Marx und Nietzsche mischen sich ein - Die heillose Kultur - Band 1.1. Dr. Phil. Monika Eichenauer

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Название Marx und Nietzsche mischen sich ein - Die heillose Kultur - Band 1.1
Автор произведения Dr. Phil. Monika Eichenauer
Жанр Зарубежная психология
Серия
Издательство Зарубежная психология
Год выпуска 0
isbn 9783844217728



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junge Frau wird immer mit ihrer Vergangenheit konfrontiert sein: bis ins Grab. Und darüber hinaus wird der kleine Sohn gleichfalls für sein Leben gezeichnet sein... Der Stiefvater geht drei Jahre ins Gefängnis und dann? Dann kümmert er sich um seinen Sohn? Oder der Sohn wird nun ohne seinen leiblichen Vater aufwachsen? Wird dem Sohn verheimlicht, wer sein Vater ist? Wird er irgendwann fragen, wer sein leiblicher Vater ist? Wird er die Antwort hören wollen? Wie würde er mit dieser Antwort fertig werden in seinem Leben? Übernimmt ein anderer Mann die Vaterrolle? Dann hätte der kleine Sohn gleichfalls einen Stiefvater – so, wie seine Mutter auch einen Stiefvater hatte... Glauben Sie nicht auch, lieber Leser, dass dieser kleine Junge nicht spürt, dass irgendetwas in der Beziehung zu seiner Mutter und seinem Vater oder Stiefvater nicht stimmt? Meinen Sie nicht, dass er dann diese Gefühle aus den Beziehungen auf sich selbst bezieht und glaubt, mit ihm stimme etwas nicht? Wo wird der Stiefvater verpflichtet, Gutes für das Opfer und den kleinen Jungen zu tun? Und wie könnte das „Gute“ aussehen, wo der Stiefvater offenbar ernsthaft bisher weder realisiert noch fühlt, DASS ER DER VATER IST? Dass Kontakte zwischen Täter und Opfer, sowie dem aus dem Missbrauch resultierenden Kind, undenkbar sind, ist selbstverständlich.

      Um Missverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, dass an der Höhe der Strafe keineswegs der Grad an Erkenntnis für den Täter ablesbar werden kann. Die Höhe der Strafe ist eher ein emotionales Barometer dafür, für wie inakzeptabel das Verhalten eines Täters gesellschaftlich gehalten wird – unabhängig von juristischen Differenzierungen, die in das Strafmaß einfließen und es bestimmen. Aber gesellschaftlich ist es wichtig, Fühlen über Verhalten, das zu derartigen Taten führt, herzustellen. Und für dieses Fühlen müssen Täter Gelegenheit bekommen. Sie kennen alle den Spruch aus der Kindheit: Wer nicht hören kann, muss fühlen. Eben, wer nicht hören kann und versteht, dass ein bestimmtes Verhalten nicht anzuwenden ist an einem anderen Menschen, weil es schädlich ist, muss fühlen lernen, wenn er es mental nicht schafft, zu der Erkenntnis zu gelangen. Psychotherapie kann unterstützen, aber nicht strafmindernd wirken. Vielleicht kann bezüglich der Fähigkeit zur emotionalen Selbstreflexion auch zunächst schlicht mit Unterricht im Knast über das menschliche Wesen, was ihm zuträglich ist und was nicht, begonnen werden. Mancher Täter wird entdecken können, warum er so und nicht anders gehandelt hat – ob man allerdings gesellschaftlich bereit ist, nachzuvollziehen, was in den Tätern vor sich ging und geht und wer dann im Zuge der Aufarbeitung aus der Vergangenheit mit in Erscheinung tritt, bleibt abzuwarten. Notwendig ist diese Arbeit zweifelsfrei und zwar für komplimentierende Feststellungen, was dem menschlichen Wesen allgemein zugemutet werden kann und was nicht.

      Einfach nur ein Geständnis abliefern reicht nicht aus, um von einer Verarbeitung oder einem Verstehen dessen, was geschehen ist, zu sprechen. Schon gar nicht reichen Geständnisse aus, die unter richterlichem Druck lapidar abgeliefert werden, weil im Falle der Geständnisverweigerung die Strafe höher ausfallen würde (s. Artikel im Stern Nr. 33 oder im vorliegenden Buch S. 169). Ebenso wenig reicht eine Begründung wie „die Tat sei schon so lange her...“ als Voraussetzung für Strafminderung aus: Im Gegenteil muss bei diesem Argument der „Verjährung“ umgekehrt berücksichtigt werden, dass Menschen, je älter sie werden desto genauer Ereignisse aus Kindheit, Jugend und frühem Erwachsenenalter erinnern und nicht nur erinnern, sondern emotional eine quälende Präsenz im Falle von Missbrauch und Vergewaltigung oder Gewalttaten spüren und ihnen bisweilen wortwörtlich erliegen. Bisweilen äußern sie sich in psychosomatischen und schlagen sich in rheumatischen Erkrankungen im Bewegungsapparat nieder. Abgelaufene Verjährungsfrist für Täter und Präsenz emotionaler Erfahrungen für Opfer verlaufen reziprok, d.h. je länger die Tat für das Opfer her ist, desto lähmender der Schmerz für die Opfer und der als dringlich erlebte Wunsch, Klärung herbei zu führen: ob dies Bestrafung für Täter oder Beziehungsklärungen in der Familie oder Familiengeheimnisse oder ähnliche Beziehungskonstellationen betreffen. Generell kann wohl gesagt werden, dass „Verjährungsargumente“ für jedes Opfer demütigend sind: Für sie verjährt nichts. Im Prinzip müsste die Umkehrung, je länger eine derartige Straftat unentdeckt und ungeklärt bleibt, desto höher das Strafmass oder die Forderung nach intensiver emotionaler Auseinandersetzung mit den Taten. Denn in der seit der Tatzeit verstrichenen Zeit hat das Opfer eines getan: gelitten und zwar auf zig verschiedenen Arten und Weisen. Es hat vielleicht ein Leben geführt, das es überhaupt nicht wollte und nicht als sein eigenes erkennt. Es ist ein fremdbestimmtes Leben.

      All’ diese Überlegungen legen eines nahe: Es ist darüber nachzudenken, wie ein Menschen schädigendes Verhalten in der Gesellschaft wirkungsvoll unterbunden werden kann.

      Ich denke, Fälle von Kindesmissbrauch werden oftmals unter dem Mantel der Verschwiegenheit der Opfer in Familien konserviert: Diese Vorgänge werden nicht thematisiert. Und wenn doch, dann werden sie verleugnet und das Opfer der Spinnerei oder Unverschämtheit bezichtigt – ebenso, wie Kinder aus Inzestbeziehungen...

      Über den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen hinaus sei auch auf psychischen Missbrauch und den täglichen Terror durch Eltern, die sich nicht mehr verstehen, sowie die Vorenthaltung der wahren Lebensgeschichten von Eltern verwiesen... Dasjenige, was an Beziehung strukturell und inhaltlich emotional gelebt wird, hat immer und in jedem Falle Auswirkungen auf die Kinder.

      In diesen Zusammenhängen sollte auch das Buch „Rabenliebe“ (2010) von Peter Wawerzinek nicht unerwähnt bleiben. Er spricht von „Mutterverschweigen“ in der Adoptivfamilie. Das Buch handelt von der verzweifelten Suche nach seiner Mutter aus der Nachkriegskindheit. „Es versteht sich nicht von selbst, dass Mütter ihre Kinder lieben. Unter Tieren ist die Brutpflege eine Regel, die Ausnahmen kennt. Bei Primaten wurde der Infantizid beobachtet, die Tötung des Nachwuchses. Manche Naturvölker lassen Gebärende von kundigen Frauen begleiten – nicht allein, um ihnen die Niederkunft zu erleichtern, sondern auch, um sie daran zu hindern, das Neugeborene umzubringen. Die Mutterliebe, Gegenstand zahlloser Mythen und heroischer Erzählungen, ist kein Naturgesetz, sondern ein zivilisatorischer Standard, der verletzt werden kann. Die Nachricht von misshandelten, verhungerten, ermordeten Kindern ereilt uns in regelmäßigen Abständen. Wir neigen dazu, derlei als beklagenswerte Abweichung vom Normalfall zu betrachten. Doch selten ist die Perversion keineswegs,“ schreibt Ulrich Greiner unter dem Titel „Der Schrei nach der Mutter.“ (In: Die Zeit Nr. 34, 2010, S. 49) Der Roman von Peter Wawerzinek wurde in Klagenfurt mit dem Ingeborg Bachmann-Preis gekrönt. Vertreter der Theorie, man könne die (biologische)Tiefe einer Mutter-Bindung auch auf den Vater übertragen, werden sich enttäuscht sehen: „Warum schreit er nicht nach dem Vater? Wir sind doch gerade dabei, uns in die Einsicht zu üben, dass der Vater, um der Mutter ihren gleichberechtigten Weg in die Berufswelt zu ebnen, die Rolle der Bezugsperson genauso gut einnehmen kann, wenn er nur will. Wir setzen doch, jedenfalls im öffentlichen Diskurs, alles daran, die Mutter entbehrlich zu machen. Nein, sagt Wawerzinek, die Gebärerin, aus deren Leib das Kind kommt und wohin es nicht selten zurück will, hat eine ungleich größere symbiotische Bedeutung als der Zeuger. Auf die Mutter kommt alles an. Und gerade deshalb, weil sich die Mutterliebe nicht von selbst versteht, ist sie unersetzlich. Diese Botschaft wird vielen missfallen. Insofern ist Peter Wawerzineks Rabenliebe nicht nur ein literarisches Ereignis, sondern auch eine Provokation.“ (Greiner, Ulrich, 2010, S. 49)

      Der Film „Into the wild“ (Sean Penn) zeigt, wie der Protagonist Chris McCandless aussteigt aus Gesellschaft und Familie. Er entsagt Swimmingpool, Geld, Auto, Zigaretten, kurz, dem Konsum, um zu sehen, was in ihm steckt und wer er ist. Der Film beginnt im Schlafzimmer der Eltern. Die Mutter schreckt aus dem Bett in der Nacht hoch. Sie hat die Stimme von Chris gehört: „Mama, hilf mir...“ Im Film werden fragmentarisch Gedanken und Erkenntnisse mitgeteilt. Beispiel: „Mancher Mensch glaubt, dass er der Liebe nicht wert sei und geht in die Einsamkeit, um die Lücken in der Vergangenheit zu schließen...“ Hinzugefügt sei: Viele Menschen, die dies tun, tun dies oft nicht, weil sie nichts Besseres zu tun wüssten, sondern weil sie es als dringliche Notwendigkeit emotional erleben, der sie nachkommen müssen, um zu leben oder zu überleben. Chris geht in die Wildnis, um seine Lücken und Wunden zu schließen – dafür schließt er sich von der Zivilisation ab. Die Eltern wissen, dass man Kristall vorsichtig behandeln muss – aber sie wissen nichts davon, wie zerbrechlich die Seele von Chris, ihrem Sohn, ist. Ein sehenswerter Film.

      So