Regen am Nil. Rainer Kilian

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Название Regen am Nil
Автор произведения Rainer Kilian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847628927



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im Saft und war wieder so stark ausgetrieben, dass man sie sogar etwas zurückschneiden musste. Ich liebte diesen Baum für diese unerschütterliche Lebenskraft, die er ausstrahlte. Die Linde hatte für mich ein Gesicht, das lächeln kann. Auch heute war sie wieder ein Treffpunkt für Jung und Alt, der neueste Klatsch und Tratsch unter ihrem grünem Dach trieb ebensolche Blüten wie die Linde selbst.

      So schlenderte ich weiter aufwärts über die Bahnschienen und stieg auf zum Gipfel des Rothenberges, ein kleiner Hügel, um den die Stadt im Laufe der Jahre herumgewachsen war. Das Kreuz am höchsten Punkt erinnerte daran, dass einst eine Mühle dort stand. Ich stellte mich vor die Bank, die hier zur Rast einlud. Man hatte einen Blick auf den gesamten Rheingau, von der Landeshauptstadt Wiesbaden und Mainz gegenüber, rheinabwärts bis zum Binger Loch und Rüdesheim. Hoch über den Hügeln grüßte das Niederwald-Denkmal mit seiner Germania-Statue. Als dünne Linie war die Seilbahn zu sehen, die die Touristen nach oben brachte. Weiter rechts in den Weinbergen lag die Abtei der heiligen Hildegardis, und wenn man sich ganz nach rechts umdrehte, schweifte der Blick über die Wälder des Rheingaus bis zum Schloss Johannisberg, dem Sitz der Fürsten von Metternich.

      Hier oben war die drückende Schwüle des Spätsommers einem angenehmen Lüftchen gewichen, das über die Weinberge strich. Silbern glitzerte der Strom des Rheins in der Sonne und nur ein paar Schönwetterwolken waren am Himmel zu sehen. Weiß strahlende Schiffe der Köln-Düsseldorfer-Flotte zogen am Geisenheimer Dom vorbei, der sie majestätisch grüßte. Bis hierher trug der Wind das gleichmäßige Brummen der Schiffsmotoren. Dieser Sommer war nicht gerade von Schönwetterperioden verwöhnt, aber an Tagen wie diesem fragte man sich schon, warum man den Rheingau überhaupt verlassen sollte. Ich genoss die hervorragende Aussicht und machte mich auf der Rastbank breit. Die Bewegung und die Luft taten mir gut. Wenn diese Träume nicht wären, hätte mein Leben kaum besser sein können. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie alles begann:

      Es war ziemlich genau vor zwei Jahren, also kurz nach meinem dreiunddreißigsten Geburtstag, als ein Freund meinen Laden betrat. Peter war Kommissar beim Landeskriminalamt Wiesbaden. „Das Verbrechen schläft nicht!“ war seine leidvolle Erfahrung, denn er hatte dadurch zu Zeiten Dienst, wenn andere schon oder noch schliefen. Wir bekamen uns nicht so oft zu Gesicht, auch am meinem Geburtstag spielte er mal wieder Räuber und Gendarm. So war ich recht erfreut, als er mein Geschäft beehrte

      „Ja, Hallo! Du lebst noch?“

      „Grüß dich, Felix. Hast du mit meiner Frau gesprochen? Die hat mich heute das Gleiche gefragt.“

      „Wann du es geschafft haben solltest, zwei Kinder in die Welt zu setzen, ist mir auch ein Rätsel. Aber schön, dass du hier bist. Wie komme ich zu der Ehre? Brauchst du ein Präsent für euren Jahrestag?“

      Ein heiliger Schrecken fuhr in seine Glieder. „Au, ach weh, den hätte ich glatt verpasst, hast du was für mich?“

      „Wie wäre es mit dieser Biedermeier-Kommode hier?“

      Ich deutete auf ein Möbelstück. „Ich hab nix ausgefressen, also darf es schon was Preiswertes sein. Ich bin Familienvater und kein Lottomillionär.“ Nach kurzer Suche fand er etwas Passendes, es war eine kleine Schmuckdose mit einer Spieluhr im Deckel. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ...“ erklang beim Öffnen der Dose.

      „Deine Frau wird stolz auf dich sein“, lobte ich ihn. „Aber noch mal von vorne, was wolltest du denn eigentlich von mir?“

      Er zog einen faustgroßen Gegenstand aus seiner Jackentasche, der in ein Stofftuch gehüllt war. „Wir haben letzte Nacht einen kleinen Dealer hochgenommen. Er hatte das hier dabei.“ Er legte es auf die Theke und begann es auszuwickeln. Es war ein faustgroßer Skarabäus aus einem grünlich schimmernden Stein.

      „Der kleine Ganove behauptet, das wäre ein fabrikneues Souvenir aus Ägypten. Aber der sieht reichlich alt aus. Mich würde interessieren, was du meinst. Wenn seine Behauptung stimmt, würde ich mich recht blamiert fühlen.“ Ich hatte nie mit ägyptischen Antiquitäten gehandelt. Teilweise war es strafbar und das meiste war sowieso im Besitz von Museen. Aber dieser Skarabäus war interessant. Ich hatte von meinem Vater ein paar Hieroglyphen zu entziffern gelernt. Ich nahm den Skarabäus mit dem Tuch in die Hand und betrachtete ihn von oben und den Seiten.

      „Solche Skarabäen waren Glücksbringer und oft auch Propaganda in Stein. Die Pharaonen haben oft Hunderte Skarabäen fertigen lassen, immer mit gleichem Text, um ihre Taten im Land bekannt zu machen.“

      „So 'ne Art Bild-Zeitung vielleicht?“, versuchte er zu verstehen.

      „Ja, so ähnlich, aber mit gewichtigerem Inhalt. Betrachten wir uns mal die Unterseite.“

      Der Skarabäus ruhte die ganze Zeit auf dem Tuch in meiner Hand. Jetzt wollte ich ihn mit der anderen Hand umdrehen und berührte ihn direkt. Wie ein Blitz durchfuhr es mich schlagartig, und meine Hand krampfte sich um den Skarabäus. Ich sah plötzlich Bilder vor mir, die binnen Sekunden auf mich einstürzten. Als wenn jemand ein Fenster öffnet und sofort wieder schließt; bevor man verstand, was man gesehen hatte, war es wieder verschwunden. Aber es waren Tausende Bilder, ich hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Ich hörte Stimmen, die wie von weit her zu mir sprachen, ohne dass ich sie verstand. Ich taumelte und griff mir ans Herz, das wild zu rasen begann. Ich fand Halt an der Theke, gleichzeitig war Peter zur Stelle, um mich aufzufangen.

      So schnell, wie es kam, war es wieder vorbei. „Was ist mit dir? Soll ich einen Arzt holen?“ Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben.

      „Nein, nichts“, log ich. „Nur ein paar Kreislauf-Probleme, ich kann nachts in dieser Hitze nicht richtig schlafen. Außerdem müsste ich mehr trinken.“ Ich hatte mich etwas gesammelt, um ihm wieder zu antworten.

      „Junge, Junge, Felix, ich hab schon gedacht, mein Erster-Hilfe-Schein kommt zum Einsatz. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“

      „Thutmosis, der Dritte!“, stammelte ich.

      „Was?“

      „Thutmosis, der Dritte! Der Skarabäus ist echt!“

      Peter blickte mich entgeistert an. „Du hast ihn ja kaum angeschaut!“ Erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Stein noch in der Hand hielt; sie zitterte etwas. Ich zeigte ihm ein Zeichen, das von einem ovalen Ring umgeben war.

      „Das ist eine Kartusche. Darin ist der Name des Pharaos eingraviert.“ Innerhalb der Kartusche war das Zeichen einer Scheibe mit einem Punkt in der Mitte, ein Käfer und eine Art Spielbrett zu sehen. „Der Skarabäus ist etwa 1450 vor Christus hergestellt.“

      „Felix, du bist ein Phänomen. Erst fällst du mir halb tot in den Arm, dann bestimmst du mit einem Blick das Alter von diesem Stein. Aber ich danke dir. Jetzt müssen unsere Profis ran.“ Er nahm mir den Skarabäus aus der Hand und wickelte ihn wieder in das Tuch ein. „Aber trink mal 'nen Eimer Wasser. Du siehst immer noch etwas blass aus.“ Er legte mir zum Abschied den Arm um die Schulter und verließ mich.

      Ich ging erstmal hinter dem Haus in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Jetzt erst bemerkte ich, dass meine rechte Hand schmerzte. Ein paar der Hieroglyphen waren noch als Abdruck zu sehen. Sie hoben sich weiß ab gegen die restliche Handinnenfläche, die rot war und wie Feuer brannte. Wie eine lang vergessene Erinnerung hörte ich eine Stimme, die wie von weit her zu kommen schien. Aber unbewusst sprach ich die Worte nach, die sich in meinem Kopf breitmachten:

      „Hört die Worte des Thutmosis: Groß ist Amun-Re, er hat mich zu seinem Pharao gemacht. Die Ketzer sind besiegt!“ Ich hatte die Hieroglyphen kaum gesehen, geschweige denn entziffert. Woher kannte ich den Text? Ich wusste es nicht und war froh, dass mir niemand in diesem Moment diese Frage stellte. Ich spürte immer noch ein Stechen in der Brust. Da ich alleine war, öffnete ich mein Hemd, um Luft zu bekommen. Als ich an mir herabsah, fiel mein Blick auf mein Muttermal auf der linken Brust.

      Seit meiner Geburt war es dort vorhanden, aber relativ blass und unscheinbar. Es hatte mir nie Probleme bereitet, aber jetzt brannte es wie meine Hand und war feuerrot. Es war vielleicht so groß wie ein Euro-Stück. Wie die Beine eines Käfers liefen einige Adern aus seinem fast kreisrunden Zentrum. Erst in dieser Situation