Die Suche. Antje Babendererde

Читать онлайн.
Название Die Suche
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738070446



Скачать книгу

dass sie einander immer wieder Mut gemacht hatten. Die älteste Schwester, die Zwölfjährige, hatte nicht mehr ertragen können, wie ihre kleinen Schwestern litten. Das war schlimmer gewesen als ihr eigenes Leid. Deshalb war sie zu ihrer Lehrerin gegangen, obwohl der Großvater ihr gedroht hatte, sie in den Superior zu werfen, wenn sie irgendjemandem erzählen würde, was er mit ihr und ihren Schwestern machte. Das Mädchen konnte nicht schwimmen und hatte panische Angst vor dem Ertrinken. Ihr Mut war bewundernswert.

      Gestern hatte die Mutter der Mädchen ein Geständnis abgelegt, um ihren Töchtern einen Auftritt vor Gericht zu ersparen. Unter Tränen hatte sie von ihrer eigenen traurigen Kindheit berichtet. Dem sexuellen Missbrauch durch ihren Stiefvater und einem ihrer Brüder, sowie von langen Jahren in Kinderheimen.

      Nicht selten benutzten Angeklagte Misshandlungen, die ihnen selbst in ihrer Kindheit widerfahren waren, als eine Art Entschuldigung. Sexueller Missbrauch war eine Krake, die immer neue Arme ausbildete. Manche Menschen waren in einem schrecklichen Zuhause aufgewachsen und später erschufen sie diese Hölle neu: für ihre eigenen Kinder. Der sexuelle Missbrauch wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben, als gäbe es keinen anderen Ausweg. Doch Canyon wusste, dass es einen gab.

      Gewalttätigkeit war kein Zustand, der einem auferlegt wurde, weil man selbst misshandelt worden war. Wie oft beriefen sich Verteidiger darauf, doch Canyon kannte dafür kein Verständnis.

      Manchmal schien es ihr, als wüsste sie über alle Möglichkeiten der Grausamkeit Bescheid, hätte alles schon einmal gehört oder gesehen. Doch dann lag ein neuer Fall auf ihrem Tisch und sie sah sich mit einer neuen Art von Gewalt gegenüber Kindern konfrontiert. Physische oder psychische Demütigungen, es schien nichts zu geben, was es nicht gab.

      Das war der Grund, warum Canyon ihren Job nicht hinschmiss und sich einen anderen Broterwerb suchte, einen, der sie nicht jeden neuen Tag einen Blick in die Finsternis der Hölle werfen ließ. Die drei Mädchen hatten einander gehabt und so die Kraft gefunden, sich aus dem Teufelskreis von Abhängigkeit, Angst und Missbrauch zu befreien. Canyon hatte damals niemanden gehabt, nicht einmal ihre eigene Mutter hatte ihr geglaubt. Und es gab andere wie sie. Kinder, die niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten, niemanden, der ihnen Kraft gab, sich zu wehren.

      Für diese Kinder wollte sie da sein. Deshalb setzte sie von Montag bis Freitag jeden Morgen ihren Fuß in dieses Büro und war bereit alles zu geben, wenn Robert Lee seinen Kopf zur Tür hereinschob und sagte: „Ich habe da eben einen Anruf bekommen, meine Damen. Hier ist die Adresse. Und beeilen Sie sich.“

      5.

      Jem hob vorsichtig Ranees Arm von seiner Brust und legte ihn sacht an ihren Körper, ohne dass sie davon erwachte. Im Schlaf waren ihre Gesichtszüge ganz entspannt und sie sah weich und verletzlich aus. Einen Augenblick lauschte er ihren gleichmäßigen Atemzügen. Unglaublich, dass sie am hellen Nachmittag so tief schlafen konnte.

      Sie hatte vor seiner Tür gestanden und wenig später waren sie im Bett gelandet, so war es fast immer. Auch noch nach einem halben Jahr des Zusammenseins und unzähligen leidenschaftlichen Vereinigungen konnten sie nicht genug voneinander bekommen.

      Wenn Ranee auf ihm saß und ihn mit ihren heftigen Bewegungen zum Höhepunkt brachte, fühlt Jem sich, als wäre er gefangen in einem ihrer Gemälde mit den durchdringenden Farben. Schloss er die Augen, rauschten Visionen hinter seinen Lidern vorbei, die ihn faszinierten und ihm gleichzeitig Angst machten. Er sah Bilder, die nicht aus seinem Leben, nicht aus seiner Erfahrung kommen konnten. Vielmehr schienen sie aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit auf ihn einzustürzen. Etwas, das faszinierend und beängstigend zugleich war - wie eine Droge.

      War Ranee vielleicht doch eine Hexe? Merkwürdige Fähigkeiten besaß sie jedenfalls. Noch immer war er ganz matt von den ekstatischen Bewegungen und der Unersättlichkeit ihres Körpers.

      Jem glitt aus dem Bett, klaubte seine Sachen vom Boden zusammen und schlich sich aus dem Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich. Gerade hatte er seine Jeans über die Hüften gezogen, als das Telefon klingelte. Er eilte in die Küche und nahm ab.

      „Hallo?“, flüsterte er in den Hörer. „Wer ist da?“

      „Mr Soonias, sind Sie das? Hier ist Canyon Toshiro vom Jugendamt.“

      „Ach, Sie.“

      „Hatten Sie einen anderen Anrufer erwartet?“

      Jem atmete tief ein. „Ich rechne immer noch damit, dass jemand anruft, der ...“, er zögerte.

      Schweigen am anderen Ende der Leitung.

      „Miss Toshiro?“

      „Wenn jemand Ihren Sohn entführt hätte, Mr Soonias, hätte er sich dann nicht längst bei Ihnen gemeldet?“

      „Was wollen Sie, Miss?“, fragte er mit verhaltener Stimme, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Weshalb rufen Sie mich an?“

      „Warum flüstern Sie? Sind Sie nicht allein?“

      Jem seufzte. Diese Frau ging ihm schon wieder auf die Nerven, doch das ließ er sich besser nicht anmerken. „Nun reden Sie schon! Gibt es etwas Neues?“

      „Leider nicht, nein. Die Polizei hat noch einmal gründlich die Gegend abgesucht und nichts gefunden. Harding hat gerade angerufen und mich informiert. Keine Spur von Stevie.“

      „Ich weiß.“ Jem seufzte. „Er und Miles Kirby haben gestern noch einmal die Leute im Dorf befragt. Die beiden sind auch bei mir gewesen und wollten alles Mögliche wissen.“

      „Und?“

      „Nada. Nichts. Ich konnte ihnen auch nichts anderes sagen, als vor zwei Tagen.“

      „Haben Sie nachgesehen, ob von Stevies Sachen etwas fehlt?“

      „Ja, natürlich habe ich das. Es ist alles noch da. Jedenfalls soweit ich mich erinnern kann. Aber wahrscheinlich würde es mir nicht auffallen, wenn ein T-Shirt weg ist.“

      „Was ist mit seinen Jacken und Schuhen?“

      „Es fehlt nur das, was er an dem Tag anhatte. Und sein Rucksack, der ist weg.“

      „Sein Rucksack? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“

      „Weil Sie dann sofort vermutet hätten, er wäre fortgelaufen. Aber das ist er nicht.“ Jem überlegte, wie er Canyon beibringen sollte, dass er ihre Hilfe brauchte. Sie war anstrengend und er setzte keine große Hoffnung in sie, wollte aber nichts unversucht lassen.

      In der vergangenen Nacht hatte er doch tatsächlich von Canyon geträumt. Sie hatte in der Wildnis gestanden und Stevie an der Hand gehalten. Was für ein Schwachsinn. Mit Sicherheit hatte dieser Traum mit all den Dingen zu tun, die sein Vater ihm von Grace Winishut erzählt hatte. Seine Hoffnung hatte ihn von Canyon und Stevie träumen lassen. Doch das Bild der beiden war so deutlich, so lebendig gewesen, dass er davon erwacht war und es immer noch vor sich sehen konnte, wenn er die Augen schloss. Vermutlich wurde er langsam verrückt.

      „Wie geht es Ihnen, Jem?“, fragte Canyon in das Schweigen hinein.

      Jem glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Seine Vorurteile dieser Frau gegenüber blockierten seit zwei Tagen seinen Verstand und auf einmal wollte sie wissen, wie es ihm ging? „Interessiert Sie das wirklich, Miss Toshiro, oder ist das wieder nur einer Ihrer Tricks.“

      „Was für Tricks?“

      „Mit denen Sie auf psychologisch ausgeklügelte Art herausfinden wollen, ob ich auch wirklich unglücklich über das Verschwinden meines Sohnes bin. Ich weiß nicht, was für Gedanken in Ihrem Kopf herumschwirren, aber offensichtlich trauen Sie mir alles zu. Auch dass ich selbst Stevie etwas getan haben könnte.“

      Aus dem Hörer kam nichts als Stille. Jem hörte nicht mal den Atem der Frau am anderen Ende der Leitung. Verdammt, dachte er, krieg dich unter Kontrolle, sonst legt sie auf.

      „Miss Toshiro? Sind Sie noch dran?“

      „Ja, bin ich.“ Ihre Stimme klang kühl. Er hatte es vermasselt.