Mitgefühl kann tödlich sein. Henning Marx

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Название Mitgefühl kann tödlich sein
Автор произведения Henning Marx
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742760906



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er wieder vollständig unter Strom und konnte es kaum erwarten, endlich die Wohnung zu verlassen. Zum Glück war es draußen trocken. Er wollte zu Fuß gehen, damit seine Nachbarn erst gar nicht mitbekamen, wann er das Haus verlassen und später wieder zurückkommen würde. Er konnte ja nicht wissen, wie das Häschen auf einen entfesselten Hengst reagierte. Vermutlich würde sie sich wie das letzte Mal alles gefallen lassen, aber Vorsicht gegenüber allen Eventualitäten gehörte schon immer zu seiner Devise. Es war neun, als der Film vorüber war, und er verließ in vollkommen überhitzter Gemütslage das Penthouse. In jeder Faser fühlte er die Erregung vibrieren. In dieser Nacht würde er sich endlich gestatten, seine bisher unterdrückten Begierden auszuleben.

      Heiko hatte die Vorspeisenteller abgeräumt, nachdem die fröhliche Runde den Feldsalat mit Pfifferlingen an einer Vinaigrette zu seiner Zufriedenheit vollständig aufgegessen hatte.

      »Lene?«

      »Ja?«, schaute die Angesprochene zu ihm auf. »Soll ich dir etwas helfen?«

      »Bleib sitzen, nein«, wehrte er ab, »aber du hast die Wahl zwischen Rinderroulade mit vegetarischer Füllung oder Kohlroulade, ganz vegetarisch.«

      »Oh. Das wäre aber nicht nötig gewesen«, zeigte sich Lene begeistert wie gerührt.

      Alle konnten ihr deutlich ansehen, wie sie sich darüber freute, dass er sich mal wieder die Mühe gemacht hatte, auf ihren sehr eingeschränkten Fleischkonsum Rücksicht zu nehmen.

      »Mit unserer Vegetarierin hat man nichts als Arbeit«, stöhnte Horst, der zu seinem Unglück nur selten Gelegenheit bekam, sich für ihre Frotzeleien zu revanchieren.

      »Bitte, Horst. Ich weiß, dass es die junge Generation gerne hat, wenn alles möglichst einfach erscheint und sich auf Displaygröße des Telefons vermitteln lässt«, antwortete sie wie gewohnt trocken, »aber ich möchte nicht so einfach etikettiert werden. Genau genommen bin ich Flexitarierin.«

      »Häh?«, lachte Horst. »Was soll das denn schon wieder sein?« Bis auf Thomas konnten auch die Anderen in der Runde mit diesem Begriff nichts anfangen. »Sag schon.«

      »Flexitarier legen Wert auf Qualität, essen aber im Gegensatz zum Vegetarier Fleisch oder Fisch, wenn auch selten und wenig«, klärte sie ihre Freunde auf.

      »Aha«, kommentierte der freundlich belehrte Horst und hatte schon wieder vergessen, Lene foppen zu wollen. »Also ist ein Vegetarier, der Fisch ist, eigentlich ein Flexitarier«, stellte er folgerichtig fest.

      »Bravo, Herr Jung«, zog Lene ihn nun ihrerseits auf. »Bei dieser Kombinationsgabe haben Sie Ihren Beruf wahrlich nicht verfehlt.«

      Horst hörte den Spott nicht einmal, so sehr beschäftigte ihn diese Unterscheidung. »Demnach wäre ein Vegetarier, der Fisch isst, also eher ein Fischesser.«

      Lene schmunzelte. »Ein Pescetarier, um ganz genau zu sein, falls es dem hauptsächlich um die Ernährung geht.«

      »Nicht besser ein Fischesser in vegetarischer Auszeit?«, warf Kai lachend ein.

      »Keine Frage, Vegetarier klingt natürlich viel hipper als Fleischmuffel«, gluckste wiederum Ariane, Susanne fast vom Stuhl stoßend.

      Während die Anderen ihrer Kreativität weiterhin freien Lauf ließen, hatte sich Heiko wieder bei Lene Gehör verschafft. »Ich würde dir die Rinderroulade empfehlen.«

      Lene stutzte. »Und warum hast du dann extra noch die Kohlroulade vorbereitet?«

      »Damit du selbst entscheiden kannst. Warum denn sonst?«

      Lene schmolz fast dahin. »Das ist aber lieb. Willst du mir nicht verraten, warum du trotzdem die Rinderroulade empfiehlst?«

      »Nein«, kam es kurz und bestimmt. Heikos Gesicht verriet absolut nichts.

      »Und was machst du mit der Kohlroulade, falls ich deinem Rat folge?«

      »Übermorgen essen. Kein Problem. Wenn du willst, kannst du sie euch auch mitnehmen«, bot er ihr großzügig an.

      »Wenn das so ist, halte ich mich an deine Empfehlung«, antwortete Lene gespannt.

      Ekaterina stand in der Tür und erwartete ihren Kunden in einem schwarzen, durchsichtigen Negligé. Darunter trug sie eine schwarze, mit roter Spitze verzierte Büstenhebe, in der ihre festen, durchaus üppigen Brüste perfekt zur Geltung kamen. Dazu trug sie einen passenden String-Tanga. Ihre schwarzen, halterlosen Netzstrümpfe endeten in roten Lackschuhen mit sehr hohen Absätzen, die ihre ohnehin langen, schlanken Beine fast endlos wirken ließen.

      »Hinreißend siehst du aus«, erhielt sie direkt ein Kompliment, als Starke die Treppe zu ihrer Mansardenwohnung in einer alten Villa in der Weststadt heraufkam.

      »Nur für dich, mein Liebster«, hauchte sie ihm entgegen. »Gefällt dir, was du gleich auspacken darfst?« Sie fuhr ihm zärtlich mit einer Hand über seine trainierte Brust, während er an ihr vorbei in den Flur ging. Sie hatte sich diese Wohnung gekauft, in der sie nur ganz selten ihre besten Stammgäste zu besonderen Anlässen empfing. An diesem Abend war so einer, weil noch nie ein Kunde ausgerechnet mit ihr das neue Jahr hatte beginnen wollen. In der Regel standen an Silvester Frau und Familie im Vordergrund. Starke folgte ihr die alte Holztreppe hinauf in den oberen Teil der Wohnung. Während er hinter ihr ging, fühlte er ein tiefes Ziehen irgendwo in den Eingeweiden, weil er eine freie Sicht auf Ekaterinas kleinen, festen Po hatte, der keinerlei Anzeichen einer Bindegewebsschwäche aufwies.

      Im oberen Teil der Wohnung befand sich ein geräumiges Zimmer mit kleiner Bar sowie einem zugehörigen Bad, die sie beide mit einer Schallisolierung hatte ausstatten lassen, obwohl im Stockwerk darunter nur ihre eigenen Wohnräume lagen. Sie hatte ganz sichergehen wollen, dass in den unteren beiden Etagen niemals auch nur ein Ton von dem zu hören sein sollte, was hier im Obergeschoss manchmal geschah. Unter ihrer Wohnung lebte ein Konzertpianist, der wie jedes Jahr um diese Zeit auf einer China-Tournee unterwegs war. Im Erdgeschoss wohnte eine alte Dame, die schwerhörig, aber sehr liebenswert war, und der das Haus einmal vollständig gehört hatte. Sie pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu den beiden. So stellte sie sich das Miteinander der Menschen vor. Man kümmerte sich, half, falls nötig, und fand immer ein paar Sätze, wenn man sich sah. Das wollte Ekaterina auf keinen Fall gefährden.

      »Hier, dein Honorar, Häschen«, wedelte Starke mit mehreren lilafarbenen Scheinen, bevor er sie in eine Holzschale auf einem Sideboard legte.

      Sie kam geschmeidig näher und schmiegte sich an ihn, wobei sie darauf achtete, dass er insbesondere den Druck ihrer üppigen Brüste fühlen konnte. »Wie großzügig, mein Liebster«, schnurrte sie in sein Ohr, wobei ihre Zunge abschließend sein Ohrläppchen umspielte.

      Als er sie anschaute, setzte er sein charmantestes Lächeln auf. »Ich bin dir so dankbar, dass du gerade heute für mich Zeit hast. Möchtest du etwa weniger?«

      »Nein. Ich werde dich ausreichend dafür belohnen«, hauchte sie, wandte sich um und ließ auf dem Weg zum Bett ihr Negligé von den Schultern gleiten.

      Das glaube ich allerdings auch, durchzuckte es seinen Kopf. Mit drei großen Schritten war er hinter ihr, kurz bevor sie das Bett erreicht hatte.

      »Das ist ...«, Lene war zu erstaunt, um es sofort glauben zu können. »Das gibt es doch nicht. ... Dieses Fleisch ... ist himmlisch gut.«

      Susanne und Heiko grinsten bereits breit.

      »Nicht eher tierisch gut?«, flachste Horst in bekannter Manier.

      Thomas schaute ungläubig seine Frau an, die selten Fleisch aß und noch seltener einen derartigen Kommentar dazu abgab. Er schnitt sich ein Stück seiner Rinderroulade ab, die Heiko mit einem Ring aus orangefarbenem Kartoffelpüree auf dem Teller drapiert hatte. Er ließ es auf der Zunge zergehen und fühlte sich auf einmal ähnlich wie der Gourmetkritiker in »Ratatouille«: Er schmeckte förmlich eine Kuh, die auf einer Almwiese graste.

      Als Lene Susanne und Heiko lachen sah, war sie sich absolut sicher. »Das ist von der ›Lechner‹ aus Farchant«, lehnte sie sich begeistert zurück. »Wo habt ihr das denn her?«

      »Telefon