Название | Mitgefühl kann tödlich sein |
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Автор произведения | Henning Marx |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742760906 |
»Das tut mir leid. Und Ihre Mutter?«
»Die war bereits gestorben, als ich noch ein Kind war.«
»Meine lebt noch«, fiel es Lene nun weniger schwer, selbst zu erzählen. »Aber sie tut nur, was mein Vater ihr sagt. Ich glaube, sie hat Angst, dass er sich scheiden lassen könnte.«
»Wie bedauernswert. Aber was ist nun mit Ihrem Vater?«
»Mein Vater ist einer der angesehensten Strafverteidiger. Seine Kinder, ich habe noch einen jüngeren Bruder, sollten die Kanzlei auf seinem Niveau weiterführen. Ich habe mich aber nie dafür interessiert, Menschen zu verteidigen, von deren Schuld ich überzeugt war. Mein Bruder hingegen hat bereits in der Schule alles daran gesetzt, stets der Beste zu sein. Für ihn war immer nur wichtig, vor den Augen seines Vaters bestehen zu können und dessen Lebensstandard zu halten, wenn nicht gar zu übertreffen. Ich dagegen rebellierte gegen sein immerwährendes Leistungsdiktat. Nur derjenige war gut, der die besten Schulnoten, die besten Ergebnisse beim Sport und und und nach Hause brachte. Als ich mich schließlich entschied, Kriminalbeamtin zu werden und nicht Jura zu studieren, beachtete er mich überhaupt nicht mehr. Ab da gab es nur noch meinen Bruder. Wissen Sie, ich habe nie ein einziges Lob von meinen Eltern gehört. Ich war lästig, weil ich elterliche Liebe einforderte und einen liebevollen Umgang anmahnte. Während zu Hause immer nur wichtig war, was man machte, wie man dastand. Mein Vater fährt mindestens ein Mal pro Monat mit dem Zug an Heidelberg vorbei. Glauben Sie, der wäre ein einziges Mal ausgestiegen, um seine Tochter zu sehen? Immer kann ich mir irgendwelche an den Haaren herbeigezogenen Ausreden anhören, warum alles gerade nicht passt. Meinen Bruder, der derzeit in Hamburg eine Kanzlei aufbaut, besucht er, selbst wenn er nach Berlin muss. Es sei ja nur ein kleiner Umweg ... Zu meiner Hochzeit ist er erst gar nicht erschienen, weil er sich mit solchen Menschen wie der Familie meines Mannes nicht abgeben müsse. Im Übrigen sei ja der Herr Sprengel nur Kommissar und dann auch noch einen Rang niedriger.«
Endlich war es mehr oder weniger mal draußen. Lene Huscher fühlte sich erleichtert. Viktoria Dunkerbeek war die einzige Person neben Thomas, der sie offen ihr Leid anvertraut hatte.
»Sehen Sie, meine Liebe. Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung versichern: Sie dürfen sich nicht von der Meinung Ihrer Eltern abhängig machen! Insbesondere Ihr Vater handelt Ihnen gegenüber vollkommen unangemessen. Und wenn die Einsicht ausbleibt, muss man sich aus einem Verhältnis lösen, das für einen selbst nicht gut ist. Das würden Sie bei jedem anderen auch machen, oder nicht?«
»Das sagen Sie so leicht. Aber heißt es nicht, man habe nur diese Eltern, und die müsse man eben nehmen, wie sie sind? Das höre ich jedenfalls ständig von meinem Bruder. Aber der wird ja auch von vorne bis hinten hofiert. Außerdem war dem schon immer nur wichtig, gut dazustehen.«
»Erstens sage ich das nicht leichthin«, betonte Frau Dunkerbeek. »Es hat Jahre gedauert, bis aus dem Verstehen eine belastbare Haltung geworden ist. Zweitens habe ich seltsamerweise noch nie jemanden darüber reden hören, dass Eltern die Kinder nehmen müssten, wie sie sind, sie hätten schließlich nur die.«
Angesichts dieses Gedankens musste Lene sogar ein wenig lächeln.
»Liebe Frau Huscher, ich durfte Sie in den letzten Wochen ein wenig kennenlernen und ich möchte es wiederholen: So eine wunderbare Tochter wie Sie hätte ich mir immer gewünscht. Und Sie können mir glauben, ich habe sehr lange Zeit darunter gelitten, nach dem verlorenen Kind kein weiteres von Philipp mehr bekommen zu haben.«
Lene traten erneut die Tränen in die Augen, dieses Mal vor Rührung und Glück, aber auch aus Mitgefühl. Sie konnte nicht anders und umarmte Frau Dunkerbeek innig, die das für ihr Alter überraschend fest erwiderte.
»Wenn Sie Rat brauchen, sind bei uns die Türen immer offen – auch ohne Rat, wie vorhin bereits erwähnt. Was hat Sie da eigentlich speziell so berührt?«, wollte sie dann doch noch wissen.
»Mein Vater erwartete immer große Dankesbekundungen, wenn er meinem Bruder oder mir erlaubte, Ferien in, wie er stets betonte, seiner Villa in der Toskana zu verbringen. Es war alles immer seins. Und Sie kennen uns erst seit drei Wochen, laden uns ein und bieten uns die Wohnung ohne weiteres Aufheben jederzeit auch so an. Das hat mir wieder vor Augen geführt, wie es in einer Familie eigentlich sein sollte: Jeder ist für den anderen da und man hilft sich.«
»Ihr Vater scheint ein Egoist zu sein, der sich obendrein sogar innerhalb der Familie noch etwas beweisen muss. Nehmen Sie das weniger tragisch. Er würde anders handeln, wenn er könnte. Im Grunde ist er ein armer Mann, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Für Ihre Größe.«
»Oh, ich messe nur eins vierundsechzig.«
»Sie wissen, was ich meine«, lächelte Lene wieder gefasst.
»Überhöhen Sie mich nur nicht. Ich bin durchaus keine Heilige und ich weiß auch nicht, ob das in diesem Leben noch etwas wird«, erging sich Frau Dunkerbeek in Selbstspott. »Aber ich glaube, ich käme dem näher, wenn wir uns wieder um unsere Männer kümmern würden. Sonst steht dort eine ganze Flasche Bacardi auf dem Tisch. Verhindern wir also das Lasterhafte zu dieser Unzeit.«
Sie standen auf und begaben sich über den Strand zurück zur Veranda.
»Ach, bevor ich es vergesse. Nachdem wir uns nun die unschönen Seiten unseres Lebens gestanden haben, könnten wir uns duzen, wenn Sie wollen. Ich heiße Viktoria.«
»Sehr gerne«, reagierte Lene für ihre Verhältnisse eher schüchtern. »Lene.«
»Na, dann wäre das ja auch geklärt.«
Thomas´ besorgte Miene entspannte sich sofort, als er sah, wie Lene an der Seite von Frau Dunkerbeek irgendwie gelöst wirkte. Zu gerne hätte er gewusst, was die beiden miteinander gesprochen hatten. Aber Lene würde es ihm später sicherlich noch erzählen.
»Habe ich es nicht gesagt? Von wegen ein Glas, da steht eine ganze Pulle! Wer wäre ich auch, wenn ich meinen Mann nicht kennen würde«, schimpfte Viktoria Dunkerbeek beinahe.
Ihr Mann schaute bereits schuldbewusst, als ihm dieses Mal Thomas Sprengel aus der Klemme zu helfen versuchte.
»Das war meine Idee.« Er hob die Hände. »Ihr Mann wollte tatsächlich nur ein klitzekleines Gläschen bestellen.«
»Sind Sie betrunken oder lügen Sie immer so gekonnt«, ließ sie sich jedoch nicht beirren. »Im Übrigen sind wir Frauen schon weiter, auch ohne Alkohol. Ich bin Viktoria. ... Lene, das ist Philipp. Freut mich Thomas«, wandte sie sich abschließend noch einmal diesem zu.
Der hob etwas verdutzt das Glas. »Dann auf euer Wohl. Viktoria. Philipp.«
Es folgte eine sehr heitere Fortsetzung ihres sehr späten Frühstücks. Das Hotelpersonal war so rücksichtsvoll, die Runde nicht zu stören, obwohl bereits alle anderen Tische für den Mittag hergerichtet wurden. Ungern mussten Lene und Thomas sich dann doch aufmachen, um den Rest ihrer Sachen zu packen. Ihre Abfahrt zum Flughafen stand endgültig kurz bevor. Bei der Verabschiedung sah Thomas mit Erstaunen, wie Lene Viktoria Dunkerbeek lange drückte und diese ihr die Wange tätschelte. »Wir sehen uns spätestens im Sommer, meine Liebe.«
»Ganz sicher.«
Kapitel 13
Er stand hinter seinem Schreibtisch, dessen Glasplatte Dimensionen erreichte, die der Größe mancher Angestelltenbüros nahekam. In Händen hielt er ein Dokument, das ihm sein rundlicher Besucher mitgebracht hatte, der sichtlich unwohl in einem schicken Ledersessel eines Lounge-Ensembles mit Blick auf die Frankfurter Skyline saß.
Zunächst zeigte der gut aussehende Büroinhaber keine Reaktion, als er die wenigen Blätter kurz überflog. Anschließend wedelte er damit in der Luft herum und kam rasch auf seinen Besucher zu. »Was soll