Die Gabe des Erben der Zeit. Georg Steinweh

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Название Die Gabe des Erben der Zeit
Автор произведения Georg Steinweh
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847693000



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ist schließlich mein Leben, um das es hier geht. Schon immer, stachelte er sich auf.

      Er goss sich Kaffee ein, schwarz, zwei Löffel Zucker, umschloss die bauchige Tasse mit beiden Händen und bewegte sich einmal mehr langsam durch die oberen Räume. Sein Blick streifte die Einbauschränke, suchte Erinnerungen.

      Sein Haar streifte den Türsturz.

       Ist mir früher gar nicht aufgefallen, ganz schön niedrig diese Decken.

      Ein volles Bücherregal füllte die Wand zwischen der Wohnstube und der Küche.

      Eigenartig.

      Langsam ging er am Regal entlang, als registriere er die Titel.

       Was macht ein vergrämter Fischer, wie mein Vater einer war, mit so vielen Büchern? In einem Haus, das unten eine verstaubte Besenwirtschaft ist und oben eine Höhle für einsame Leseratten.

      

      Vor knapp drei Wochen – mittlerweile war es der 5. Juli 2012 - war Fred auf der Halbinsel Höri angekommen. Er hatte sich in all den Jahren keine Gedanken darüber gemacht, ob sich hier etwas verändern würde. Es hatte sich alles verändert. Und gehörte nicht mehr zu seinem Leben.

      Als er, begleitet vom Quietschen des Gartentürchens, die Wiese des ungepflegten Grundstücks betrat, erschien ihm das Haus - obwohl es nicht anders aussah als früher - wie eine Fehlkonstruktion. Eine Zwangsgemeinschaft zweierlei Stile aus zweierlei Bedürfnissen. Ein gemauerter, dicker weißer Ring, der allem trotzte, was einzudringen wagte. Was völlig sinnlos gewesen wäre. In dem Haus gab es nichts zu stehlen. In dem Haus wollte sich auch nichts verbergen.

      Oder wollte das Haus etwas verbergen...? War das der Sinn des Erdgeschosses? War es nicht zu wenig, einer bretterverschalten, schwarz lasierten Fachwerkkonstruktion zur ersten Etage zu verhelfen? Noch dazu mit einem sich unanständig weit auf den See hinausbeugenden Balkon, der die ganze Breite des Hauses dominierte.

      Aus dem Bücherregal griff Fred ein Fotoalbum, aus seinem Wäschestapel kramte er einen weichen Pullover. Der breite Fenstersims, auf dem sich sonst Zimmerlinden und Geldbäume den Platz an der Sonne streitig machten, diente ihm als Kleiderablage. Drei Stapel hatte er aufgebaut: weiße T-Shirts und Hemden, einen Haufen Unterwäsche und ein Stapel, der keiner war: zwei dünne Pullover, grün und blau. Die Hosen hingen ordentlich – soweit das ohne Kleiderbügel ging – über einem Sessel. Eine schwarz-weiße Pepitahose, die ihn auch hier zum Koch machte, zwei dunkle Leinenhosen, je eine schwarze und braune Lederhose.

      Fred war kein Jeanstyp, ja er hasste dieses „uniformierte Allerweltsoutfit“. Sein Freund Paul war da ganz anders. Der wurde bei guten Jeans, die gerne über 250 Euro kosten durften, gerne schwach.

       Warum leg ich mir nicht einfach ein Kissen unter den Hintern und mach es mir auf der Fensterbank bequem? Der Blick von hier oben ist auch nicht zu verachten.

      Fred hatte immer noch keine Lust, sich großartig zu etablieren – nur nicht das Gefühl aufkommen lassen, man könnte sich hier einnisten, womöglich sogar wohlfühlen. Faul schlurfte er mit seinem Päckchen die Treppe runter in die Wirtsstube. Warf achtlos das Fotoalbum auf einen Tisch und zog den Pulli über – obwohl... er hätte einfach nur vor die Tür treten müssen, schon würde er merken, wie angenehm warm dieser späte Vormittag war.

       Morgen um drei wird Jure-Gunnar endlich das Testament eröffnen, endlich Freitag.

      Fred nannte Gunnar von Falkenstein nur noch Jure-Gunnar. So wie er ihn in den letzten Tagen erlebt hatte, konnte er ihn nicht mehr ernst nehmen.

      Diese Tage, diese verdammten Tage hoffte er irgendwann aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Er lebte einen bizarren Traum, in dem sogar der Notar eine surreale Rolle spielte. Er wollte endlich aufwachen und wenn es sein musste, vor Schreck aus dem Bett fallen. Das natürlich in seiner Wohnung in Bacharach zu stehen hatte. Dann würde er auf dem Boden sitzen, über sich lachen und schreien und lachen. Würde sich in den Arm zwicken, feststellen, was wirklich war und sich über seine Phantasie wundern.

      Aber noch war er hier, allein, phantasielos. Alter Staub und frische Putzmittel.

      Ein großes Haus, ein toter Vater, unruhige Nächte, eine stumme Stube. Alles leider echt, kein phantasievoller Traum.

      Fred stand zwischen den Stühlen, betrachtete wieder einmal den Raum und stützte sich müde auf den Tisch. Der sich keinen Millimeter bewegte. Solide Arbeit. Die Eckbank umklammerte den Raum wie ein dickes ‚U’ und war für die Ewigkeit gebaut. Eiche mehr als rustikal. Ebenso der schmale Tresen links an der Tür zur Stube. Der Tisch in der linken Ecke war größer als die beiden anderen an der rechten Wand.

      Sicher der Stammtisch, mit Vorzugsblick zum See. Mehr als 20 Leute waren hier bestimmt nie drin.

      Schmale Stühle mit offenen Lehnen, die den Männern den Schweiß des Tages aus den Kitteln zogen. Über den Tischen hingen schmiedeeiserne Lampen mit gelben Glasschirmen. Zur Zeit des alten Keller verbreiteten die sicher ein Licht, das die gemütliche Wirkung des Raumes noch verstärkt hatte.

      Von der Fred momentan nichts spürte. Müde setzte er sich, müde betrachtete er das Album.

       Was waren die siebziger Jahre bloß für eine Zeit? Geschmacklos ohne Ende, wie das Fotoalbum.

      Ein Album, verpackt in pastellfarbene Seifenblasen im Stil der Flower-Power-Jahre. Ganz anders das Hochzeitsfoto der Eltern. Perfekt inszeniert, brav und bieder. Ein steifes, honoriges Zeugnis aus dem Jahre 1969, in zeitgebleichten Farben.

       Mamas Haare sehen aus, als könnte sie mit der taftgefestigten Betonfrisur schadlos jede Mauer durchbrechen. Und Vater macht ein Gesicht, als denkt er darüber nach, wie er die Mauer wieder heil bekommt. Was dachte er bloß, als er sein Sterben vorbereitet hatte?

      Kann man sein Sterben vorbereiten?

       Wie viel Zeit hatte er sich dafür genommen...

      Kann man Zeit irgendwo wegnehmen?

       ...zu planen, mich drei Wochen hierher zu zwingen, und ich kann nix dagegen machen?

      Er blätterte weiter, und mit jeder Seite wuchs der Zorn auf seinen Vater.

      Fred spürte nicht das Glück in den Familienfotos. Sah nicht den strahlenden Vater, der bis weit in die Siebziger Jahre immer zufriedener wurde. Schnappschüsse im Boot auf dem See, abwechselnd mit Netz, beide bei der Arbeit. Bilder am Haus, die Mutter hing nicht die Wäsche, sondern die Netze auf. Dann wieder eine Jahreszahl, mit Buntstiften geschrieben, liebevoll ausgemalt: 08.08.1976, seine Geburt. Fotos im Krankenbett, die erschöpfte Vrenie, der stolze Konrad mit dem Baby auf dem Arm, er streckte es dem Fotografen entgegen. Dann ein Foto zuhause am See, im weißen Rahmen, mit Bleistift das Datum: 20. August 1976.

       Wahrscheinlich mein erster Seeblick.

      Es war ein Bild voller Zärtlichkeit. Fred betrachtete es wie alle Fotos, als suchte er krampfhaft etwas, als wollte er die Zeit analysieren. Oder recht behalten mit seinem negativen Blick auf den toten Vater, der in jedem dieser Bilder eine Fred fremde Geschichte erzählte. Er wollte sie nicht erkennen.

      Keine zwei Wochen war er alt auf dem Foto, seine Mutter drückte ihr Gesicht an seines, sie strahlte und schaute verträumt zum See. Zwei Schritte hinter ihr stand sein Vater, die zu großen Hände im Overall versteckt. Ein schmaler Typ, braune glatte Haare, mit 32 schon ausgeprägte Geheimratsecken und dem Ansatz eines Bierbauchs.

      Viel ausdauernder betrachtete er seine Mutter. Ihr schmaler Kopf wirkte durch die ins Gesicht hängenden dunkelblonden Haare noch zierlicher. Schön und zart sah sie aus, war auf dem See ihrem Mann trotzdem ebenbürdig. Ihr Gesicht, ihre Augen sprachen eine sanfte Sprache, das Kinn war schmal und etwas spitz, die Augen grün und klar und – sie hatte eine Stupsnase.

      Fred schaute genauer hin.

      „Na