Der Gesang des Satyrn. Birgit Fiolka

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Название Der Gesang des Satyrn
Автор произведения Birgit Fiolka
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748591832



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nicht genug bekommen. Sie kannte nicht viel mehr als die enge staubige Gasse, in der sie mit ihrer Mutter ein ärmliches Zimmer bewohnte, bei einer auffällig geschminkten Frau, die jeden Abend an ihre Tür klopfte und von der Mutter einen Obolus verlangte. Es war eine einsame Straße, in der sie lebten, kaum ein Hund lief tags vorüber, nie schien etwas zu geschehen, was die Eintönigkeit ihres Lebens unterbrach. Bisher hatte das Neaira jedoch nicht gestört. Tagsüber blieb sie allein und beobachtete ihre Mutter von der Fensteröffnung aus, wenn sie in einem leichten Chiton oder an kühleren Tagen in einem Peplos mit rotem Mantel davonging, wobei die Sohlen ihrer Sandalen Muster im Sand der Straße hinterließen. Es war für Neaira ein tröstliches Ritual geworden zu beobachten, wie die Muster nach und nach vom Wind verweht wurden, und erst wenn es dunkel wurde und ihre Mutter heimkehrte, ihre Sandalen erneut Muster in den Sand der Straße zeichneten. So wartete sie Tag für Tag und vertrieb sich die Zeit, indem sie aus dem Fenster sah oder vor der kleinen Statue der Göttin Aphrodite betete, wie sie es von ihrer Mutter kannte, die jeden Abend für die Göttin etwas Mhyrre entzündete und sie darum bat ihre Jugend zu erhalten. Neaira sprach dieselben Gebete an die Göttin. Wie es Kinder gerne tun, plapperte sie ihrer Mutter alles nach. Aphrodite, so wusste Neaira, war ihrer beider Schutzgöttin. Sie brachte ihr kleine Opfer dar - Blumen, die sie am Straßenrand fand, ein paar Tropfen des Duftöls, das ihre Mutter benutzte und schöne Steine, die sie auf der Straße fand. Es waren Schätze jener Art, die nur glänzend erscheinen, solange sie mit Kinderaugen betrachtet werden. Neaira war in der Trostlosigkeit der Gasse niemals einsam. Ihre Welt war die der kindlichen Vorstellungskraft. Wie jedes Kind kannte sie die Schlupflöcher, durch welche sie aus der Enge der Wirklichkeit ausbrechen konnte. Wenn die Mutter am Abend zurückkehrte, brachte sie einen Laib Brot und manchmal harten Käse mit, den sie schweigend aßen. An jenen Abenden war die Mutter immer müde und Neaira, erschöpft von den Abenteuern ihrer kindlichen Gedankenflut, ebenfalls. Nur selten verließen sie gemeinsam die Enge des Zimmers. Dann gingen sie eine Nachbarin besuchen, die ein einfaches, jedoch sauberes Badehaus mit einem marmornen Louterion, einem Waschbecken, besaß. Solche Tage waren für Neaira besonders schöne Tage, denn dann lachte ihre Mutter und wusch ihr das lange braune Haar mit duftendem Öl.

      Der Besuch in Korinth war für Neaira somit das Aufregendste, was sie sich in ihrem jungen Leben vorzustellen vermochte – ihr kam es vor als wären die Abenteuer ihrer Nachmittage auf einmal Wirklichkeit geworden.

      „Wir gehen in Korinth eine alte Freundin besuchen“, hatte Neairas Mutter ihr eines Tages eröffnet und einen neuen Chiton aus einem Korb gezogen, den sie Neaira hatte anziehen lassen. Neaira, die bislang nur zwei Chitone besessen hatte, einen Gelben, den die Mutter aus einem ihrer eigenen abgetragenen Chitone genäht hatte, und einen schlichten weißen, war ehrfürchtig mit den Händen über den hellblauen Stoff gefahren. Heute trug Neaira ihren neuen blauen Chiton und fühlte den Stolz jedes kleinen Mädchens, das ein neues Kleidungsstück trägt.

      „Neaira, jetzt trödele nicht herum. Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit das Viertel der Tuchweber erreicht haben.“

      Mit enttäuschtem Gesicht wandte das Mädchen sich von den Akrobaten ab und stolperte hinter ihrer Mutter her. „Ich habe Hunger, Mama“, nörgelte sie, als sie am Stand eines Händlers vorbeikamen, der dampfende Brotlaibe von seinem Karren lud. Neaira lief das Wasser im Mund zusammen.

      „Wenn du brav bist, kaufe ich dir auf dem Rückweg Datteln, aber jetzt müssen wir uns beeilen.“

      Neaira entging nicht der ungeduldige Ton in der Stimme ihrer Mutter. Begehrlich starrte sie auf die dampfenden Brotlaibe, doch die Aussicht auf süße Datteln ließ sie schließlich ihre Enttäuschung vergessen. Obwohl Neairas Füße schmerzten und sie Blasen zwischen den Zehen hatte, ließ sie sich weiter durch die schwitzenden Menschleiber ziehen. Neaira bemühte sich krampfhaft, die Hand ihrer Mutter nicht loszulassen. Sie fühlte sich klein und verloren zwischen dem Tumult. Es wurde ruhiger als sie die Agora verlassen hatten, und endlich verlangsamte die Mutter ihre Schritte. Neaira atmete auf und bemühte sich, nicht zu stark zu humpeln. Bald zog die Mutter sie durch kleinere Straßen und Gassen, hügelabwärts, was das Laufen etwas vereinfachte. Die Menschen, die vor den Häusern und Läden ihrem Tagewerk nachgingen, sahen nur ab und an auf und beachteten sie nicht weiter. Meist waren es Männer, einfache Arbeiter oder Sklaven, die ihnen hinterher sahen. Neaira war Derartiges gewohnt, da es nicht viele Frauen gab, die so ungezwungen durch die Straßen liefen wie ihre Mutter. Diese wehrte einige der Männer ab, die sie anzusprechen versuchten, und zog ihre Tochter fester an sich. Neaira schrie auf, als ihre Mutter sie schmerzhaft am Arm zog, beruhigte sich jedoch schnell wieder. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter böse mit ihr wurde. Als sie nach einer Weile in eine Gasse einbogen, in der vor vielen Häusern bunte Tücher auf Gestellen im Wind flatterten, lachte Neaira auf. Die farbenfrohe Gasse empfand sie fast noch schöner als die Agora mit ihren Feuerspeiern und den vielen Menschen. Sie war versucht, sich in die flatternden bunten Tücher zu werfen. Vielleicht würde sich ihre Mutter auf dem Rückweg ein schönes Tuch für einen Chiton kaufen und es bliebe noch ein Streifen für einen Schal oder einen Gürtel übrig. Neaira bemühte sich, besonders brav zu sein.

      Ihre Mutter blieb stehen und wandte sich zu ihr um. „Wie siehst du denn aus? Vollkommen verstaubt, und dein Haar ist wirr.“ Mit fahrigen Bewegungen klopfte die Mutter ihren Chiton aus und fuhr Neaira mit den Fingern durch das Haar. Danach betrachtete sie Neaira kritisch und kniff ihr in die Wangen. „Wir wollen doch nicht, dass du blass und krank aussiehst, wenn wir meine Freundin besuchen, nicht wahr?“

      Neaira war es herzlich, egal wie sie aussah, sie wollte nur nicht mehr laufen. Als hätte Aphrodite ihre heimlichen Gebete gehört, mussten sie nur noch wenige Schritte gehen, bis die Mutter vor einem Haus mit einer rot getünchten Tür stehen blieb und laut gegen das Holz klopfte. Sie schenkte dem Kind ein nervöses Lächeln, und die Nervosität der Mutter legte sich auf das Gemüt des Mädchens. Die kurze Zeit, in der sie warteten, schwiegen sowohl Mutter als auch Tochter.

      Kurz darauf öffnete eine Frau die Tür und musterte die Besucher geringschätzend. Sie war nicht mehr jung, aber auch nicht alt. Eine blumige Duftwolke entstieg ihrem blauen Chiton mit den goldenen Paspeln und Borten. Ihr dunkles Haar war hochgesteckt und wurde von einer auffälligen Tiara gehalten. Sie war schlank, doch die edle Aufmachung stand im Gegensatz zu der grellen Schminke auf dem geweißten Gesicht, das Neaira an die Vermieterin ihres Zimmers daheim erinnerte. Endlich verzogen sich die roten Lippen der Fremden in aufkeimender Erkenntnis zu einem spöttischen Lächeln.

      „Dies ist meine Tochter“, hörte Neaira ihre Mutter steif sagen, woraufhin die Frau Neaira unverhohlen musterte.

      „Ich habe bereits fünf neue Mädchen. Für deine Tochter habe ich keine Verwendung.“ Ihre Stimme klang schrill. Neaira empfand sie als unangenehm. Etwas im Verstand des Kindes sagte ihm, dass es nicht durch diese Tür gehen wollte. Wieder schien Aphrodite selbst Neairas Gebete zu erhören. Ohne ein weiteres Wort wollte die auffällige Frau die Tür zustoßen. Doch Neairas Mutter trat einen Schritt vor, sodass sie im Türrahmen stand. „Sieh sie dir doch an, Nikarete! Sie verspricht, eine wahre Schönheit zu werden.“

      „Ich sehe ihre Mutter“, bekannte Nikarete kühl. „Dies reicht für mein Urteil.“

      „Auch ich war einmal schön, das weißt du sehr wohl – und es war nicht zu deinem Schaden!“ Neaira verstand nicht, was ihre Mutter von der Fremden wollte. Für sie war ihre Mutter die schönste Frau, die sie sich hätte vorstellen können. Unbehaglich zog sie die Mutter am Ärmel des Chitons. „Können wir gehen, Mama?“ Ihre Mutter beachtete sie nicht. Stattdessen maßen sich ihre Blicke mit denen Nikaretes. „Sieh sie dir noch einmal an, Nikarete. Man sagt, du hättest ein Auge für so etwas.“

      Wiederum wurde Neaira von Nikarete gemustert, dieses Mal ausführlicher. Ein unbestimmtes Gefühl der Angst stieg in Neaira auf.

      „Ich gebe dir dreißig Obolen für sie.“

      „Bei der großen Aphrodite – hältst du mich für dumm, Nikarete? Sieh dir ihre Augen an. Diese Augen werden Geldbeutel öffnen. Sie ist mindestens zweihundert Obolen wert. Aber ich will großzügig sein und mich mit hundert Obolen zufriedengeben.“ Die Stimme der Mutter klang ungewohnt hysterisch. Neaira drängte es immer mehr zu gehen. Sie zerrte an der Hand der Mutter, um sie von der ihr Angst einflößenden