Wohl in meiner Haut. Gisela Enders

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Название Wohl in meiner Haut
Автор произведения Gisela Enders
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783738033182



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Es war spannend, wie lange die potentiellen Arbeitgeber sehr interessiert an mir waren. Ich habe gute Qualifikationen und eine angenehme Stimme. Entsprechend wurde ich dann auf diesem Weg auch mehrmals zu Gesprächen eingeladen. Aber wenn ich dann dort mit meiner Figur sitze, sehe ich richtig, wie die Gesichtszüge runterfallen und es klar ist, dass ich wieder verloren habe.“

      Besonders frustrierend wird es, wenn die Diskriminierung auf einen festen Arbeitsplatz mit gesundheitlichen Risiken angeblich wissenschaftlich begründet wird. Dass dies in vielerlei Hinsicht nicht haltbar ist, wurde mittlerweile durch zahlreiche Studien bewiesen. Dennoch hält sich das Vorurteil hartnäckig.

       Unser eigener Staat diskriminiert dicke Menschen erheblich.

      Dicke Menschen werden in der Regel nicht in den Beamtenstatus übernommen. Die Begründung des Amtsarztes lautet in solchen Fällen: „Gesundheitliches Risiko“. Anstatt gegen diese Diagnose zu klagen, reagieren die meisten dicken Menschen, die verbeamtet werden wollen, mit einer sehr radikalen Diät. Kurzfristig lässt sich das Gewicht ja in der Regel schon reduzieren, wenn auch mit vielen gesundheitlichen Risiken. Mit dem kurzfristigen geringeren Gewicht wird eine Verbeamtung durchgeführt – wissentlich, dass die Person durch diese Crashdiät der eigenen Gesundheit geschadet hat und der Gewichtsverlust nicht von Dauer ist.

      Im Job selber haben es viele dicke Menschen – analog zu den Ausbildungs- und Einstiegsschwierigkeiten – mit vielen Vorurteilen und Einschränkungen zu tun. Sybille – im medizinischen Bereich in führender Position in einem Krankenhaus tätig, versehen mit einer stattlichen Kleidergröße von 64, berichtet dazu: „Ich bin für wirklich viele Bereiche in unserem Krankenhaus zuständig und erledige die Aufgaben mehr als zuverlässig. Und dennoch habe ich oft den Eindruck, dass es zahlreiche Menschen gibt, denen ich erst vermitteln muss, dass ich überhaupt in der Lage bin, zwei gerade Sätze zu sprechen und einen klaren Gedankengang zu Ende zu denken. Ich habe im vergangenen Jahr eine wichtige Weiterbildung für mich gemacht und war in dieser Gruppe eine von zweien, die mit einem „sehr gut“ den Kurs abgeschlossen hat. Für mein Selbstbewusstsein war das Gold wert, denn diese ständige Infragestellung meiner Person ist schon sehr zermürbend.“

      Ob über Bemerkungen zur Figur, Diskussionen zu den neusten Diäten, Absprache der eigenen Arbeitsfähigkeit bis hin zum schweren Mobbing – dicke Personen sind eine geeignete Angriffsfläche für Vorurteile und Hass. Aber das Traurigste daran scheint zu sein, dass die meisten sich nicht wehren und über nicht genügend Selbstwertgefühl verfügen, um sich das Recht des Widerstandes zuzugestehen.

      Stress bei der medizinischen Versorgung

      Im Leben eines dicken Menschen wird es besonders schwer, wenn Erkrankungen ins Haus stehen. Denn Ärzte und die gesamte Gesundheitsbranche stehen dicken Menschen nicht vorurteilsfrei gegenüber. Jahrelang wurde im medizinischen Studium gelehrt, dass dicke Menschen ungesund leben würden und man sie drängen sollte, abzunehmen. Untermauert von einer Pharmaindustrie, die an dieser Politik sehr gut verdient. So werden dicke Menschen, selbst wenn sie mit einer Grippe zum Arzt kommen, häufig auf ihr Gewicht hingewiesen und zum Abnehmen aufgefordert. Die Sorge, in einer ohnehin schwachen, kranken Situation Gefahr zu laufen, ungefragt auf die Figur hingewiesen zu werden, führt bei vielen dicken Menschen dazu, dass sie nur sehr ungern und nur in absoluten Notfällen einen Arzt aufsuchen. Nicht ohne Grund.

       Dicken Menschen wird selten die benötigte Empathie entgegengebracht, stattdessen unbewusst oder bewusst die Schuld an ihren Krankheiten zugeschrieben.

      Dabei begegnen wir unter der Ärzteschaft vielen Vorurteilen. In einer schwedischen Untersuchung wurden Ärzte und Pfleger befragt, welche Gedanken sie hätten, wenn sie dicke Menschen behandeln müssten. Die Ergebnisse sind ernüchternd:

       48 % fühlen sich bei der Behandlung dicker Menschen nicht gut

       24 % ekeln sich vor dicken Menschen und

       12 % wollen möglichst mit dicken Menschen nichts zu tun haben.

      Natürlich gelten diese Zahlen nur für Schweden, aber wenn man davon ausgeht, dass Schweden und Deutschland sich weitestgehend in ähnlichen Kulturkreisen bewegen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dicken Menschen auch bei vielen deutschen Ärzten eher kritische Gefühle und Gedanken entgegen gebracht werden. Und ihnen Mut machende, emphatische Äußerungen, die in Zeiten der Not einem Patienten Hoffnung und Glauben an eine Heilung vermitteln, versagt bleiben. Leider baut sich Empathie nicht auf, wenn ablehnende Gefühle oder gar Ekel gegenüber dem Patienten vorherrschen.

      Nur ganz langsam macht sich bei Ärzten und in der medizinischen Wissenschaft die Erkenntnis breit, dass ein dicker Patient mit stabilem Gewicht gesünder lebt als ein Patient, der durch laufende Abnahmeversuche seinen Körper mit Gewichtsschwankungen stresst. Leider handelt es sich bei diesen Ärzten und Wissenschaftlern noch um Ausnahmen, wahrscheinlich wird es noch Jahrzehnte dauern, bis die schwerwiegenden Vorurteile gegenüber dicken Menschen in der Medizin abgebaut werden.

       Richter sind nicht neutral

      Selbst in der Justiz kommt es bei Verurteilungen zu einer schlechteren Behandlung von dicken Menschen. In einer Studie wurde in den USA Schöffenrichtern ein Fall zu Beurteilung vorgelegt. In einem Fast-Food-Restaurant besteht die Pflicht, den Weg zum Eingang im Winter zu streuen. Das Restaurant ist dem nicht nachgekommen, eine Kundin fiel. Sie war allerdings schnell und ohne gute Winterstiefel unterwegs. In einem Fall war die Kundin dick, im anderen nicht. Die dicke Person wurde von den Schöffen in signifikantem Masse mehr dafür verantwortlich gemacht, selbst für den Sturz verantwortlich zu sein. Die Ursachen wurden hier deutlich häufiger in ihrer Eile, in ihrem Gewicht und dem falschen Schuhwerk gesehen, als in den Fehlern des Restaurants.

       Alltäglicher Stress

      Zu diesen besonderen Situationen und Gegebenheiten, an welchen es zu gravierenden Einschränkungen für dicke Menschen kommen kann, kommt der alltägliche Stress für dicke Menschen hinzu. Er resultiert aus zahlreichen zufälligen Situationen, an welchen es wie selbstverständlich möglich ist, sich über einen dicken Menschen lustig zu machen, verletzende Bemerkungen abzusetzen oder sich abschätzend zu verhalten ohne dafür von Dritten „getadelt“ zu werden. Diese zufälligen Situationen sind insofern für die meisten dicken Menschen eine besondere Herausforderung und Belastung, da sie völlig unberechenbar sind. Es handelt sich nicht um Prüfungssituationen, in welchen man sich im Vorfeld mögliche Antworten zurechtlegen und Situationen in Gedanken durchspielen kann. Sie kommen plötzlich, beim Aussteigen aus der Straßenbahn: „Was für ein fetter Arsch“, im Schwimmbad: „Achtung, die Wale kommen“, oder auf dem Fahrrad: „Dass das nicht zusammenkracht“.

       Manchmal reichen auch schon Blicke, um das eigene Selbstwertgefühl für einige Stunden oder gar Tage gegen null zu fahren.

      Natürlich kann man sich viele Antworten bereit legen und Strategien entwickeln, wie man mit unangenehmen Situationen umgeht. Dennoch ist die dauernde Ungewissheit und daraus resultierende unbewusste oder bewusste Anspannung ein erheblicher Stressfaktor. Wenn es ein Gesundheitsrisiko für dicke Menschen gibt, dann ist dieses in der Ablehnung und im Stress von dicken Menschen begründet. Im zweiten Teil des Buches werde ich Wege vorstellen, wie Du mit Deinem Körper, egal wie schwer er gerade ist, einen liebevollen Umgang erlernen kannst. Dazu auch gleich eine positive Nachricht. Menschen, die ihren eigenen Körper mehr annehmen und mit sich selbst im Reinen sind, erfahren deutlich weniger Stigmatisierung und Diskriminierung als Menschen, für die der eigene Körper selbst eine Last und ein Makel ist.

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