Der Traumapfel. Cordula Hamann

Читать онлайн.
Название Der Traumapfel
Автор произведения Cordula Hamann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847666165



Скачать книгу

bei ihnen ist mehr als zufriedenstellend. Für ihn gibt es überhaupt keinen Grund, es aufzugeben. Es liegt alles nur daran, dass Vater nicht mehr lebt. Er hätte niemals so eine merkwürdige Entscheidung getroffen oder eine solche seiner Frau geduldet. Er ist streng gewesen, sicher. Steven denkt an die Auseinandersetzungen, die es mit seinem Vater gegeben hat, als er selbst älter geworden ist. Aber für ihn ist Vater trotz seiner Strenge immer berechenbar gewesen. Er hat seine Meinungen und Handlungen stets einschätzen können. Und das ist etwas, das er sehr schätzt. Selbst, wenn es sich hierbei um eine andere Lebenseinstellung oder Meinung handelt. Aber er mag kein Rätselraten, was sich wohl in der Psyche eines anderen Menschen abspiele. Wenn seine Mutter weg will, ihnen das mit einem merkwürdigen Abschiedsbrief mitteilt, nun gut, soll sie doch. Er würde ihr schon zu gegebener Zeit unmissverständlich mitteilen, was er von einem solchen Verhalten hält.

      Kapitel 7 (Mittwoch, 15. Juni 1988)

      Beatrice steht früh auf. Sie hat gut geschlafen und fühlt sich stark. Weil sie nicht weiß, wann sie heute das nächste Mal etwas zu essen bekommen wird, frühstückt sie reichlich. Um 10 Uhr kommt das Taxi, um sie zum Flughafen zu bringen. Sie überlegt kurz, ob sie den Fahrer bitten soll, vorher einmal durch das Zentrum der Stadt zu fahren. Zeit genug haben sie. Aber dann denkt sie an die eher enttäuschenden Eindrücke von gestern Abend. Nein, sie ist gar nicht undankbar, dass sie Caracas schnell wieder verlassen muss.

      Wenn sie früher den Entschluss zu dieser Reise gefasst hätte, als sie jünger war, dann wäre das Interesse an der Stadt groß genug gewesen, diesen Umweg zu machen. Aber jetzt will sie an ihr eigentliches Ziel kommen, das so ganz anders sein wird als diese lärmende Großstadt.

      Ihr kommen die Gedanken vom Vorabend im Hotelzimmer wieder ins Gedächtnis und beunruhigen sie. Um sich abzulenken, sieht sie aus dem Fenster. Doch es ist nicht viel anderes zu entdecken, als sie bereits bei ihrer Ankunft gesehen hat und das zeigt im Hellen kein schöneres Bild. Das Taxi verlässt die Stadt und fährt die Autobahn hinunter zur Küste, wo sich der Flughafen befindet. Der Fahrer ist gesprächiger als der von gestern Abend und erzählt von der Stadt, die ständig anwächst, über ihre Probleme und über seine eigene familiäre und finanzielle Situation. Er fragt, warum sie als „nicht mehr sehr junge Frau“, wie er sich vorsichtig ausdrückt, allein in Venezuela unterwegs sei. Ob sie denn Familie in Ciudad Bolívar habe. Sie bejaht die Frage, denn sie hat keine Lust, ihm die ungewöhnlichen Gründe für ihre Reise zu erklären. Der Taxifahrer scheint beruhigt und trägt ihr die Tasche bis zum Schalter. Beatrice belohnt ihn mit einem reichlichen Trinkgeld und verabschiedet sich dankbar. Dieses Mal muss sie nicht lange anstehen, denn es handelt sich um einen Inlandsflug.

      Wieder sitzt sie im Flugzeug. Sie ist in ihrem Leben niemals so oft hintereinander geflogen wie auf dieser Reise. Und es ist noch nicht der letzte Flug. Sie hat einen Fensterplatz bekommen. Es ist zwar keine dichte Wolkendecke, über die sie fliegen, aber dennoch schränken große Wolkengebilde die Sicht immer wieder ein. Außerdem fliegen sie inzwischen in einer solchen Höhe, dass die Welt dort unten eher wie ein Blick auf die Landkarte aussieht, als dass man konkret etwas erkennen kann.

      Sie erinnert sich an ihren Vorsatz, sich über einiges klar zu werden, auch wenn das Ergebnis sie vielleicht nicht begeistert. Noch fast eine halbe Stunde bleibt bis zur Landung in Ciudad Bolívar und diese Zeit will sie nutzen, wie sie beschlossen hat, jede Minute bis zu ihrem Lebensende auszukosten. Deshalb zwingt sie sich, die Gedanken von gestern Abend wieder aufzunehmen.

      Besonders unangenehm ist ihr die Vorstellung, sie könnte Paul nur deshalb so geliebt haben, weil er ihr die Erfüllung ihre Träume möglich machen konnte. Hatte sie ihn denn wirklich als Krücke benutzt, als Hilfe für Dinge, die sie allein nicht hätte bewältigen können? Das kann nicht sein. Sie erinnert sich noch zu genau an das Gefühl, wenn sie bei ihm war. Diese Wärme, die durch ihren ganzen Körper floss und ihre Seele ebenfalls erwärmte. An die Sehnsucht, wenn er nicht da war. An die Vorfreude und die Erwartung vor einem Treffen mit ihm und an das Gefühl, wenn sich ihre Körper zusammenfanden und sie sich gegenseitig höchste Erfüllung schenkten.

      Hat sie jemals so für Tom empfunden? Nein! Aber sie hätte solche Gefühle auch nicht zugelassen. Tom bedeutete Zufriedenheit, Sicherheit und Geborgenheit. Mit ihm gab es keine heißen Streitgespräche, kein Auf und Ab der Gefühle. Mit ihm gab es nur Beständigkeit. Tötet Beständigkeit die Leidenschaft? Obwohl, auch bei Paul empfand sie Beständigkeit. Niemals hätte sie daran gedacht, dass ihre Beziehung eines Tages zu Ende gehen könnte. Bei allen Tiefen und Höhen ist die Tatsache, dass sie zusammengehörten, zu keiner Zeit in Frage gestellt worden, von ihr nicht und von Paul nicht.

      In den 70iger Jahren, als die Hippie-Bewegung neue Lebensformen suchte, fiel auch ihr ein Buch in die Hände, das sich mit dem Thema Liebe beschäftigte. Grundlage für alle zwischenmenschlichen Beziehungen sei die Liebe zu sich selbst. Ohne sie sei eine wahre Liebe zu einem anderen Menschen nicht möglich. Hat sie sich je selbst geliebt?

      Konnte man sich lieben, wenn man für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich ist? Sie ist stets unzufrieden mit sich selbst gewesen, außer in der Zeit an der Universität, der Zeit mit Paul. Da fand sie Erfüllung. Wie oft ist sie neidisch auf andere Menschen gewesen, die scheinbar in sich ruhten? Die alles, was das Leben mit sich brachte, hinnahmen und sich damit arrangierten. Die meisten von ihnen haben resigniert, lebten angepasst und genügsam.

      Aber es gibt auch welche, bei denen das nicht der Grund für ihre Ruhe ist. Sie denkt an ihre beste Freundin zu Hause. Sie ist ein solcher Mensch. Die vielen Gespräche mit ihr waren mit schuld daran, dass Beatrice endlich den Entschluss zu dieser Reise gefasst hat. Durch ihre Freundin hat sie gelernt, dass es einen Unterschied macht, in Resignation die Dinge des Lebens hinzunehmen oder aber sie aktiv und bewusst in die eigene Lebensplanung zu integrieren. Und auch die Redewendung „Lieber spät als nie“ hat durch die Freundin eine ganz andere Bedeutung bekommen.

      Das Flugzeug verliert langsam an Flughöhe. Beatrice sieht wieder aus dem Fenster. Noch fliegen sie über den Wolken. Aber zwischen ihnen kann sie die Welt dort unten bereits etwas genauer sehen. Allerdings besteht diese nur aus einem einheitlichen Grün. Der Urwald, ihr Ziel! Ab und zu wird er unterbrochen von den zahlreichen kleinen Flüssen und dem Orinoko, der in einem riesigen Delta nordöstlich von Ciudad Bolívar in den Atlantik mündet.

      Sie durchfliegen einige Wolken und nun liegt ihnen die Stadt zu Füßen: eine kleinere Stadt als Charlotte, dieses Ciudad Bolívar mit ca. 250.000 Einwohnern. Aber ein wichtiger touristischer Ort. Er ist der Ausgangspunkt zu allen weiteren Fahrten und Flügen in den undurchdringlich erscheinenden Dschungel, der im Süden beginnenden Gran Sabana oder in das Orinokodelta.

      Wenige Minuten später landet das Flugzeug, rollt in Richtung Gebäude und kommt zum Stillstand. Beatrice beobachtet ihre Mitreisenden. Es sind zwei völlig unterschiedliche Gruppen von Menschen. Mit Anzügen und Krawatte bekleidete Venezoelaner, unter ihnen auch einige ausländische Geschäftsleute, während die übrigen Reisenden Touristen sind; leger gekleidet und statt mit Aktenkoffern mit Rucksäcken, Schlafsäcken und ähnlichem Gepäck beladen. Ihr Gesichtsausdruck ist bewegt und sie scheinen gespannt auf die Urlaubsabenteuer zu sein, die vor ihnen liegen. Im Gegensatz dazu zeigen die Mienen der Geschäftsleute, die in der Stadt oder in der Nachbarstadt Puerto Ordaz, einem Industriezentrum, zu tun haben, eher Langeweile.

      Geduldig wartet Beatrice, bis sie das Flugzeug über die angestellte Treppe verlassen kann. Als sie an der Tür anlangt, kommt es ihr vor, als schlüge man ihr mit einem Brett vor den Kopf. Die Luftfeuchtigkeit ist um ein Vielfaches höher als in Caracas und ebenso die Temperatur. Ihr wird schwindlig durch die schwere Luft, die gepaart mit der gleißenden Sonne des Vormittags das Atmen zur Qual und das Sehen ohne Sonnenbrille unmöglich macht.

      Alle Reisenden beeilen sich, den kurzen Weg über die Landebahn zum Flughafengebäude hinter sich zu bringen, um in den kühleren, dunkleren Raum des kleinen Gebäudes einzutauchen, das mit zahlreichen Ventilatoren ausgestattet ist.

      Beatrice folgt den zielstrebig zum Transportband des Gepäcks eilenden Reisenden. Durch die Glastür sieht sie eine Gruppe wartender Mitarbeiter der verschiedenen Reiseagenturen mit hochgehobenen Schildern, die die Namen der erwarteten Urlauber tragen. Ihren Namen gibt es