Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Название Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel
Автор произведения Iris Weitkamp
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738055764



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dass er nicht nur ein braver Chirurg war. Er hatte so etwas von ‚Bad Boy’ ... Wie er eben ‚verarschen’ gesagt hatte, das klang auch nicht gerade akademisch. Er nervt, aber er ist irgendwie ein echt cooler Typ, dachte Inga. Jetzt reichte ein scharfes Aufblitzen aus seinen dunkelbraunen Augen, um den Assistenzarzt verstummen und den Blick auf sein Clipboard senken zu lassen. Noch blieb die Macht des Alphawolfes unerschüttert. Er nickte Inga aufmunternd zu, dann war er schon wieder zur Tür hinaus.

      Draußen dämmerte es bereits, als der mürrische Jungdoktor mit dem Gips fertig war. Inga steckte den Kopf zum Wartezimmer herein und gab Marianne Bescheid.

      „Ich muss mir nur noch einen Termin für die Kontrolle geben lassen, dann können wir fahren.“ Das wurde auch Zeit, fiel Inga ein. Ihre Nachbarin war nachtblind.

      Entsprechend aufregend verlief die Rückfahrt. Marianne lehnte mit verkrampften Händen über dem Lenkrad und blinzelte hilflos durch die Windschutzscheibe, während Inga dirigierte: „Bisschen weiter rechts halten ... nein, nicht so weit ... jetzt genau geradeaus. Da kommt gleich eine Kurve nach links ...“

      Es war, fand Inga, genau wie in dem Roman ‚The Widows´ Adventures’ von Charles Dickinson, in dem zwei alte Damen quer durch die USA fahren, wobei die eine nicht autofahren und die andere nicht sehen kann. Immerhin waren die Straßen so verschneit und leer, dass ihnen nicht viel Schlimmeres passieren konnte, als in einer Schneewehe stecken zu bleiben.

      Früh am nächsten Morgen rief Inga die Werbeagentur an, in der sie arbeitete, und meldete sich beim Anrufbeantworter krank. Vor neun ließ sich dort nie jemand blicken. Auf ihre Nachricht hin (‚Arm gebrochen, mindestens sechs Wochen Gips’) würde ein mittleres Chaos ausbrechen, was ihr eine kleine Galgenfrist zu verschaffen versprach. Danach sollte sie sich lieber einen verdammt guten Plan zurechtgelegt haben, wie um Himmels Willen sie die neue Situation meistern könnte.

      Zum nächsten Quartal wollte Inga als Teilhaberin in die Firma einsteigen. Verträge mussten unterzeichnet, Zuständigkeiten neu verteilt werden. Sie befand sich in der Bewährungsphase, sollte ein umfangreiches Projekt für einen der größten Kunden fertigstellen und präsentieren. ‚Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt, dass es nicht der rechte Arm ist’ hatte dieser dämliche Arzt gesagt. Ja, ganz toll. Inga schnaubte. Sie war Linkshänderin. Schreiben und vor allem Zeichnen würde ein Problem werden. Abgesehen davon ließ sich das Schonen und Hochlegen eines frisch gebrochenen Knochens nicht mit dem hektischen zehn-Stunden-Tag in der Agentur vereinbaren. Sie gab sich keinerlei Illusionen hin: Die Werbebranche glich einem Haifischbecken, in dem ein gnadenloser Konkurrenzkampf herrschte. Inga fielen auf Anhieb mehrere Kollegen ein, die nur auf ein Zeichen von Schwäche bei ihr lauerten. Diese dürre Zicke mit den grell orangerot lackierten Fingernägeln zum Beispiel und nicht zuletzt Detlef.

      Detlef, der die Trennung und Ingas Auszug aus der gemeinsamen Wohnung nicht wie ein Gentleman aufgenommen hatte. Er würde der Erste sein, der an ihrer Position in der Agentur und anstehenden Teilhaberschaft rüttelte. Sie hätte sich niemals mit ihm einlassen dürfen. Sechs Jahre harter Arbeit, hastige Kurztrips an Stelle von richtigem Urlaub, dauernde Verfügbarkeit per E-Mail und Handy ... sollte dies nun alles vergebens gewesen sein? Beim Stichwort ‚Trennung und Auszug’ fiel Inga siedendheiß ein, dass sie im April ihre neue Wohnung beziehen wollte. Und bald, im Grunde nächste Woche, damit beginnen musste, die Wände zu streichen. Der Fußboden im Schlafzimmer musste ausgetauscht werden ... Wie, um alles in der Welt, sollte sie jetzt mit einer Hand renovieren und packen? Vom Möbelschleppen gar nicht zu reden ...

      Bevor ihr vor lauter Panik noch übel wurde, ging sie lieber hinaus an die frische Luft. Die privaten Pflichten würden sich hoffentlich leichter erfüllen lassen. Als Inga sich einhändig in Schuhe und Jacke wurschtelte, klingelte das Telefon.

      „Immeli, Süße, was ist dir passiert? Ya salam - O Gott ...“

      „Morgen, Sabe. Woher weißt du denn so früh schon Bescheid?“

      „Marianne hat mir alles erzählt. Ich muss gleich in eine Verhandlung, aber in der Mittagspause komme ich zu dir. Hast du starke Schmerzen?“

      „Nö, eigentlich nicht.“

      „Das glaube ich dir erst, wenn ich dir dabei ins Gesicht sehen kann. Also - bis später. Wenn du etwas brauchst, sende mir eine SMS. Allah sei mit dir.“

      Sabije war Ingas beste Freundin. Seitdem die Albanerin damals mit ihren Eltern und vier Brüdern über Italien nach Deutschland und in Ingas Kindergartengruppe gekommen war, hingen die beiden aneinander wie die Kletten. Zum Erstaunen und Befremden der Familie war Sabije, sich von klein auf über alle kulturellen und sozialen Grenzen hinwegsetzend, nach der Hauptschule auf das Gymnasium gewechselt. Sie hatte ihr Abitur mit dem besten Notendurchschnitt ihres Jahrgangs bestanden und in Berlin und Brüssel Jura studiert. Mit dem Doktortitel in der Tasche hatte sie sich bei renommierten Anwaltskanzleien in Boston und New York einen Namen gemacht. Ihre Eltern und drei Brüder waren mittlerweile zurück nach Albanien gegangen, der vierte Bruder nach Italien. Sabije dagegen hatte es wieder nach Lüneburg gezogen. Um ihr Talent in hinterwäldlerischen Amts- und Landgerichten zu begraben, murrte ihr alter Tutor noch heute. Um ihren Traum zu leben, hielt Sabije dagegen und warf sich mit Elan und Kompetenz in die Verteidigung von Atomkraftgegnern. Nun würde sie zwischen zwei Gerichtsterminen nach Marunthien hetzen, um ihrer Freundin einen großen Topf Suppe zu kochen und sie zu trösten.

      Grinsend öffnete Inga die Haustür, um ihre Runde durch die Ställe zu beginnen und zumindest alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Fast wäre sie mit Marianne zusammengestoßen, die vor Ingas Haustür Schnee schippte.

      „Morgen, Inga. Wie geht`s? Tut es noch sehr weh?“

      „Nö, geht so. Vielen Dank, Janne, das ist aber lieb von dir.“

      „Ach, ist doch selbstverständlich. Geert hätte auch geholfen, aber den muss ich gleich zum Flughafen bringen. Zum Füttern heut abend bin ich wieder da, und inzwischen ...“

      „Sabe hat eben angerufen, sie kommt mich versorgen. Euer Buschfunk klappt wie am Schnürchen. Ich will gerade die Tiere füttern gehen.“

      „Den Ponies hab ich schon Heu gegeben und das Wasser aufgefüllt. Deinen Meerschweinchen auch. Nur bei Miezi kam ich ja ohne Schlüssel nicht rein.“

      Auweia. Wenn Marianne die Ponies gefüttert hatte, sollte sie besser schnell nach dem Rechten sehen. Inga lief durch Frau Reuters Obstgarten, stieg durch die Lücke im Zaun und betrat den gemütlichen kleinen Offenstall. Wie erwartet standen die Shetties bis zu den Bäuchen in einem großen Berg Heu und mampften genüsslich. Inga warf mit der gesunden Hand große Büschel voll über die Trennwand zurück, bis ein angemessener Rest übrig blieb. Der Wasserbottich war bis zum Rand gefüllt, das Eis entfernt, und auch das Treibholz hatte Marianne nicht vergessen. Es sorgte dafür, dass das Wasser in Bewegung blieb und nicht so schnell wieder zufror. Gute Janne, dachte Inga gerührt, sie ist einfach ein Schatz.

      Bis zum Mittag hatte Inga gelernt, mit einer Hand ihr Frühstück zuzubereiten, Wäsche aufzuhängen und Staub zu saugen. Dabei hatte sie höllisch aufgepasst, den verletzten Arm nicht zu benutzen, damit er nur ja heilte. Schwitzend und triumphierend war es ihr gelungen, einhändig das Bett neu zu beziehen. Erstaunlich, was man alles improvisieren konnte, indem man seine Zähne und Knie zu Hilfe nahm. Doch jeden Augenblick befürchtete sie einen Anruf von ihrem Chef, immer noch unschlüssig, was sie in ihrer verzwickten Lage tun sollte. Wie eine Maus in der Falle huschten Ingas Gedanken hin und her, ohne den erlösenden Ausweg zu finden.

      Sabije tauchte wie versprochen auf, ließ zwei Taschen voller Lebensmittel auf Ingas Küchentisch plumpsen und kochte einen leckeren Eintopf. Während sie gemeinsam den Tisch deckten, fiel Sabije die nervöse Unruhe der Freundin auf.

      „Sage einmal, was für eine Art Drogen hat man dir im Krankenhaus verabreicht? Ich hätte gedacht, dass du wesentlich erschöpfter sein müsstest von dem Unfall, Schmerzmitteln und allem. Stattdessen springst du umher wie ein vom Hund gefallener Floh.“

      „Ach Sabe ... du weißt doch, was in der Agentur für mich auf dem Spiel steht! Jeden Moment kann mein Chef anrufen und ich hab nicht den leisesten Schimmer was ich ihm sagen soll und ...“ Inga sprudelte