Название | DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL |
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Автор произведения | Nancy Salchow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847601371 |
Plötzlich schieben sich Wolken vor die Sonne. Der Baum wirft einen scheinbar endlosen Schatten über die Decke. Ein kurzer Blick in den Himmel. Als er wieder zu ihr herabschauen, ihren Blick suchen will, ist sie verschwunden. Die Flasche Rotwein liegt ausgelaufen neben der Decke im Schlamm. Beißende Kälte. Und ein Sturm, der die Plastikbecher über den durchnässten Rasen wirft.
Er setzt sich aufrecht, als ein kleines Blatt Papier, durch den Wind getragen, an seinem Arm hängen bleibt. Mit zitternden Händen streicht er es glatt, um gleich darauf zu erkennen, dass es ein Kalenderblatt ist.
Der 13. September 2010.
Wie von einer Ohrfeige wachgerüttelt, riss er sich selbst aus dem Schlaf. Die Bettdecke lag neben ihm, das Laken zerwühlt zu seinen Füßen. Es war nicht das erste Mal, dass der Traum ihn heimsuchte, und dennoch schien er ihm intensiver, realistischer als all die Male zuvor. Ob es am Haus lag? Daran, dass er ihre Anwesenheit hier so viel deutlicher spürte?
Instinktiv griff er nach dem Handy auf dem Nachtschrank, um Marie anzurufen, und legte es im nächsten Moment wieder zur Seite. Fünf Uhr morgens. Ganz sicher schlief sie noch. Und wie konnte er von ihr erwarten, sich keine Sorgen um ihn zu machen, wenn er ihr immer wieder neuen Anlass dazu gab? Solange er denken konnte, war er stets der Unstrukturierte, der Konfuse von beiden gewesen, der egozentrische Einzelkämpfer, während Marie stets die Position der umsorgenden, vernünftigen und bodenständigen Schwester eingenommen hatte. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend die Spuren seiner durchzechten Nächte verwischt, um ihm Ärger mit den Eltern zu ersparen. Wie viele Male hatte sie ihm die Leviten gelesen, wenn er sich wieder mal dagegen sträubte, dem Familienalltag beizuwohnen anstatt sich stundenlang im Zeichnen von Comics oder Schreiben von Kurzgeschichten zu verlieren. Seine Bekanntschaft mit Emma hatte seine Weltanschauung um 180 Grad gedreht, ihm die Augen für den Rest der Welt geöffnet, nur um dieselbe Welt mit ihrem Tod völlig aus den Fugen zu reißen. Ein Ereignis, das Marie über Nacht in die alte Position der überfürsorglichen Schwester zurückgeworfen hatte. Ein Umstand, den er, nach allem, was sie in den letzten Monaten für ihn getan hatte, nicht mehr ausnutzen wollte. Zumindest nicht um fünf Uhr morgens.
Er schob sich an der Bettlehne hoch und blieb für einen Moment regungslos sitzen. Er würde sich Tabletten besorgen. Gleich heute. In den ersten Wochen nach Emmas Tod hatte er Beruhigungsmittel verschrieben bekommen, die ihm lange Zeit treue Dienste erwiesen. Warum sollte er nicht erneut auf ihre Wirkung bauen?
Mit angewinkelten Knien verharrte er eine Weile in der Position, bis ihm das Buch auf dem Nachtschrank auffiel. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, der Suche nach irgendeiner auch noch so befremdlichen Form von Nähe, griff er danach.
Die Tage werden kürzer, sagt man. Aber ich finde, dass sie, je weiter das Jahr voranschreitet, immer länger werden. Die Dunkelheit zieht sich in endloser Schleife dahin und ergreift immer mehr Besitz von mir. Manchmal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr zu atmen. Dann kneife ich mir selbst in den Arm, um zu prüfen, ob ich noch einen Schmerz spüre. Anderen Schmerz. Schmerz, den man früher einmal als Schmerz definierte. Damals, als man noch nicht wusste, was wirklicher Schmerz eigentlich ist.
Ich habe unsere Bilder von den Wänden und Regalen genommen und sie in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut, um sie gleich am nächsten Tag wieder herauszuholen. Wie konnte ich nur glauben, es mir damit leichter zu machen?
Zumindest die Arbeit im Buchladen lenkt mich ein wenig ab. Und ich bin dankbar dafür. All die Bücher, die Geschichten aus einer Welt, in der vieles noch so gut, so vollkommen, so unschuldig ist. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten. Für denselben Lohn. Zweifellos wird er mich für verrückt halten. Aber was kann mich das stören?
Er war sich sicher, dass es dieselbe Seite wie am Abend zuvor war. Und wieder schien der Inhalt ein vollkommen anderer zu sein. Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Unvermittelt drängten sich ihm die Bilder des Traumes auf. Das Kalenderblatt, das der Wind zu ihm getrieben hatte. Der 13. September. Seite 139. Konnte das tatsächlich ein Zufall sein? Und was hatte es mit dem seltsamen Inhalt auf sich? Die Worte einer Frau, die ihm so vertraut erschienen und doch vollkommen fremd waren?
Er blätterte eine Seite zurück.
Rose schlug die Wagentür hinter sich zu und folgte ihm in schnellen Schritten zur Haustür.
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“
„Ganz sicher“, antwortete Adam. „Er hat die Adresse am Telefon zweimal wiederholt. Außerdem gehört ihm der Wagen, der in der Auffahrt steht.“
Sie drehte sich um und musterte das rote Cabriolet. Wie konnte sich ein mittelloser Künstler solch ein Auto leisten? Hatte Adam womöglich doch recht und sie waren auf einen skrupellosen Schwindler hereingefallen?
Als Simon das Ende der Seite erreichte und seinen Blick auf die nächste Seite wandern ließ, fiel ihm das abrupte Abbrechen der Geschichte auf. Wieder die verzweifelten Worte der Trauer. Die Frau aus dem Buchladen. Die Fremde, die scheinbar einen ebenso großen Verlust zu verzeichnen hatte wie er.
Hastig blätterte er weiter.
„Ein rotes Cabriolet?“, fragte sie ungläubig. „Woher hat er das Geld für so einen Wagen?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt.“ Adam presste seinen Daumen gegen den Klingelknopf. „Und heute werden wir ihn endlich zur Rede stellen.“
Wieder die Geschichte vom zwielichtigen Künstler. Das rote Cabriolet. Und dieselben schmerzvollen Worte, als er zur Seite 139 zurückblätterte. Wie war das möglich? War er dabei, den Verstand zu verlieren? Es hatte lediglich zwei Gläser Whiskey getrunken. Und noch nicht einmal auf leeren Magen. Der Lammbraten hatte ihm sogar so gut geschmeckt, dass er sich einen Nachschlag gegönnt hatte.
*
„Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst, Simon.“ Marie hängte ihren Mantel in einer Selbstverständlichkeit an die Garderobe, als hätte sie ihn erst vor wenigen Tagen in diesem Haus besucht.
„Was ich dir damit sagen will?“ Er schlug das Buch erneut auf. „Ich will dir sagen, dass das Buch, das Emma vor ihrem Tod gelesen hat, kein gewöhnliches Buch ist. Dass es seinen Inhalt ändert. Und zwar täglich.“
Sie nahm es aus seiner Hand, um es an der markierten Seite zu öffnen. Für einen kurzen Moment las sie.
„Traurig“, sagte sie schließlich und schlug es wieder zu. „Zu traurig, wenn du mich fragst. Und nicht unbedingt die geeignete Lektüre, um sich abzulenken. Du solltest lieber einen Krimi lesen. Oder mal wieder ins Kino gehen.“
Sie legte das Buch auf die Kommode und griff nach dem Korb zu ihren Füßen. „Außerdem bin ich nicht hier, um mich mit dir über Bücher zu unterhalten, sondern um zu schauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“
„Ich arbeite, Marie. Und ich esse. Manchmal schlafe ich sogar.“ Er folgte ihr in die Küche.
„Wie kommst du mit deinem aktuellen Projekt voran? Ist es immer noch so langweilig?“ Nach und nach packte sie Konservendosen aus dem Korb, eine Flasche Sirup, ein paar Äpfel.
„Du musst mich nicht mit Lebensmitteln versorgen. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke. Bist du etwa deshalb zwei Stunden hergefahren?“
„Ich wollte dich sehen, Simon.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen. „Die Lebensmittel sind lediglich ein Mitbringsel für den Fall, dass du noch nicht zum Einkaufen gekommen bist.“
Er nahm einen der Äpfel und lehnte sich an den Kühlschrank. „Ich meine es ernst, Marie. Mit diesem Buch stimmt etwas nicht. Diese Frau –,“ er suchte nach Worten, „diese Frau scheint meinen Schmerz zu kennen, dasselbe durchzumachen