Roulett. Peter Schmidt

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Название Roulett
Автор произведения Peter Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847627630



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vorhandenen Uniformmütze, als wir vorüberfuhren. Ernie grüßte freundlich zurück.

      Kramer lag hinten auf der Ladefläche unter Francescas Pferdedecke, Hand- und Fußgelenke so eng zusammengebunden, dass er in den Kurven auf der Seite liegen musste.

      Er schnaufte unwillig, wenn sein Kopf gegen die gepolsterten Wände des Laderaums stieß. Das Gefährt schien früher als Leichenwagen gedient haben; in der Ablage über dem Schaltknüppel war ein kleine Madonna aus Porzellan montiert. Ernie hatte seine Verbindungen zur Unterwelt von Toulon und Marseille spielen lassen und einen richterlichen Einweisungsbescheid erwirkt. Er würde in der Pförtnerloge des Pflegeheims bereitliegen, das er für Kramer als künftiges Domizil ausgesucht hatte.

      Dabei verlor er kein einziges Wort darüber, ob er gefälscht oder durch Bestechung erlangt worden war; es gehörte in den weitgezogenen Kreis seiner Betriebsgeheimnisse, die er mir erst viel später anvertrauen würde – wenn er das Gefühl gewonnen hatte, ich sei ein gelehriger Schüler und vertrauenswürdig genug, um zu lernen, was die Welt im Innersten zusammenhält.

      Hinter Antibes bogen wir in die Berge der Provence ab. Einmal sah ich schemenhaft aus dem Dunst neben der Straße das Hinweisschild Grasse auftauchen – die berühmte Parfümstadt. Als ich schon annahm, Kramers künftiges Heim liege mitten im Ort, umrundeten wir die von schwachen gelben Scheinwerfern angestrahlte Kathedrale. Es ging durch eine unbeleuchtete Toreinfahrt mit Regenpfützen, und gleich darauf befanden wir uns auf einer elenden Piste, die ein paar hundert Meter weiter zu einem von Pflastersteinen und Schlaglöchern durchsetzten Asphaltweg wurde.

      Ernie stieg aus, seine auseinandergefaltete Straßenkarte in der Hand, um im Nieselregen den verschmierten Wegweiser über einem rosafarbenen Bougainvilleastrauch zu lesen. Er leuchtete das Schild mit der Taschenlampe an.

      "Verfahren?“, fragte ich, nachdem er wieder eingestiegen war.

      "Ich war zum letzten Mal hier, um meine Mutter abzuholen. Die alte Dame hatte sich wieder so weit gefangen, dass ich sie in ein Sanatorium am Zürichsee einliefern konnte. Die Pfleger in Südfrankreich verstehen ihr Handwerk. Es ist die mediterrane Ausgeglichenheit, die sie weniger unduldsam mit Kranken umgehen lässt als in unseren Breiten."

      "Sie haben Ihre eigene Mutter in diese elende Gegend verfrachtet?"

      "Weil sie die Provence liebte. Sie hatte ein Zimmer mit Blick aufs Meer. Es ist zwar weit entfernt, aber an klaren Tagen glaubt man die Küste von Korsika zu erkennen. Vielleicht sind es ja nur dunkle Wolken, die wie Berge aussehen", meinte er bekümmert, als übermanne ihn bei diesen Worten die Erinnerung.

      Wir rumpelten weiter über den Asphaltweg. In den Kehren glommen unter uns die Lichter der Küstenstraße auf. Sie waren wie ein Bandwurm, der sich im Dunst der Halbinsel von Hyeres verlor.

      "Verraten Sie mir Ihr Geheimnis, Leo – wie haben Sie das Ungeziefer abgerichtet?"

      "Oh, wenn man ihre Zuneigung gewonnen hat, sind sie ganz lernwillig."

      "Zuneigung bei Kakerlaken?" Er lächelte unmerklich.

      "Ich glaube, sie mögen mich. Sie geben es mir dadurch zu verstehen, dass sie aufgeregt mit den Fühlern winken, wenn ich ihre Schachtel öffne. Bei Fremden würden sie in Panik geraten."

      "Bewusstsein besteht immer aus der gleichen Substanz", sagte er. "Die Gefühle sind überall dieselben: Freude, Angst, Entsetzen ..."

      "Ja, da mögen Sie recht haben. Eine bemerkenswerte Einsicht."

      "Sobald wir das verstanden haben – ich meine, wirklich im tiefsten Innern realisiert und nicht bloß als kalte intellektuelle Einsicht wie ein Insektenforscher, der ein paar Fühler abtrennt, um hinter das Geheimnis ihrer Mechanik zu gelangen – werden wir die Tötung eines Tieres nur noch als Mord bezeichnen können."

      "Deshalb leide ich mit ihnen, wenn sie krank sind oder im Restaurant vom Kellner zertreten werden."

      "Sie sprechen mir aus der Seele, Leo. Aber diese ... Kakerlaken sind doch nicht Ihre Freunde geworden, weil Sie sie einfach als Partner betrachten? Sie müssen doch irgendeinen einen Dreh gefunden haben, um sie zu domestizieren? Erkennen die Viecher Sie überhaupt?"

      "Manchmal sind sie ungehorsam. Dann zeige ich ihnen meine Sammlung aufgespießter Artgenossen. Das bringt sie wieder zur Räson."

      "Hallo, Schwester Annette", sagte Ernie weit vorgebeugt in das Glasfenster der Pförtnerloge hinein. "Das ist aber eine Überraschung, Sie altes Unikum immer noch unter den Lebenden zu sehen! Sind Sie denn gar nicht tot zu kriegen?"

      Ein uraltes Mütterchen mit weißer Schwesternhaube trat aus der Tür, um einen Blick auf mich und Kramer zu werfen – auf Kramer, der, von grün-roten Pillen aus Ernies Handschuhfach betäubt, kraftlos zwischen uns hing und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ihr zahnloser Mund bewegte sich, um einen französischen Fluch auszustoßen – aber ihre alten Augen waren voller Wiedersehensfreude.

      "Das ist unserer neuer Patient. Er weigert sich, französisch zu sprechen. Versucht den Leuten weiszumachen, er sei Deutscher. Kümmern Sie sich nicht darum! Von diesen Pillen täglich eine", sagte Ernie und legte das Glas mit den grün-roten Kapseln in Schwester Annettes Hand (ich bemerkte, dass darunter eine größere Franc-Note lag). "Vergessen Sie um Gottes willen nicht seine Pillen, es würde seine epileptischen Anfälle nur verschlimmern."

      Ernie bekam einen Briefumschlag ausgehändigt, den ein Bote vor zwei Stunden mit dem Motorrad abgeliefert hatte. Er musterte die Tafel mit dem Namen des Bereitschaftsarztes, dann wurden wir in die Aufnahme geführt. Ich versuchte Kramer davon abzuhalten, aus dem ebenerdigen Fenster in die Rosensträucher zu springen.

      "Haben Sie das gesehen, Dr. Musseau?“, fragte Ernie den jungen Arzt, der mit einem Stethoskop um den Hals hereinkam. "Der Ärmste versucht sich wahrhaftig das Leben zu nehmen." Er reichte ihm Kramers neue Papiere, den Einweisungsbescheid und ein psychiatrisches Gutachten, das aus Toulon stammte. "Willem phantasiert in fremden Sprachen. Kümmern Sie sich nicht darum. Sein Vater ist ein Gemüsehändler aus Marseille, seine Mutter stammt aus Holland."

      "Wir werden ihn erst mal in die geschlossene Abteilung bringen", sagte Doktor Musseau. "Später kam man weitersehen."

      Ernie nickte bekümmert und schlug eine Fluse von seinem Hosenbein. "Ich halte es für dringend erforderlich, ihn vor seinem eigenen Zerstörungsdrang zu beschützen. Willem macht momentan die schwierigste Phase seines Lebens durch. Er glaubt, er sei Detektiv. Er hat alles, was er bei sich selbst nicht akzeptieren kann, in seine Umwelt projiziert, und versucht es auf diese Weise – im Namen des Gesetzes, als Streiter irgendeiner dubiosen Agentur für Recht und Ordnung – zu bekämpfen."

      "Wir hatten schon schwierige Fälle hier als ihn", sagte Doktor Musseau. Dabei versuchte er seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, aber angesichts seiner Jugend – er schien eben dem Hochschulalter entwachsen zu sein –, wirkte sein Bemühen eher rührend als überzeugend. "Ist Willem Ihr Verwandter?"

      "Ich versprach seinem Vater, meinem verstorbenen Freund, am Totenbett, für Willem zu sorgen."

      "Was ist mit seinen Händen?"

      "Eine ansteckende Hautkrankheit. Halten Sie ihn lieber von den anderen Patienten fern."

      "Wir werden für ein schönes Zimmer im geschlossenen Trakt der Anstalt sorgen", sagte Doktor Musseau und griff freundlich nach seinem Arm. "Nicht wahr, Willem – mit Aussicht auf die Küste?"

      Willem warf ihm einen düsteren Blick zu, der alles mögliche bedeuten konnte, aber sicher keine Zustimmung. Ich war überzeugt, dass er weniger als fünf Worte Französisch verstand.

      Auf der Rückfahrt kamen wir am frisch renovierten Kasino vorüber. Ein weißer Würfel mit Begonien an den Seitenkanten und einem Portal wie ein orientalischer Torbogen. Ernies Kinn deutete zu den dunkel getönten Türscheiben. Er sagte, er würde gern auf unseren gemeinsamen Erfolg einen Perron-Perdon (irgendeine selbst erfundene Mischung) mit mir trinken, aber die Bar sei noch nicht wieder geöffnet. Sein Gesicht hatte beim Anblick des weißen Würfels einen geradezu heiligen Glanz bekommen – als sei er