Der verborgene Erbe. Billy Remie

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Название Der verborgene Erbe
Автор произведения Billy Remie
Жанр Языкознание
Серия Legenden aus Nohva 5
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742739742



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Haltet Ihr mich für so unwissend? Jeder im Land hat es bereits gehört, die frohe Kunde verbreitet sich rasch: Ein Erbe der Airynns offenbarte sich. Vergebt mir und nehmt es nicht persönlich, dass ich zuerst nach Osten reise, um mir anzuhören, welche Vorteile mir ein Bündnis mit dem wahren König einbringt.«

      Rahff war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass sich die Gerüchte über den Erben bereits derart schnell verbreiteten. Er hatte den Fehler begangen, seinen Feind zu unterschätzen. Clivias Bastard war nicht nur ein Kind, dem er das Fürchten lehren konnte, nein, der Erbe war ein junger Mann, der offenkundig nicht abwarten konnte, dass sich die Nachricht um seine Person verbreitete.

      »Ihr werdet von mir hören, Eure Hoheit«, versprach Si`haas und verbeugte sich noch einmal zum Abschied.

      Rahff wartete, bis er aus der Tür war und seine Schritte im Flur langsam verklangen, dann durchzuckte Wut seinen Körper und er fegte brüllend Pergamente, Weinbecher und Schreibfederhalter vom Tisch.

      Das Tintenfass zerbrach und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem rotbraunen Teppich. Er trat in den Fleck und hinterließ Fußspuren, während er aus dem Zimmer eilte, um seine Wut an jemanden auszulassen, der es verdiente.

      ***

      Nach der Massenhinrichtung im Frühling waren die Zellen im königlichen Kerker überraschend leer. Hier und dort saß mal ein Dieb in den Zellen, der in seiner Verzweiflung heraus ein Laib Brot oder eine Handvoll Obst vom Feld eines Bauern oder vom Marktplatz geklaut hatte, um nicht zu verhungern, ansonsten waren die Zellen verlassen.

      Während Rahff die tropfnassen, finsteren Gänge abging, und alle paar Schritte sein Gesicht von einer Fackel angestrahlt wurde, drängte ihm sich der Gedanke auf, dass diese ungewollten Diebe vermutlich hier drinnen ein besseres Leben genossen als in Freiheit. Hier bekamen sie immerhin Wasser und etwas Brot, und mit ihrer Hinrichtung wurde ihnen ein schnelles Ende zuteil, so entgingen sie dem Hungertod.

      Andererseits redete Rahff sich ihre Umstände vielleicht auch nur schön, weil er trotz seines starken Auftretens stets ein Mann des Mitgefühls war. Er fühlte jedes Mal große Schuld, wenn er hier runterkam und einen Verurteilten erblickte, der nur das Gesetz gebrochen hatte, weil er keinen anderen Weg mehr gesehen hatte.

      Viele Familienväter hatten hier schon gesessen und auf ihren Tod gewartet, nur weil sie es nicht mehr ertragen konnten, ihre Frauen und Kinder hungern zu sehen. Unter anderen Umständen hätte er einer von ihnen sein können. Wäre sein Vater damals nicht zurückgekommen, hätte sein Vater die Schwarzfelsburg nicht zurückerobert, wäre Rahff jetzt nur der Sohn irgendeiner Hure. Vielleicht hätte er seine Liebste heiraten können, zumindest das wäre ein Trost gewesen, er hätte Cohen von Anfang an ein Vater sein können.

      Doch zu welchem Preis?

      Rahff konnte sich nicht vorstellen, dass er es ertragen hätte, seine Familie in Armut leben zu lassen, nur weil er ein Niemand war. Ganz gewiss wäre er auch zum Verbrecher geworden, um seine Liebste und seinen Sohn ein besseres Leben zu bescheren.

      Wer weiß, unter anderen Umständen hätten er und M`Shier in derselben Diebesgilde landen können und sich sogar Brüder genannt. Aber es war anders gekommen, Rahff hatte seine Liebste nicht heiraten können, doch er hatte zumindest dafür gesorgt, dass sie niemals hungern musste. Sie war immer nur seine heimliche Geliebte gewesen, dafür aber satt und gesund. Und dann war sie ihm gestohlen worden. Auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, dass sie durch das Gift im Brunnen starb, so gab es ihm jedoch Frieden, daran zu glauben, weil sich seine Wut auf etwas richten konnte. Aber selbst, wenn M`Shier der Mörder war, so hatte er es nicht vorsätzlich getan. Letztlich liefen Rahffs Gedanken immer wieder auf dasselbe hinaus: Cohen. Er hasste M`Shier ausschließlich wegen Cohen, der ihm vorsätzlich gestohlen worden war. Auf eine Weise, die Rahff nicht verstehen, geschweige denn verzeihen konnte.

      Rahffs Liebste war einem Anschlag zum Opfer gefallen, sie war tot, jedoch hatte es der Anschläger nicht auf sie abgesehen, weshalb Rahff seine Wut kontrollieren konnte. Cohen hingegen lebte. Cohen war wohlauf, er wurde auch nicht gezwungen, beim Feind zu bleiben, er verriet Rahff freiwillig.

      Er verriet Rahff, wegen M`Shier.

      Welcher Mann würde nicht den Mann abgrundtief hassen, der ihm den Sohn gestohlen hatte, der ihm von der einzigen Frau geschenkt worden war, die er je geliebt hatte?

      So sehr Rahff auch versuchte, seinem Hass nicht die Kontrolle über sein Denken und Handeln zu überlassen, er konnte sich nur bedingt beherrschen. M`Shier würde sterben, und dieses Mal nicht wegen Nohvas Krone.

      Von jetzt an, war es auch für Rahff etwas Persönliches.

      Doch Rahff hatte ein ernstliches Problem, denn M`Shier war der Blutdrache, und dieser stand an der Seite des wahren Königserben. Die Völker würden in Scharen zu ihnen wandern. Es musste nicht deutlich erwähnt werden, weshalb Rahffs Rache alles andere als gewiss war. Allein konnte er nicht gegen die Armee des Erben antreten und seine Rache an M`Shier nehmen. Nein, er brauchte einen Plan. Einen verdammt guten, sehr durchdachten Plan.

      Rahff hatte schon einiges in die Wege geleitet, vor allem die Sicherung des Fortbestands seiner Blutlinie. Aber nicht nur, dass er seinen Enkel zum Erben ernannte, sollte Grund für seine Vermählung mit Sigha sein, nicht einmal die Hoffnung, damit Cohen herzulocken und ihn einzusperren, bis alles vorüber war und sie von vorn beginnen konnten, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil sie ihn schon immer an seine erste Liebe erinnert hatte.

      Er wollte sie, war jedoch nie ein Mann gewesen, der eine Frau zur Heirat zwang. Sein Entschluss hatte mehrere Motive, doch im Herzen wusste er, worum es ihm wirklich ging. Durch Sigha konnte er auch gewisser Weise Cohen noch nahe sein. Das Kind in ihrem Leib war Cohens Nachkomme. Rahff würde in ihm immer seinen Cohen sehen, ganz gleich, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde.

      Rahff bekam eine zweite Chance als Vater.

      Trotzdem fühlte er sich gegenüber Sigha schuldig, auch wenn er es sich nicht erlauben konnte, es zu zeigen. Doch die Zeiten, in denen sie lebten, erforderten, dass nicht nur das Land sich veränderte, sondern auch er, der König. Er konnte sich Mitgefühl nicht mehr erlauben, nicht, wenn er M`Shier töten wollte. Er musste sich beeilen, bevor die Kräfte sich verschoben, und wenn er dafür auf Magie zurückgreifen musste, war ihm auch dieses Mittel recht.

      Eigentlich war er hier heruntergekommen, um seine verzweifelte Wut an ihnen auszulassen, doch auf dem Weg zu der abgelegenen Zelle hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Sein Zorn war leider schon verflogen, als er vor die Gitterstäbe trat, dafür war er wieder in der Lage, halbwegs durchdacht vorzugehen.

      Es überraschte Rahff jedoch, dass sie keine Furcht vor ihm zeigten, als er an die Zelle herantrat und in den düsteren Raum hineinblickte. Im Gegenteil, sie kicherten, als hätten sie ihn genau hier und genau zu dieser Zeit erwartet.

      Ihre Arroganz ärgerte ihn.

      »Seht nur, meine Schwestern, welch Hoher Besuch«, schnurrte die eine.

      Die anderen drei lachten düster.

      »In Anbetracht eurer Lage würde ich mich auf die Knie werfen und betteln«, knurrte Rahff die Hexen an.

      Am meisten verunsicherte ihn, dass sie völlig gelassen wirkten, sie schienen keine Furcht zu empfinden. Und trotz aller Folter wirkten sie noch immer wunderschön, jung und stark, geradezu unbeugsam und unverschämt anziehend. Die schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, gerade erst erblüht, mit Augen, die das Wissen von alten Frauen ausstrahlten.

      »Betteln?«, wiederholte die Hexe mit den langen, dunklen Locken, ihre braunen Augen besaßen ein bösartiges Funkeln, das ihn schaudern ließ. »Warum sollten wir betteln? Wir kennen unser Schicksal bereits.«

      »Und hier endet es nicht«, fügte die Hexe hinzu, die Rahff wegen ihrer knabenhaften Gestalt für die jüngste hielt, jedoch war ihr langes Haar schneeweiß, als wäre sie bereits hundert Jahre alt. Ihre hellblauen Augen wirkten fast durchsichtig, als sie ihn amüsiert musterte.

      »Ich möchte mit euch sprechen«, begann Rahff im herrischen Ton.

      »Wissen