Das Leben auf der anderen Seite. Jörg Nitzsche

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Название Das Leben auf der anderen Seite
Автор произведения Jörg Nitzsche
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738020779



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und mit eigenen Augen sehen was dort abgeht. Vor allem, weil ich nun tatsächlich ohne komplizierte Einreiseformalitäten viele Bekannte aus meinem Bulgarienurlaub wieder sehen kann. Zwar hatte ich mir schon im November und Dezember Tagestrips nach Berlin gegönnt doch mein Erlebnisbericht in diese mir so fremde Welt beginnt heute dem letzten Sonntag im Januar 1990. Es ist regnerisch und trübe, es könnte kaum ungemütlicher sein . . .

      . . . aber der Reihe nach.

      Denn beginnen muß ich meine Geschichte zu einem ganz anderen Zeitpunkt an einem ganz anderen Ort. Und zwar hat alles mit meinem Bulgarienur­laub im September vergangenen Jahres angefangen. Die Reisen für Kurzentschlossene waren gerade sehr günstig und ich hatte Urlaub dringend nötig. So glaubte ich jedenfalls, bin ich doch seit drei Jahren nicht mehr verreist. In dieser Zeit habe ich in Garmisch-Partenkirchen meine Hotelfachausbildung absolviert. Bei meiner Urlaubsplanung wäre ich wohl so ziemlich auf jeden Ort innerhalb Europas gestoßen, aber Bulgarien? Kannte ich das Land gerade noch vom Hörensagen, wo Bulgarien aber genau liegt entzog sich mir zu diesem Zeitpunkt jeder Kenntnis. Obwohl ich es eigentlich gewöhnt bin individuell zu verreisen, so mußte ich dieses Mal pauschal buchen. Ich machte mir deshalb auch keinen Kopf über Land und Leute, es sollte einfach nur ein Spaßurlaub werden. Ich glaube, selbst nachdem ich wieder in Hamburg eintraf, wußte ich nicht genau wo Bulgarien eigentlich liegt. Irgendwie schon peinlich, daß ich mir das überhaupt zu sagen traue. Aber es interessierte mich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Bulgarien ist es nämlich nur deshalb geworden, weil zwei Freunde von mir es ebenfalls gebucht hatten, und ich dieses Mal absolut keine Lust verspürte allein zu verreisen. Jedenfalls nicht zwei ganze Wochen an einem Ort. Mir war es also ziemlich egal wohin, Hauptsache Sonne und ein bißchen Vergnügen. Zum Sonnenstrand oder besser bekannt als Sunny Beach sollte es für uns 3 gehen. Da ich aber nachträglich und als Single gebucht hatte habe ich ein anderes Hotel erwischt, und auch eine ganz andere Reisegesellschaft. An einem Donnerstag ging es dann los. Wir 3 saßen auch noch im gleichen Flieger aber auf dem Airport in Burgas sah ich meine beiden Kumpels fürs erste ein letztes Mal, dann ging es in verschiedenen Bussen zu unseren Hotels. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nicht viel dabei gedacht, denn in der Regel hat jede Reisegesellschaft seine eigenen Busse. Wenig junge Leute, bemerkte ich sofort als ich meine ersten Eindrücke aufsog. Und echt viel Proll-Volk, also, Proletarier im wahrsten Sinne des Wortes. Als ich so im Bus saß ahnte ich noch nichts Schlimmes. Was ich damit meine, darauf komme ich noch. Ich wollte nur ankommen und die Zimmerübergabe an der Rezeption möglichst schnell hinter mich bringen. Im Hotel welches sich hochtrabend „Continental“ nennt wurde alles ordentlich und schnell abgewickelt. Auch diese blöde Geldumtauscherei ging eigentlich recht problemlos über die Bühne. Und das, obwohl es immer ein paar Deppen gibt die zu begriffsstutzig sind und somit die anderen Gäste unnötig aufhielten. Mein Zimmer war sehr karg aber funktionell eingerichtet. Ein komplett mit Fließen verlegter Boden, man könnte theoretisch mit einem Wasserschlauch das ganze Apartment einmal abspritzen und es wäre sauber. Einzig die Scheißerei in der Hocke entlockte mir doch ein etwas erstauntes Gesicht. Schnell bin ich im Beachdress und immer noch nichts Böses ahnend machte ich mich auf die Suche nach meinen Kumpels. Ich halte mich mit solchen Dingen wie Klamotten einräumen selten lange auf. Zahnpasta und-bürste kann ich auch dann noch raus holen wenn ich abends zu Bett gehe. Also auf zum Strand den ich ja direkt vor der Haustür hatte. Das war schon ein nettes Gefühl nur mit Sandalen und T-Shirt dieses Gespür von Urlaubsfeeling einzuatmen. Ich kenne meine Beiden nur zu gut um zu wissen, daß die noch ewig brauchen bis die in die Pötte kommen und wie ich am Strand umherspannen. Und so schaute ich mich zwar nach ihnen um, schaute mir aber auch gerne die Brathühner hier am Strand an. Merkwürdig ruhige Szene hier, kam es mir gleich in den Sinn. Ich merkte recht schnell was Bulgarien eigentlich ist, ein trauriges, nichtssagendes Elend. Was ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht wußte ist, daß auch Bulgarien zum Warschauer Pakt gehörte, also ein sozialistischer Staat ist. Ehrlich gesagt, mich hatte das bisher nie wirklich interessiert. Nach Stunden der Erkundung zu sagen ich wäre total entnervt gewesen von der Suche nach meinen Kumpels und meinen Eindrücken in dieser merkwürdigen Welt, ich würde stark untertreiben. Denn ich bekam nicht nur nicht raus wo die beiden steckten, sie ließen sich einfach nicht blicken, es war irgendwie auch alles recht öde hier. 14 Uhr hatte ich eingecheckt, und nun haben wir’s schon 18 Uhr und es beginnt zu dämmern. Bin dann auch erstmal wieder zurück in’s Hotel um mich für den Abend ein wenig umzuziehen. Wollte mich jetzt nicht dramatisch heraus putzen, denn es war ja angenehm mild am Abend. Dann machte ich mich wieder über den Strand auf in die City. Na ja, was man eben in Sunny Beach als City bezeichnen konnte. 2 – 3 kleine Straßenbereiche in der der übliche Schnickschnack für Urlaubsgäste angeboten wird. Hier und da mal ein Portraitzeichner, wo ich mir ein bißchen die Zeit totschlagen konnte. Im Ort sprachen alle deutsch. Merkwürdig, aber irgendwie waren hier alle so anders. Ich begriff das zuerst überhaupt nicht. All­mählich wurde mir bewußt, daß ich meine Kumpels unter Umständen heute nicht mehr treffen werde, also konzentrierte ich mich wieder mehr dem gemeinen Fußvolk zu. Alles wirkte so artig, kein lautes Wort, kein Gelächter, nichts Überstürztes, keine überschäumende Freude. „Orwell's 1984“ kam mir in den Sinn, so 'ne Art programmatische Urlaubs­stimmung. Für mich hatte das ganze schon beinahe was von einer Untergangs- als von einer Urlaubsstimmung. Man könnte mir jetzt entgegenhalten, ich hätte mir das im Nachhinein ausgedacht. Aber ich empfand das tatsächlich so. Doch sicherlich mag mein persönliches Dilemma dieses Gefühl ein wenig begünstigt haben, hier mutterseelenallein gestrandet zu sein. Ich pflanzte mich völlig resigniert auf die erstbeste Bank und verfluchte schon jetzt den ganzen Urlaub. Nach einer gewissen Zeit ging ich wieder mal zum Strand und schlenderte gelangweilt in Richtung meines Hotels. Mein Hotel liegt ganz am südwestlichen Ende des Ortes und so war es jedesmal ein ganz schöner Marsch. Zwei junge hübsche Mädchen gingen plötzlich unmittelbar vor mir her. Sie sprachen deutsch und ich sprach sie einfach an. Zu meinem Erstaunen reagierten sie überhaupt nicht unwirsch. Zu diesem Zeitpunkt merkte ich noch überhaupt keine Einschläge, soll heißen, ich bemerkte gar nicht, daß sie Ostdeutsche sind. Wir redeten einfach drauf los, wo sie hier wohnen, wie lange sie bleiben, und, und, und. Nach ein paar Minuten setzten wir uns. Und jetzt schlug es bei mir ein wie eine Bombe, als sie mir sagten, daß sie aus Cottbus, der DDR stammen. Ich bekam so was wie Schnappatmung, so verdattert war ich. Daß die beiden aus der DDR sind, konnte ich mir einfach nicht ins Gehirn einpflanzen. Zwei so lebenslustige Mädels, das waren sie wirklich. Aber aus der DDR? Meine merkwürdige Reaktion fiel ihnen schon auf. Wie konnte das denn angehen. Wo bin ich hier nur gelandet? Doch nun dämmerte es so langsam in mir. Ich mußte mich wieder Mal über meine eigene Dämlichkeit wundern. Jetzt wurde mir erst klar, daß dieses merkwürdige Volk alles DDR-Urlauber sind. In meinem Hirn begann es nur so zu rattern, und ich dachte mir was haben die hier nur zu suchen. Ich meine, wieso können die hier sein. Aber eigentlich war es diese merkwürdige Atmosphäre die mich erstaunte. Was hatte ich doch im Allgemeinen für ein merkwürdiges Bild von den Ostzonern. Ein bißchen zurück in der Entwicklung, leben wie Tiere im Zoo und so einiges mehr dachte ich alles im gleichen Moment. Gut, ich übertreibe ein bißchen. Nun war mir auch klar, warum ich so eine merkwürdige Stimmung empfand. Aber nun die beiden Mädels hier, wir sitzen gemeinsam auf einer Bank, beide haben eine sehr angenehme Art. Ich wollte nun alles über sie erfahren und bombardierte sie regelrecht weiter mit Fragen. Wie sie sich drüben fühlen, Freizeitangebote, Schule und Beruf, Freunde und Verwandte im Westen. Ich konnte mir nämlich nie richtig vorstellen, wie das Leben in der DDR so ist. Cottbus gehörte zudem auch zu einer Region in der DDR, die für mich auch bei China hätte liegen können. Wußte nur entfernt etwas von dieser Region, eben was man so hören und lesen konnte darüber. Nun, immerhin können sie ja doch raus aus der DDR, bis nach Bulgarien sogar. Hmmm, so ganz eingesperrt waren sie dann wohl doch nicht, oder? "Kulturell wird nichts geboten, das ist ziemlich trostlos bei uns", sagen sie ungerührt. Sie leben im Ruhrpott der DDR – dort, wo ganze Dörfer und Landschaften wegen der Kohle platt gemacht wurden und wohl auch noch werden. So viel Pessimismus aus dem Munde der beiden überrumpelte mich direkt, wußte ich zuerst gar nichts drauf zu erwidern. Statt dessen versuchte ich mich in ihre Lage zu versetzen oder sie mir vorzustellen, was mir beim besten Willen nicht gelang. Ich hätte mir ja nicht mal vorstellen können wie das Leben in Duisburg oder den anderen Bergbaugebieten so ist. Das Interesse an der DDR war bei uns im Allgemeinen nie besonders groß. Wirklich neugierig war kaum jemand wenn man auf drüben zu spre­chen kam. Fragen darüber wurden eher unbequem und mit lapidarem