Todesrot. Jannik Winter

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Название Todesrot
Автор произведения Jannik Winter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742724380



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Anfang, beruhigend über vor Aufregung gerötete Wangen zu streicheln. Das ließ sie geschehen. Dabei wollte er sie nicht bedauern, auch keinen Trost spenden. Insgeheim bewunderte er die Strenge ihrer Mutter. Die hatte sie für ihn geformt und bis vor die Haustür geliefert. Eine gehorsame Geliebte hatte er sich in der Jugend immer gewünscht. Das stand nun kurz vor der Erfüllung!

      So, das hatte sie von ihrer Zickigkeit!

      Ist der Rückblick auf ein verpfuschtes Projekt von Bedeutung? Er sollte besser zur nächsten Aufgabe übergehen. Es ist verlockend, schon an eine Folgekandidatin zu denken. Er weiß, wo er suchen muss.

      Wie in einer dichten Traube standen sie um ihn herum. Er sah überwiegend Schülerinnen und junge Studentinnen, die den Professor nach der Vorlesung ansprachen. Sie stellten Fragen und täuschten Interesse vor. Einige drängelten, rangen um Aufmerksamkeit. Sein Charisma und eine bemerkenswerte Ausstrahlung schwebten über der Szene. Er spielte mit Gesten, benutzt Arme, Beine und Mimik. Fasziniert hingen sie ihm an den Lippen. Eine Schülerin schüttelte ihm die Hand, sah ihm in die Augen. Sie schien geeignet. Aus sicherer Entfernung konnte er abwarten, später entscheiden.

      Bislang hatte jede dieser Stunden einen Treffer erzielt. Fünf waren hübsch, drei zusätzlich schwärmerisch, aber nur eine genügend lenkbar. Sein Blick verweilte auf dem jungen Mädchen mit dem Handschlag und dem dankbaren Gesichtsausdruck.

      Sie wird es!

      Er durfte sie nicht aus den Augen verlieren, benutzte den Fahrstuhl. Als sie an ihm vorbeischlenderte, sog er ihren Duft ein. Ohne Hast folgte er, kam bis auf einen halben Meter an sie heran. Er roch an ihrem Haar, den blonden Zöpfen, die wie bei Julija Tymoschenko zu einem Haarkranz gebunden waren. Der lange Rock, der Knöchel erahnen ließ, musste von der Großmutter vererbt worden sein. Perfekt!

      Diese Kleidung hat ein schwarzer Müllsack aufgenommen, der von der Strömung zur Flussmitte getragen wird. Das Gewicht der Steine drückt blubbernd Luft durch die Löcher. Als er samt Inhalt untergeht, tanzen Blasen an die Oberfläche. Wird er gefunden? Sicherlich nicht. Sie schon!

      Es wird der vorletzte Akt in dem Schauspiel. Das Wasser ist an dieser Stelle so klar, dass er ihr Abtauchen längere Zeit genießen könnte. Leider ist die Strömung zu stark. So verschwindet ihr rot-weißer Schimmer hinter dem nächsten Weidenbaum des Naturschutzgebietes. Es soll der perfekte Schock werden: ein nacktes Mädchen, erschlagen, Jungfrau. Die Rosenblüte im Mund eröffnet ein Feld für Spekulationen.

      Auch den finalen Akt wird er genießen. In seinen aufgewühlten Gedanken vermischen sich Zeilen der Lieder. Es hört sich kreativ an, sie damit auf ihre letzte Reise zu schicken.

       Röslein ade! Scheiden tut weh!

      Zunächst wird sie tiefer sinken und am Grund weitertreiben. Hoch kommt sie erst, wenn Fäulnisgase ihr ausreichend Auftrieb verliehen haben. Zu dem Zeitpunkt ist diese Stelle am Flussufer längst bereinigt. Die Natur tilgt verdächtige Spuren, wäscht Blut hinweg. Röslein wird nicht mehr schön aussehen, sondern anders.

      Es wäre sein brennender Wunsch, ihre Entdeckung miterleben zu dürfen. Dann könnte er die Unterschiede bewundern, vorher und nachher! Das Verblassen der Töne aus Lippen und Augen ist ein faszinierendes Phänomen. Wie viele Tage treibt sie im Fluss? Für einen Künstler sind Farben wichtig. Grau, blaugrau? Es müsste eine Prise Grün mit hineingemischt werden, denn Algenbildung spielt in der Natur eine große Rolle.

      Tiere? Nein, Krabbel- und Kriechwesen wird er auslassen, er ist nicht Hieronymus Bosch. Eher schon Miro! Der konnte das mit den Farben. Es ist nicht nötig, den Originalton zu treffen, auf die Wirkung kommt es an. Grün steht ihr! Ein Mädchen, das von den Flussgöttern geküsst wurde. Aus ihr sollte ohne sein Zutun ein neuartiges Kunstwerk entstehen.

      Jetzt heißt es, diesen Fall hier am Fluss abzuschließen! Dafür darf er sich entspannt auf die kommenden Nachrichten und Spekulationen freuen. Es könnte in einigen Tagen noch einmal amüsant werden. Ein Drama muss mit dem Applaus des Publikums enden! Er kann zielstrebig in die Zukunft blicken. Unzählige Geeignete warten auf ihn.

      »Ich suche mir ein Mädchen, das mich verdient hat.«

       Niemals

      Handschellen? Haben Kommissare die in der Jackentasche? Oder Kabelbinder? So modern ist er nicht, der bleibt bei Stahl.

      »Hatten Sie ein Verhältnis mit Johanna Bora?« Mit dieser Frage geht Heinzinger mir wiederholt auf die Nerven. Es ist kein Verhör, sondern eine Zeugenbefragung. Daher muss ich noch nicht einmal antworten. Auf meiner Stirn steht jedoch ›Sozial‹ in großen Buchstaben und somit ist Helfen angesagt.

      »Nein, hatte ich nicht.« Den Satz musste ich schon zweimal herausschreien.

      »Wie erklären Sie sich dann, dass Sie in Ihrem Schreibtisch einen Zeitungsausschnitt aufbewahrte. Auf dem haben wir zahlreiche Kussabdrücke gefunden! Die waren auf einem Bild von Ihnen! Johanna Bora hat mehrfach ihren Mund auf Ihr Zeitungsbild gedrückt!«

      »Oh!« Mehr fällt mir dazu nicht ein.

      Heinzinger ist der Meinung, die Wahrheit erkennen zu können, wenn er mir scharf in die Augen sieht. »Ja, mit ›Oh!‹ drücken Sie genau das aus, was wir in dem Moment auch dachten.«

      Bin ich jetzt stolz darauf, eine solche Wirkung auf Mädchen auszustrahlen? Es gibt eine Erklärung, ich bin ein überzeugender Redner!

      »Sie sind in mich vernarrt, weil ich ein hervorragender Dozent bin. Sie verehren meine Vorträge und die Didaktik, die dahintersteckt. Sie lieben die aufregenden Blicke, mit denen ich sie fixiere. Junge Frauen kommen am Schluss der Vorlesung zu mir und stecken mir Zettel mit Telefonnummern zu. Einige wollen von mir private Nachhilfe, andere fragen nach dem Sportverein und wo ich jogge. Prinzipiell lehne ich Beziehungen zu Studentinnen ab. Falls Sie es noch nicht wissen, ich bin glücklich verheiratet. Wenn ich ein Verhältnis haben wollte, würde ich mir niemals eine siebzehnjährige Schülerin aussuchen.«

      Heinzinger brummelt: »Warum eigentlich nicht?« Er ist erst still, als er böse Blicke erntet. Hauff nickt verstehend, wobei mir unklar ist, was er kapiert haben will.

      »Aber sie kannten Johanna Bora näher?« Der Kommissar gibt nicht auf. »Näher, was wollen Sie damit sagen? Meinetwegen, wenn Sie das so interpretieren, verflixt noch mal! Genau nach der besagten Schnupperstunde kam sie zu mir ans Pult. Dort wartete sie geduldig, bis ich mit einer Runde von fünf Frauen und drei Männern durch war. Die hatten Fragen zum Studium gestellt. Zwei Telefonnummern durfte ich bereits einkassieren. Sie könnten sie zerrissen im Abfalleimer des Hörsaals finden, wenn der nicht täglich geleert würde. Johanna Bora kam zu mir und drückte meine Hand. ›Sie haben mir die Augen geöffnet, aber mich nicht abgeschreckt, sondern gut auf die Realität vorbereitet. Ich muss mir Alternativen überlegen. Danke Herr Professor Adelmann!‹ Dabei hat sie so eigenartig gelächelt. Den Blick konnte ich nicht einordnen. Doch, es wirkte verzückt. Ja, verzückt ist der richtige Ausdruck und deswegen erinnere ich mich an sie. Diese Johanna Bora war ihrem Alter weit voraus. Gleichzeitig berührte ihre Naivität. Von den Mädchen, die mir ihre Telefonnummern zugesteckt haben, sind die Gesichter längst vergessen.«

      »Was ist denn mit Johanna Boras Telefonnummer passiert?« Heinzinger muss von Beruf ein solches Arschloch sein, daher nehme ich es ihm nicht übel.

      »Sie hat mir keine gegeben, sondern wollte von mir wissen, ob Musiktherapeutin oder Klangtherapeutin in Kombination mit dem Studium vorstellbar wäre. Mit dieser Frage habe ich sie an die Kollegen des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie verwiesen. Dafür hat sie sich artig bedankt. Sie hätte noch ein Jahr Zeit und würde in Ruhe ihre Möglichkeiten bewerten. Ein gewissenhaftes und ernsthaftes Mädchen und ich wünschte mir, unsere Tochter besäße einige ihrer Qualitäten. In ihrem Gesicht lag so ein unschuldiger Blick. Ich hatte Zweifel, ob sie für den Beruf geeignet wäre. Ich gebe zu, ich fand sie bemerkenswert. Auf ihre Art! Sie beeindruckte durch große dunkle Augen, die zu ihrem weißen Teint passten, dazu diese transparent wirkende helle Haut. Ihre vollen Lippen faszinierten auch. Es war ein abstechendes Rot ohne Lippenstift, nur durch perfekte Durchblutung erzeugt. Erinnern kann ich mich, dass ich ihr hinterhergesehen habe, weil ihre Kleidung besonders