Название | Körperekel |
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Автор произведения | Joana Goede |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847612216 |
Ihr bot sich ein bislang unbekannter Anblick.
Lisbeth stand im Flur, lehnte an der Wand, die Augen stark gerötet, die Lippen blass und mit verkrampften Händen, die sich nervös hin und her bewegten. Eine Polizistin mit dunklem, kurzen Haar und etwas fülliger Figur hielt einen Notizblock mit einem winzigen Kugelschreiber in der Hand. Sie hatte ein ausgesprochen nettes und sympathisches Gesicht. Offenbar war sie bemüht, Lisbeth zu beruhigen. Der Polizist, der sie begleitete, hatte gerade ein paar Schritte in die Richtung von Jakobs Zimmer gemacht. Als Minna hereinkam, wandte er sich direkt an sie: „Sie sind die Schwester? Sie wurden uns schon angekündigt.“
Da hatte Minna kaum die Tür hinter sich geschlossen. Nun fürchtete sie sich vor den Fragen, denn auf Fragen musste man antworten und das möglichst schnell. Genau das, was Minna nicht konnte. Wie eine Prüfungssituation. Sie fühlte sich überfallen. Ihr ganzer Körper wurde kalt, sie zitterte leicht. Der Polizist war mittleren Alters, hatte recht schmale Schultern und einen dafür zu großen Kopf. Sein lichtes Haupthaar war deutlich zu sehen, nachdem er die Mütze abgenommen hatte. Minna fragte sich, warum er es jetzt erst tat. Nun zog auch er seinen Notizblock mit dem auffallend kleinen Kugelschreiber heraus und begann mit den üblichen Fragen.
„Wann haben Sie Jakob das letzte Mal gesehen?“
Schon auf die Frage konnte Minna nicht direkt anworten. Die Panik in ihr stieg an, sie durchforstete ihr Hirn nach der Erinnerung, sie suchte und fand nicht. Alles in ihr war wirr und sie hatte keinen Zugriff auf die irgendwo verborgene Information. Der Polizist trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Minna biss sich peinlich berührt auf die Unterlippe, kaute darauf herum, versuchte sich zu konzentrieren, schaffte es nicht, sah betreten zu Boden und es half alles nichts.
Wie eine Wand in ihrem Kopf.
Ihre zitternden Knie hielten sie kaum noch, sie musste sich an der Garderobe abstützen, schwankte bedenklich und sie dachte schon, dass sie aus dieser Situation sicher nie mehr herauskäme, da hörte sie Lisbeths Stimme: „Was ist denn? Was haben Sie gefragt?“ Der Polizist wiederholte verwirrt die Frage und Lisbeth erklärte: „Am letzten Samstag. Da musste ich arbeiten. Minna hat Jakob zu einem Handballturnier gefahren. Abholen konnte ich ihn dann selbst und mir noch das Ende des Spiels ansehen.“
Minna blickte den Polizisten prüfend an, der abwechselnd Minna und Lisbeth ansah. Minna stammelte: „Entschuldigen Sie, ich, ich erinnere mich manchmal nicht...nicht so gut...es ist...“
Lisbeth fiel ihr ins Wort, mit einem Mal selbst gefestigt und kaum noch weinerlich: „Es ist der Druck, wissen Sie? Wenn Sie mit Minna reden, dann geben Sie ihr Zeit. Setzen Sie sich hin, trinken Sie mit ihr eine Tasse Tee. Und fragen Sie nicht so zwischen Tür und Angel drauf los, da werden sie nichts herauskriegen. Für meine Schwester ist das eine Stresssituation, verstehen Sie das?“
„Sicher“, brummte der Polizist, machte allerdings ein zweifelndes Gesicht dazu, „das hier ist wohl für jeden Angehörigen eine Stresssituation, entschuldigen Sie. Vielleicht können wir im Wohnzimmer Platz nehmen?“
Er sprach mit Minna nun wie mit einer Geisteskranken. Minna hatte das schon befürchtet, denn das geschah meistens, wenn Lisbeth versuchte, Fremde darüber aufzuklären, wie man mit Minna am besten umging, ohne sie in Stress oder Angst zu versetzen. Jeder musste Minna für geistig defekt halten, der von Lisbeth erfuhr, was man alles nicht sagen oder bloß andeuten, was man wie formulieren musste. Lisbeth hatte ja recht mit allem, was sie sagte. Nur klang es für Fremde eben immer so, als sei Minna nicht zurechnungsfähig.
Lisbeth sprang dann eben umgehend in die Position der Beschützerin. Sie wollte Minna verteidigen, wollte sie abschirmen von allem Übel und ihr so das an sich schon viel zu schwere Leben erleichtern. Selbst in dieser für Lisbeth als Mutter unerträglichen Lage, in der sie um das Leben ihres Sohnes fürchtete, funktionierte noch der Schutzmechanismus für ihre ältere Schwester.
Minna ging voran ins Wohnzimmer, setzte sich dort in einen Sessel und der Polizist nahm auf dem Sofa Platz, während Lisbeth mit der Beamtin im Flur stehen blieb. Minna meinte ergänzen zu müssen: „Ich bin etwas...überängstlich, wissen Sie? Neue Situationen überfordern mich schnell. Das ist das, was meine Schwester meinte.“
Der Polizist hielt noch den Notizblock in den Händen, schrieb aber nicht. Er meinte: „Es ist schon in Ordnung, wirklich. Lassen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen beim Beantworten der Fragen, ja? Es ist nicht wichtig, dass Sie schnell antworten. Nur, dass Sie gut darüber nachdenken, was Sie sagen. Denn jeder kleine Hinweis, auch wenn er noch so unscheinbar wirkt, könnte uns helfen. Wenn Ihnen später etwas einfällt, können Sie sich auch jederzeit melden. Meine Karte lege ich hier auf den Tisch.“
Minna nickte, atmete tief durch und wartete.
Allerdings konnte sie auch nun mit den Fragen nicht viel anfangen. Ob ihr etwas Ungewöhnliches an Jakob aufgefallen sei in letzter Zeit, ob er neue Freunde habe oder neue Interessen, ob er anders geredet oder anders gewirkt habe. Darauf wusste Minna nicht viel zu sagen, denn im Grunde ignorierte sie Jakob, wie es eben ging. Sie achtete nie darauf, was er sagte, wie er sich verhielt oder ähnliches. Das sagte sie so direkt nicht, nur, dass ihr nichts aufgefallen sei.
Der Polizist merkte bald, dass Minna keine große Hilfe bei dieser Sache sein würde. Er und seine Kollegin versprachen Lisbeth noch, dass sie nun eine offizielle Suche starten würden. Doch Lisbeth war trotzdem sehr niedergeschlagen, als die Polizei wieder weg war. Sie sagte nichts zu Minna, sondern ging in die Küche und kochte stumm starken Kaffee. Minna folgte ihr, musterte sie nachdenklich und lehnte unschlüssig an der Tür. Lisbeth sagte, als sie den Kaffee in zwei Becher eingeschenkt hatte: „Du könntest mich ruhig mal in den Arm nehmen, meinst du nicht? Ich weiß, du magst das nicht. Aber mir würde es vielleicht ganz gut tun.“
Minna lief rot an und schämte sich. Dass sie nicht von selbst auf diese Idee gekommen war, nicht einmal bei ihrer Lisbeth. Also trat sie vor und umarmte Lisbeth so herzlich, wie sie eben konnte. Die legte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester, seufzte herzzerreißend, drückte Minna fest an sich und murmelte: „Ja, das ist gut. Ist es ok für dich?“
Minna sagte: „Ja, es ist gut.“
In Wirklichkeit war es nicht gut, denn Minna hatte eine große Abneigung gegen Körperkontakt. Es war ihr alles zu nah, bedrängte sie, engte sie ein. Unangenehm. Bei Lisbeth mochte es noch gehen, denn für Lisbeth empfand sie große Zuneigung, aber bei anderen war ihr schon ein Händedruck zu viel. Zu aufdringlich. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf die Nähe und die Berührung zu konzentrieren, denn Berührung wahrzunehmen, die nicht unangenehm war, fiel ihr recht schwer. Sicher hatte es etwas Angenehmes, wenn Lisbeth ihr über den Rücken strich, sanft und liebevoll. Nur merkte Minna davon nichts. Es war ein stumpfes Gefühl für sie. Dabei wusste sie, dass es eigentlich anders hätte sein müssen. Deutlich spürte sie Lisbeths Hand auf dem Rücken, auf der Schulter. Und den anderen Körper an ihrem eigenen. Doch es löste nichts Positives in ihr aus, sie wollte nur weg, nur Abstand.
So war sie froh, als Lisbeth von selbst die Umarmung löste, Minna zum Dank einen Kuss auf die Wange hauchte und sagte: „Danke, dass du hier bist. Du beruhigst mich irgendwie. Auch wenn ich wahnsinnige Angst habe um Jakob. Ich darf gar nicht daran denken, was alles mit ihm passiert sein kann.“
Minna fragte: „Ist dir denn etwas an ihm aufgefallen?“
Lisbeth drehte sich um und griff nach einem Kaffeebecher. Eigentlich trank sie ihn mit Milch und Zucker. Nun setzte sie ihn schwarz an die Lippen, als wenn sie vergessen hätte, wie sie eigentlich ihren Kaffee trank. Minna schaute sie aufmerksam an, während Lisbeth einen Schluck nahm und dann mit abgewandtem Blick zugab: „Ja. Er, er fragte häufig nach seinem Vater. In letzter Zeit.“
Minnas Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos, doch innerlich war sie verblüfft. Ziemlich verblüfft. Nicht so sehr, dass Jakob gefragt hatte, denn Jakob war ein neugieriger, direkter Junge, der alles, was ihn beschäftigte, auch aussprach.