ORGANE. Hannes Wildecker

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Название ORGANE
Автор произведения Hannes Wildecker
Жанр Языкознание
Серия Tatort Hunsrück
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748592051



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meinst du?“ Leni war in Gedanken schon bei der Leiche und hatte ihre Frage bereits vergessen.

      „Ich sagte, ich habe nicht nur Höhenangst, ich habe auch Platzangst und ich mache mir jetzt bereits schon Gedanken, wie ich wieder in den verdammten Korb hineinkomme, ohne daran vorbei in die Tiefe zu fallen.“

      Peters hatte sich einen ersten Eindruck von der Leiche verschafft und begann, die Umgebung abzusuchen.

      „Der Arzt kann sich Zeit lassen“, bemerkte er trocken, während er in kurzen Schritten langsam Zentimeter für Zentimeter des Plateaubodens absuchte.

      „Und? Was ist?“ Ich versuchte, mich aufzurichten, setzte mich jedoch gleich wieder hin.

      „Es ist ein Mann“, sagte er, während er weitersuchte. „Schätzungsweise zwischen dreißig und vierzig. Dunkle Haut und die Gesichtszüge deuten auf einen Nichtdeutschen hin. Vorderer Orient vielleicht, Türke, Araber, Israeli, wer weiß? Vielleicht aber auch Deutscher mit Migranten – Hintergrund.“

      Peters bückte sich und nahm etwas vom Boden auf. Er drehte einen kleinen Gegenstand zwischen seinen Fingern und betrachtete ihn intensiv, um ihn anschließend in einem kleinen Plastikbeutel verschwinden zu lassen.

      „So, ich glaube, Ihr könnt jetzt herkommen, Ihr beiden. Ich bin mir sicher, da kommt eine Menge Arbeit auf euch zu.

      Es war ein äußerst makabrer Anblick, der mich und Leni dort erwartete. Er war schockierend und Gänsehaut vermittelnd zugleich.

      Vor uns lag auf dem blanken Felsen eine nackte männliche Person in einer Art, als habe man sie dort aufgebahrt. Der Mann war zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, das sahen Leni und ich ebenso wie Peters. Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme lagen an den Körperseiten, die Augen waren geschlossen, aber das, wonach wir suchten, war nicht vorhanden. Blut! Es war kein Blut vorhanden, trotz einer riesigen klaffenden Wunde, die sich über den gesamten Brustbereich ausbreitete. Es war eigentlich keine Wunde, da war vielmehr ein riesiges Loch, genau an der Stelle, wo sich das Herz normalerweise befindet. Befand, war der richtige Ausdruck. Da war kein Herz. Da war nur ein Loch, ein großes Loch.

      „Das Herz fehlt!“ Leni schluckte und sah mich an. „Heiner, dem hat jemand das Herz aus der Brust gerissen.“

      „Das sehe ich anders“, ließ sich Peters, der hinter uns stand, vernehmen. „Die Rippen sind aufgeschnitten und auch sonst sieht die Sache für mich nach fachlicher Arbeit aus.“

      Am Rande des Felsenplateaus schepperte es. Bresser und der Arzt waren mit dem Korb der Drehleiter angekommen und kurz darauf stand Dr. Nikolaus Grothe vor uns.

      „Das mit dem Notarzt wird heute nichts“, sagte Grothe. „Ist noch anderweitig unterwegs. Der Krankenwagen steht unten.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Feuerwehrleiter.

      „Glaube kaum, dass der Wagen noch hier gebraucht wird.“ Ich zeigte auf den Toten und Grothe begann mit der Untersuchung.

      „Das Herz ist fachmännisch herausgetrennt worden.“ Grothe, der sich ein Paar Einweg-Gummihandschuhe übergestreift hatte, griff vorsichtig in die Wunde und schien etwas zu suchen. Dann sah er über die Schulter nach hinten.

      „Sehen Sie her! Arterien und Venen sind alle mit einem scharfen Gegenstand durchtrennt.

      Leni und ich traten näher und mussten uns bücken, um das zu erkennen, was Grothe aus seiner Erfahrung heraus sofort gesehen hatte.

      „Die Lunge ist eingefallen, deshalb kaum zu sehen“, fuhr Grothe fort. „Andere Verletzungen kann ich nicht feststellen, jedenfalls nicht hier. Bin gespannt auf die Obduktion.“

      „Hm“, brummte er. „Leichenflecken auf der Bauchdecke, wenn auch nicht viele.“ Grothe drehte die Leiche etwas zur Seite und besah sich deren Rückseite, die mit dem Boden Kontakt hatte.

      „Das bisschen Blut, das der Mann noch im Körper hatte, hat sich hier hinten angesammelt“. Er wies auf die dunkelroten Bereiche auf dem Rücken und dem Gesäß. „Schätze, der Mann liegt etwa zwei bis vier Tage hier. Und getötet wurde er hier auf keinen Fall. Man hat ihn später hier abgelegt“.

      „Sind Sie sicher?“ Die Frage hätte ich mir schenken können. Natürlich war er nicht hier oben getötet und ausgenommen worden.

      Grothe presste die gestreckten Finger der rechten Hand in die Rückenpartie, als wolle er sie durchbohren.

      „Wie ich es mir gedacht habe. Die Leichenflecke lassen sich nicht mehr wegdrücken. Ein Wunder eigentlich, dass die Tiere kein Interesse an ihm hatten.“

      Seiner Stimme war ein leichter Stolz zu entnehmen. „Der Mann hat auf der Bauchseite Leichenflecken und auf der Rückseite. Das heißt: Er wurde umgelagert, eindeutig. Nach Eintritt des Todes hat er auf dem Bauch gelegen. Später hat man ihn hierher transportiert und auf dem Rücken abgelegt. Daher die Blutablagerungen auf beiden Körperseiten.“

      „Das bedeutet dann ja auch, dass er kurz nach seinem Tod hierher transportiert worden sein muss. Sonst hätten sich die Totenflecken auf dem Rücken nicht mehr ausbilden können.“

      „Das sehen Sie genau richtig“, sagte Grothe und verstaute seine Utensilien wieder in seiner Arzttasche. „Diese Totenflecken entstehen meist 20 bis 60 Minuten nach dem Todeseintritt.

      Sie entstehen durch Absinken des Blutes in tiefer gelegene Teile einer Leiche. Logisch, das Blut folgt der Gravitation.“

      Grothe hatte sich nun in einen Fachvortrag hineingeredet und ich ließ ihn gewähren. Wir konnten hier sowieso nicht ohne die Drehleiter wieder hinunter.

      „Bis zu sechs Stunden nach dem Todeseintritt lassen sich die Totenflecke umlagern, so wie es im vorliegenden Fall geschehen ist. Durch die Veränderung der Position der Leiche verlagerten sich auch die Totenflecken. Bis zu zwölf Stunden nach Todeseintritt sind die Flecken zumindest teilweise noch wegdrückbar, da ein Teil des Blutes innerhalb der Adern noch beweglich ist.“

      Dr. Grothe hatte nun seinen Vortrag beendet und sah uns, Anerkennung suchend, aus seiner hockenden Position an.

      „Da liegt ein Tuch neben der Leiche“, ließ sich Peters vernehmen, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte. „Ich vermute, die Leiche war damit zugedeckt. Vorsicht, ist vielleicht ein Spurenträger. Ich werde sie mit ins Labor nehmen.“

      Es war ein schwarzes Tuch oder besser gesagt eine schwarze Decke, einfarbig, ohne jegliches Motiv oder Ornament, die vom Hals abwärts bis zu den Zehen neben dem Toten lag, so, als habe dieser sie zur Seite geschlagen, wie ein Lebender das tut, wenn es ihm zu warm wird.

      „Nicht anfassen bitte!“ Die Stimme Peters hatte sich erhoben, als er den ausgestreckten Arm von Dr. Grothe sah. „Doktor, Sie haben Ihre Arbeit sicherlich getan. Ich glaube, es wird Zeit für die polizeilichen Ermittlungen.“

      „Schon gut, schon gut.“ Grothe erhob sich und klemmte den Arztkoffer unter seinen rechten Arm.

      „Dann machen Sie mal Ihre Arbeit. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei. Den Totenschein können Sie in meiner Praxis abholen lassen.“

      Grothe begab sich zum Rand des Felsens und sah hinunter. Es kam ihm vor, als stünde er in einer Höhe von 100 Metern über dem Erdboden. Unten unterhielten sich die Feuerwehrleute, doch niemand sah hinauf, dem er hätte ein Zeichen geben können.

      „Sie müssen schon warten, bis wir mit nach unten fahren“, rief ich Grothe zu, der wohl der Meinung war, man würde den Korb wegen ihm alleine nach oben schicken.

      „Was meinst du, Heiner? Das Tuch dort, oder die Decke, wie auch immer, die hat doch eine Bewandtnis? Glaubst du, sie diente dazu, den Toten zuzudecken?“

      „Warum sollte man hier oben einen Toten zudecken, den niemand sehen kann? Aus Pietät? Pah! Kannst du vergessen. Vielleicht hat man die Decke benutzt um den Toten hier heraufzuschaffen. Und dann hat man sie einfach hier liegenlassen.“

      „Auf die Gefahr hin, dass sie für uns ein Spurenträger sein könne?“

      „Das Labor