Neues Leben für Stephanie. Lisa Holtzheimer

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Название Neues Leben für Stephanie
Автор произведения Lisa Holtzheimer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847666820



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dachte Stephanie halblaut, „jemanden von den Touristen kennen zu lernen, nützt mir ja auch nichts. Der ist gleich wieder weg, und ich wohne schließlich hier.“

      Das musste sie sich noch öfter selbst sagen: ich wohne hier. Zu ungewohnt war dieser Gedanke zurzeit noch für sie. Als Teenager hatte sie einmal mit ihrer Familie Urlaub in Österreich gemacht. Damals war ihr es so langweilig gewesen, dass sie sich seither nie wieder für Berge und alles, was damit in irgendeiner Hinsicht zu tun hatte, interessierte. Als Hamburgerin kannte sie sich aus mit Wasser, Ebbe und Flut, sie konnte Krabben pulen und Plattdeutsch schnacken; schon als Kind hatte sie segeln gelernt, kannte Begriffe wie Luv und Lee und Steuerbord und Backbord aus dem Effeff und konnte mit ihrem Wissen über Seefahrt sogar in Hamburg manchen Leuten imponieren. Berge – das war eine andere Welt, so weit weg wie Australien oder die Chinesische Mauer. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, diese Landschaft wiederzusehen. Doch jetzt hatte sie ihren Wohnsitz seit knapp zwei Monaten im Berchtesgadener Land. „Eine krasse Wende“, dachte sie. Doch zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel es ihr in diesem Städtchen kurz vor der österreichischen Grenze wirklich gut; die hohen Berge faszinierten sie mehr, als sie jemals gedacht hätte. Wenn sie nur langsam einmal ein paar vernünftige Leute kennen lernen würde! Der Mangel an privaten Kontakten machte ihr zu schaffen.

      Rosa, eine Kollegin, unterbrach ihre Gedanken und holte sie in die Gegenwart zurück. Die freundliche ältere Frau drückte ihr eine Tasse Kaffee in die Hand. „Ruhig heute, gell? Aber wer weiß, wie lange noch.“ Rosa konnte bei aller Anstrengung, in verständlichem Hochdeutsch zu sprechen, ihren urbayerischen Akzent nicht unterdrücken. Sie war ein netter, mütterlicher Typ. Sie bemerkte Stephanies Eingewöhnungsschwierigkeiten und versuchte ab und zu, ihr mit kleinen Gesten und Freundlichkeiten einfach etwas Gutes zu tun. Stephanie nahm es dankbar an; es tat ihr gut, dass jemand ihr das Gefühl gab, nicht ganz alleine auf dieser Welt zu stehen, und es machte ihr Hoffnung, dass auch die Zeit des sich–fremd–Fühlens ein Ende haben würde.

      Eine Klingel summte. Stephanie stellte ihre Tasse ab und lief auf den langen Gang. Am anderen Ende des Flures leuchtete die Lampe über einer Tür. Stephanie betrat das Zimmer, in dem drei junge Frauen lagen. Zwei waren schon wieder recht munter auf den Beinen. Die quirlige Frau Krause aus Münster, die einen Skihang zu rasant genommen hatte und sich nun die Skiabfahrten nur noch im Fernsehen anschauen durfte, aber sämtliche Bewegungen so mitmachte, dass ihre Zimmernachbarinnen manchmal Angst hatten, sie würde gleich aus dem Bett fallen, und die eher schüchterne Asanja Mbabwe aus Ghana, die zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee live erleben wollte und die Erfahrung machen musste, dass dieser nicht nur schön, weiß und kalt, sondern manchmal auch glatt ist. „Das hat man mir am Goethe-Institut nicht beigebracht“, bemerkte sie trocken, als ihr Bein eingegipst wurde.

      Gestern war Svenja Bergmann dazu gekommen. Die Studentin aus München wollte ein paar Tage lang dem Alltag entfliehen; nur kleinere Wanderungen unternehmen, die frische Bergluft genießen und einfach entspannen. Am dritten Tag wurde sie mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Keine zwei Stunden später lag sie auf dem Operationstisch.

      „Was kann ich für Sie tun?“ fragte Stephanie, als sie an Svenjas Bett stand. Das junge Mädchen war noch etwas blass, aber ansonsten hatte sie den Eingriff gut überstanden. „Ich möchte zur Toilette gehen, aber alleine klappt das wohl noch nicht so ganz“, grinste sie. „Na, dann gehen wir gemeinsam.“ Stephanie half ihr behutsam aus dem Bett und stütze sie beim Gehen.

      * * *

      Langsam wurde es dämmerig, aber die Sicht war immer noch erstaunlich klar. Berchtesgaden lag hell erleuchtet ein wenig unterhalb der Klinik – ein wirklich traumhafter Anblick. Fast von einem Moment auf den anderen verschwand die Sonne hinter den Bergen, die sich jetzt nur noch als dunkle Silhouette vor dem mondhellen Himmel abzeichneten. Noch 2 Stunden, dann war ihr Dienst zu Ende. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad und einem gemütlichen Fernseh-Abend bei einem guten Glas Rotwein. Fehlte nur noch eine Person: Jana, ihre beste Freundin. Aber die war in Hamburg. Ihre Telefonleitung würde wieder glühen heute Abend.

      2

      „Endlich Urlaub!“ Michael Aschmann sprang aus dem Zug. Die letzten Wochen in der Firma waren mehr als stressig gewesen, Überstunden gehörten zur Tagesordnung, und nicht selten war er noch spät am Abend an irgendwelchen Computern beschäftigt gewesen, die wieder einmal alle gleichzeitig vergessen hatten, was ihre Aufgabe war. EDV-Betreuer in einer expandierenden Firma zu sein, brachte ihm zwar ein gutes Gehalt, aber manchmal auch mehr Stress, als ihm lieb war. Bis gestern Mittag war es nicht wirklich klar, ob er seinen schon lange gebuchten Urlaub auch antreten konnte. Dank seiner Doppel- und Dreifachschichten in den letzten Wochen konnte er aber alle Arbeit tatsächlich so weit abschließen, dass es möglich war, sich für zwei Wochen auszuklinken. Ihn lockte nicht die Sonne auf Mallorca oder die Karibik; für ihn begann der Urlaub dort, wo die Berge begannen.

      Er schlenderte langsam zur Gepäckausgabe des Bahnhofs, um seine Skier abzuholen. Die gehörten natürlich zu einem richtigen Winterurlaub dazu. Sein Koffer würde in der Pension schon auf ihn warten, den hatte er vorher aufgegeben. Er freute sich wie ein kleiner Junge auf den Schnee, auf die Abfahrten, auf die Berge. Er war nicht zum ersten Mal hier – Berchtesgaden hatte es ihm angetan, seit er vor 7 Jahren eher zufällig hier gelandet war. Damals war Sommer gewesen, aber er hatte sich die Landschaft sofort im Winter vorgestellt, die genialen Möglichkeiten zum Wintersport entdeckt und sich in seiner Pension direkt für zwei Wochen im Februar ein Zimmer vormerken lassen. Das war inzwischen zum festen Termin geworden – zwei Wochen im Februar oder Anfang März in Berchtesgaden, manchmal auch noch einmal im Sommer. Dieses Städtchen mit seinem unverwechselbaren Charme war für ihn zur zweiten Heimat geworden. Trotzdem konnte er sich nicht entschließen, Frankfurt zu verlassen, um hier zu leben. So blieb immer die Urlaubs-Vorfreude, das Aufregende, das ihm zu schade war, um es zu seinem Alltag zu machen. Außerdem fand in Frankfurt sein Leben statt, dort waren seine Familie, seine Freunde, seine Gemeinde und ... da war Katrin.

      Katrin hätte ihn eigentlich in diesem Urlaub begleiten sollen, das Zimmer war schon gebucht. Die Erzieherin war von Darmstadt nach Frankfurt gezogen, weil sie dort eine gute Arbeitsstelle gefunden hatte. In der Gemeinde hatten sie sich kennen gelernt, und Michael war schon beim ersten Gespräch verliebt. Auch Katrin fand ihn sympathisch, und schon kurze Zeit später trafen sie sich so regelmäßig, als wären sie uralte Freunde. Sie konnten über alles reden, hatten viele gemeinsame Interessen und teilten die Liebe zur Musik. Mit Klavier und Gitarre hatten sie oft zusammen musiziert. Irgendwann – keiner von ihnen konnte ein genaues Datum nennen – war es klar, dass sie mehr als nur Freunde waren.

      Das war jetzt beinahe zwei Jahre her. Im Sommer waren sie zusammen in Italien gewesen und in diesem Winter wollte er ihr endlich Berchtesgaden zeigen und mit ihr Ski fahren. Katrin war ein wenig skeptisch gewesen, denn sie hatte noch nie auf Skiern gestanden. Aber schließlich hatte sie im Herbst zugesagt, mitzukommen.

      Zu Weihnachten hatte Michael seiner Freundin einen Gutschein für einen Skikurs geschenkt, und noch vor Silvester gingen sie gemeinsam in ein Sportgeschäft, um auch für Katrin das passende Outfit für einen Ski-Urlaub zu suchen.

      Während Michael zu Fuß zu seinem Urlaubsquartier ging, hing er seinen Gedanken nach. Selbst die strahlende Nachmittagssonne nahm er kaum wahr, und beim Überqueren der Straße wurde er beinahe von einem glücklicherweise langsam fahrenden Wagen erfasst. Das laute Hupen des erschrockenen Fahrers brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Er sah sich um, bemerkte endlich die geliebten Berge, beobachtete eine Weile die kleine Seilbahn, die die Winterurlauber mitten aus dem Ort direkt auf den Obersalzberg brachte, und setze dann das letzte Stück Weg fort.

      Die herzliche Begrüßung von Pensionswirtin Christine ließ ihn erst einmal alle traurigen Gedanken vergessen. Dass Katrin doch nicht mitkäme, hatte er ihr schon am Telefon gesagt. Christine war diskret genug, nicht weiter nach den Gründen zu fragen. Sie kochte erst einmal eine Kanne Kaffee und lud Michael zu selbstgebackenem Kuchen ein. In den vergangenen Jahren, in denen Michael immer wieder in ihrem Haus abgestiegen war, hatte sich beinahe so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Sie