Название | Jakob Ponte |
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Автор произведения | Helmut H. Schulz |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847668800 |
Genug, der geneigte Leser wird an der Wiedergabe dieser Probe meines Könnens und Mamas Eintragungen erkennen, dass Inspiration und Sehergabe keine gering zu achtenden Gaben, und dass sie vor allem keine Glücksache sind. Hätte meine Familie eine wirkliche Anlage zur Prophetie besessen, die Mama mir unterstellte, so wäre ihr manches erspart geblieben, und wäre unser Volk gleich mir gerüstet gewesen, wer weiß, welchen Gang die Geschichte genommen hätte, aber schließlich wendete sie sich auch ohne meine Mithilfe nach dem ihr eigenen undurchschaubarem chaotischen Gesetz des Allmächtigen Chronos. Erwachte ich aus meinen düsteren und quälenden Träumen, so blickte ich in ratlose Augen. Meine Familie, Doktor Wilhelmi und selbst Hochwürden standen meinen Höhenflügen, die Mama ihnen aufredete, hilflos gegenüber. Wie sie berichtete, bildeten sich Schweißtropfen auf meiner reinen kindlichen Stirn; unnatürlich geweitet seien meine übrigens tuscheschwarzen Augen gewesen, und mein Puls sei nach den Feststellungen des Arztes zu schnell gegangen. Mama schrieb übertreibend: wie ein Maschinengewehr.
Danach, das heißt nach Eintritt des von der Geschichte produzierten Ereignisses, sei ich in einen Erschöpfungsschlaf gefallen, aus dem heraus ich bisweilen unartikulierte Laute im sogenannten Zungenreden gestammelt habe. Schließlich, als ich später dieses System begriffen hatte und mich willig verleiten ließ meine seherischen Fähigkeiten abzurufen, wann immer sie wollten, konnte ich zwar noch keine Mitteilungen von den geschauten Bildern machen, wohl aber Signale aufnehmen, die andere aussendeten und weitergeben. Laut Überlieferung fielen die Interpretationen meiner Zustände sehr unterschiedlich aus. Großvater meinte, alle Träume kämen aus dem Bauch, ich hätte mich überfressen; allerdings ist meine Esslust groß gewesen. Großmutter, die sich immer zurückhielt, bis sie sich eine Meinung gebildet hatte, schwieg. Mama ging umher und legte mit einer ihrer charakteristischen Gesten die Fingerspitzen an die Schläfe, versichernd, sie wisse nicht mehr weiter mit diesem genialen Knaben. Doktor Wilhelmi mag sie getröstet haben, die Wahrheit müsse ertragen werden, eine Wahrheit, die in überreizten Nerven bestehe. Aber sie, Fräulein Ponte, würde mit der den Frauen eigenen Zähigkeit durchhalten bis zum Ende; er hoffe nicht, dass sich die bei mir beobachteten Symptome zum klassischen Krankheitsbild der Schizophrenie ausbilden würden, keine ganz ungefährliche Diagnose in diesen Zeiten und Folge eines in rassischer Beziehung womöglich leichtfertig eingegangenen sexuellen Verhältnisses ...
Ach, es war ein Schelmenstück, das sie um meinetwillen aufführten! Er kannte die Wahrheit nur zu gut. Vermutlich habe ich Doktor Wilhelmi durch ein mir früh zugeschriebenes seelisches Ungleichgewicht dahin gebracht, zu sich selbst und zu den Phänomenen des Geistes über das einem Arzt durch die Universität seinerzeit vermittelte Wissen und der gewöhnlichen Klinikpraxis hinauszufinden. Stehe nicht an, kühn zu behaupten, aus ihm einen Neurologen und Freudianer gemacht zu haben, als jener gerade in England Asyl gefunden hatte, worauf er allerdings verstarb. Zu Doktor Wilhelmis persönlichen Wenden gehört übrigens der Wechsel von den rassehygienischen Anschauungen zur Genetik und einem gewissen Freudianismus, oder schon darüber hinaus, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. An diese Prognosen und Spekulationen über meinen Gesundheitszustand beteiligte sich Hochwürden Fabian in der durch seinen Beruf und sein Kirchenamt vorgeschriebenen Art und Weise, wie er mir später, als ich mehr von den Dingen zwischen Himmel und Erde verstand, erklärt hat. Niemand habe schließlich wissen können, was in mir vorgegangen, ob nicht der Exorzist anzurufen sei, um den Fall zu klären, ja, er selbst sei beinahe zum Teufelsanbeter geworden, was ja letztlich die Bestimmung des katholischen Geistlichen.
Muss gesagt werden, dass Doktor Wilhelmi solchen Auslassungen mit höhnisch vorgeschobener Unterlippe lauschte? Kann es verwundern, dass Mama nur erschrocken und schützend die Hände über mich hielt? Oder dass Großvater, obschon ein gestrenger Nationalsozialist eine ängstliche Natur, hinter den Ohrensessel seiner Frau flüchtete und sich dahinter verbarg? Einzig Großmutter blieb unbeeindruckt. Ihr Blick soll mit verlegen nachdenklichem Ausdruck auf mir geruht haben. In der Tat wäre es mir in jener Zeit schlecht ergangen, würde sich die Diagnose Doktor Wilhelmis bestätigt haben. Hervorzuheben ist also, dass er damals noch in den Vorstellungen der wissenschaftlichen Welt und einer positiven Euthanasie lebte. Der den Altgriechen vertraute schöne Tod als eine Form der Befreiung von irdischer Unvollkommenheit, hatte in unserem Hausarzt einen entschiedenen Verteidiger, der Euthanasie nicht als Widerspruch zum ärztlichen Ethos empfunden haben mag, ein Sachverhalt, wie er mir später, als alle Bedenken gegen meine Zustände durch Zeit und Ereignisse gegenstandslos geworden waren, mit geheuchelter oder wirklicher Reue eingestanden hat, mit einem Bekenntnis zum Humanismus verbunden! Es gibt, wie man sieht, auch bei Akademikern nur Gelegenheiten, und keine dauerhaften Überzeugungen.
Was ist aus jener Zeit noch zu berichten? In unserem Haus und in unserer Familie gab es keine nationalsozialistischen Aktivisten, keinen SA- oder SS-Mann, keinen Amtsträger, Großvater ausgenommen, der zum Blockwart des nur von uns bewohnten Knochenhauerinnungshauses ernannt und später Verteidiger unserer Stadt wurde. Aber alle Hausgenossen kamen herauf in mein Zimmer, um freudig zuzustimmen, wenn auf dem Rathaus Platz die Hitlerpartei ihre Anhänger sammelte, zum 1. Maifest, zum Erntedank, zur Sonnenwende und zu manch anderen Feierlichkeiten der Regierung der nationalen Erhebung. Mit Genugtuung lauschten wir den Fanfaren, die zu uns heraufschmetterten und selbst ich Winzling soll mit dem kleinen ungelenken Fuß den Takt des Badenweiler Marsches gewippt haben, der Lieblingsmusik des Führers.
Im Mai des Jahres 1935 war ich zur Welt gekommen; bald konnte ich sprechen, nicht so vollendet wie später, als ich der Pflege meiner Muttersprache die volle Aufmerksamkeit schenkte, bis ich in die Hände der Schauspiellehrerin Charlotte Lingen-Lebruyn geriet und vermittels Kieselsteine im Munde neu zu artikulieren lernte. Ich lief in der Stube hin und her, warf dies und jenes um, verlangte mit sehnsüchtigen Gebärden nach den beiden Büsten, von denen ich oben sprach. Sie wurden mir verweigert, als zum Spielen ungeeignet. Das Leben ging seinen ruhigen Gang, in unserem Städtchen geschah nichts, oder es geschah später als anderswo und bei niedrigeren Temperaturen. Beispielsweise hatten auch wir unsere Kristallnacht, an der ein paar Leute auf dieser wie auf der anderen Seite mit unterschiedlichen Empfindungen teilnahmen. Immerhin: Glas habe sich bei Jakob in angstvoll gesehenen Bildern gezeigt, schrieb Mama, als ihr kurz vor dem Geschehen eine Kristallvase aus den Händen glitt und zerbrach;