keine Opfergaben oder beigestellte Reichtümer, um den Göttern zu imponieren. Nur nackter Stein, gemeißelte Bilder im massiven Gesteinsaltar und in den Wänden, die von Göttern erzählten, die lachten, weinten, bluteten und kämpften wie Sterbliche. Weiße Kerzen, eine angelaufene Bronzeschale für geweihtes Wasser. Sie war stets leer gewesen, doch irgendjemand musste sie neu gefüllt haben. Dieser Jemand hatte wohl auch die wenigen Kerzen angezündet, den Staub von den Bänken und Fenstern gewischt, Blumenvasen aufgestellt, die Wandteppiche abgeklopft und den Boden gefegt, sodass die Kapelle für alle ruhelosen Seelen wieder einladend wirkte. Vielleicht war dies der Grund, weshalb Eagle diesen Ort aufsuchte. Vielleicht kam er auch nur hier her, weil er glaubte, hier würde niemand nach ihm suchen.

      Eagle fühlte sich schuldig und konnte mit dieser Schuld nicht leben.

      Er hatte seine Mutter getötet, wie könnte er je wieder ruhig schlafen?

      So sehr er sich auch sagte, das Richtige getan zu haben, so viele ihn auch als Bannbrecher feierten, er fühlte sich wie ein Mörder. Immer wieder musste er sich fragen, ob es nicht einen anderen Weg gegeben hätte. Eine Lösung ohne Blutvergießen. Doch dann kam ihm wieder das Gesicht seiner Mutter in den Sinn,