Sieben Leben. Stefan Kuntze

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Название Sieben Leben
Автор произведения Stefan Kuntze
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783742726933



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elitäre Zug in dieser Gedankenwelt, die Geringschätzung der „normalen“ Demokratie und die unklaren wirtschaftspolitischen Positionen ließen es der SPD 1925 geboten erscheinen, die Mitgliedschaft im IJB als unvereinbar mit der in der Partei zu erklären. Die ehemaligen Kommunisten und KAPD-Leute wie Schröder und Reichenbach waren der Partei Problem genug. Die KPD hatte einen ähnlichen Beschluss bereits 1922 gefasst.

      Nun blieb Nelson und seinen Gefolgsleuten nichts anderes übrig, als die lange angedachte eigene Partei zu gründen. Mit Beginn des Jahres 1926 war die politische Landschaft um eine Facette reicher, nämlich um den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Von Rauschenplat gehörte zu den Mitgründern und bereits ab 1924 lehrte er Ökonomie in der Walkemühle.

      Zahlenmäßig und bei den Wahlen, zu denen sie trotz antiparlamentarischen Denkens aufrief, an denen sie aber selber als Partei nicht antrat, spielte diese Gruppierung keine Rolle. In der Zeit des Nationalsozialismus zählten ihre wenigen Mitglieder zu den einfallsreichsten und öffentlichkeitswirksamsten Widerstandskämpfern.

      Die Landschulbewegung repräsentierte in den Zwanzigerjahren eine der fortschrittlichen pädagogischen Strömungen, die vom Kadettendrill des Kaiserreichs weg und hin zu einer freien Erziehung unter Anerkennung der Rechte der Kinder und Jugendlichen strebten. Hierzu gehörte u.a. die Anwendung von Grundsätzen der Montessori-Pädagogik und das gleichberechtigte Zusammenleben von Lehrenden und Lernenden.

      Auch die Frankfurter pädagogische Akademie reihte sich ein in den Kreis der Bildungsstätten, die an der Modernisierung der öffentlichen Schulbildung teilnehmen und mehr Freiheit und Begeisterung in den Schulen erreichen wollten. Das Walkemühlen-Konzept wollte Karl gern kennenlernen.

      „Stell dir vor, die leben mitten in der Natur und lernen gemeinsam mit den Pädagogen. Frontalunterricht von oben herab gibt es nicht.“

      Marianne nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse vorsichtig wieder ab.

      „Es muss herrlich sein, so mit Kindern zu arbeiten, meint ihr nicht auch?“

      Bruno erhob sich. „Ich muss gehen. Die haben mir einen Kellerraum überlassen, in dem ich ein Fotolabor einrichten kann.“

      „Oh, wie schön für dich. Was sagst du eigentlich zu diesen Landschulheimen?“

      „Ihr wisst ja, ich bin immer für praktische Anschauung. Vielleicht können wir die Akademie dazu bringen, eine Exkursion nach Melsungen anzubieten.“

      „Gute Idee!“

      Im nächsten Jahr würden die drei Freunde die Walkemühle und von Rauschenplat kurz sehen. Danach wäre es für Karl im Juni 1946 wieder fast so weit gewesen. Er wurde aus der amerikanischen Denkfabrik für den demokratischen Aufbau Deutschlands in Fort Kearney zum Schulfunk bei Radio Stuttgart berufen. Dort war der Emigrant aus England, Dr. Hellmuth von Rauschenplat, gerade gezwungen worden, den Sender wieder zu verlassen. Im Mai 1945 war er im Auftrag eines amerikanischen Geheimdienstes, des Office of Strategic Services des Kriegsministeriums (OSS), in die Stadt geschickt worden war, zu der er bis dahin ebenso viel Beziehung hatte wie der andere, nämlich gar keine.

      Persönlich sind die beiden einander dann nach dem 1. September 1949 begegnet, als von Rauschenplat unter seinem amtlich anerkannten Tarnnamen Fritz Eberhard, den er sich in der Zeit des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zugelegt hatte, überraschend Intendant von Radio Stuttgart geworden war. Zu diesem Zeitpunkt war Karl bereits angezählt.

      Eine erste Begegnung stand ihnen im Sommer 1930 bevor. Der Vorschlag der Studierenden, eine Exkursion zu modernen Landschulheimen anzubieten, war von der Akademie aufgegriffen worden.

      Uniformen

      Im Januar 1930 kehrten Karl und seine neuen Freunde aus den Weihnachtsfreien nach Frankfurt zurück. Marianne erschien ihm begehrenswerter als im Jahr zuvor. Es ließ sich nicht leugnen: Er war verliebt. Was ihm daher zunächst etwas aus dem Blick geriet, war die Tatsache, dass sich die politische und wirtschaftliche Situation im deutschen Reich verschlimmert hatten. Das galt auch für die Mainmetropole.

      Der Börsenkrach an der Wall Street vom Oktober 1929 verursachte erhebliche Probleme in der deutschen Wirtschaft. Überkapazitäten waren entstanden und die Zahl der Konkurse stieg rapide, wie sich gleichermaßen das Heer der Arbeitslosen täglich vergrößerte.

      Dass Eintracht Frankfurt mit dem Sieg über Waldhof Mannheim am 30. März vorzeitig süddeutscher Meister geworden war, konnte an der Wahrnehmung dieser großen und umfassenden Katastrophe allenfalls für diejenigen etwas ändern, die sich für Fußball begeisterten. Dazu gehörte Karl zeitlebens nicht.

      Es war für ihn und mehr noch für Marianne eine nicht nachvollziehbare Entscheidung der Frankfurter Stadtväter gewesen, den für den 2. März geplanten Faschingsumzug wegen des für diesen Tag im Waldstadion angesetzten Fußballländerspiels gegen Italien abzusagen. Dass die deutsche Nationalmannschaft das Spiel mit 0:2 verlor, geschah den Frankfurtern nach Mariannes Meinung gerade recht. Sie hatte sich auf den Umzug gefreut. Vielleicht hätten sie in den Straßen miteinander tanzen können.

      Am 27. April wanderten die beiden jungen Parteigenossen Karl und Bruno wieder zum Hauptfriedhof, auf dem ein Denkmal für die vor einem Jahr ermordeten Reichsbannerleute enthüllt wurde. Tausende waren gekommen. Der Redner rief die Arbeiterklasse zur Geschlossenheit auf, die man in vier Tagen, am 1. Mai, gleich demonstrieren könne und warnte vor dem Nazigift, das bei vielen Arbeitern geistige Verwirrung hervorgerufen habe. Nicht einmal die Hymne der Arbeiterklasse hätten die Provokateure der Nazis verschont. Sie sängen tatsächlich zur Melodie von ‚Brüder zur Sonne zur Freiheit‘ Hitler verherrlichende Texte wie: „Einst kommt der Tag der Rache, einmal da werden wir frei: schaffendes Deutschland erwache, brich deine Ketten entzwei.“ Die Nazis meinten mit den Ketten nämlich nicht die des Kapitalismus. Der Redner ereiferte sich und unversehens verfiel er in einen pathetischen, fast pastoralen Ton:

      „Wir lassen uns dieses Lied nicht stehlen, Genossen. Die Zukunft gehört der Arbeiterklasse! Stimmt mit ein!“

      Ein paar Gitarren und eine Schalmei setzten ein und umgehend erklang aus tausenden von Kehlen das Lied mit dem bewährten Text: „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor. Hell aus dem dunklen Vergang’nen leuchtet die Zukunft hervor.“

      Marianne und Thea, denen die zwei Jungsozialisten von der Veranstaltung berichteten, erklärten sich erstmals bereit, auf eine SPD-Veranstaltung mitzugehen. Man fand die vier unter den Teilnehmern der Maifeier von Sozialdemokratie und Gewerkschaften im Schumann-Theater und anschließend unter den 15.000 Demonstranten in der Innenstadt. Gegen diese geballte Macht traute sich nicht einmal die sonst so schlagkräftige SA auf die Straße. Man traf sich an anderer Stelle zur eigenen Maifeier.

      In dem Demonstrationszug wurde mit großer Begeisterung die Internationale gesungen. Marianne hörte sie zum ersten Mal und ihr gefiel das Lied mit seinem kämpferischen Text und der schmissigen Melodie sofort. Sie hat es bei späteren Wanderungen immer wieder angestimmt, denn nun hatte sie erstmals die Signale gehört.

      Die KPD hatte sich trotz aller Einheitsfrontparolen nicht dem Zug angeschlossen. Sie hielt ihre eigene Maifeier auf dem Opernplatz ab und demonstrierte anschließend durch die Altstadt zum Römerberg. Am Abend zogen 1500 Kommunisten mit Fackeln durch die Stadt. Beim Anblick dieses Zuges und dem romantischen Flackern der Feuer auf dem Römerplatz, das von den Butzenscheiben der altehrwürdigen Fachwerkhäuser reflektiert wurde, bedauerte Marianne, Sozialdemokraten und nicht Kommunisten kennengelernt zu haben.

      „Weißt du Thea, irgendwie haben die mehr Schwung.“

      Für Karl und seine drei Studienfreunde bot sich am Abend dieses ersten Mai Gelegenheit, die politischen und die kulturellen Interessen gemeinsam zu befriedigen. In der Frankfurter Festhalle hatte das von SPD und Gewerkschaft gebildete „Kulturkartell der modernen Arbeiterklasse“ eine Aufführung des Antikriegsstücks „Kreuzzug der Maschine“ von Lobo Frank organisiert.

      „Da müssen wir unbedingt hin! So viele Menschen auf einer Bühne hat es noch nie gegeben.“

      Unter