Die schönste Brücke der Verständigung. Helmut Lauschke

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Название Die schönste Brücke der Verständigung
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738094909



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dir die Daumen, wie ich es immer vor deinen Konzerten getan habe.” Boris: “Vielen Dank, Mutter, und auch dir eine gute Nacht.”

      Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe hinunter, die an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in der russischen Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum.

      Die junge Polin schaute ihn aus ihren wunderschönen großen, dunklen Augen an: “Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?” Das fragte sie in einem fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll an. Boris: “Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt ansprechen kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.” Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur vollen Geltung kam: “Vera ist mein Name.” Boris: “Vielen Dank. Fräulein Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.” Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: “Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.” Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: “Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.” Boris: “Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert intensiv vorbereiten.” Vera: “Seit einem Jahr steht hier ein neuer Konzertflügel im Musiksaal. Ich werde Sie zum Flügel hinführen.” Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als namhafter Pianist mit internationalem Renommee beschrieben.” Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog.

      Vera: “Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.” Boris: “Ja, das bin ich.” Vera: “Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.” Boris: “Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit zu finden.” Vera: “Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns normale Menschen ist und bleibt es der große Traum.” Boris: “Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch voraus, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.” Vera: “Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück das Hotel verlassen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er besser nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.” Boris: “Ich verstehe, was Sie sagen. Doch das sind doch die Ausnahmen.” Vera: “Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.”

      Vera öffnete die hohe Flügeltür: “Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.” Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen. Vera: “Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor den hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau ihr Leben verloren haben.” Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen waren. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: “Da ist er, den Sie suchen.” Boris setzte sich an den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes op.28’, das ‘Agitato’ in C-Dur und das ‘Lento’ in a-Moll von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Jackentasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das ‘Vivace’ in G-Dur und das ‘Largo’ in e-Moll spielte. Vera: “Sie spielen wunderbar; wie ein Engel spielen Sie.” Boris: “Schön wär’s, wenn ich wie ein Engel spielen könnte.” Vera trieb die Unruhe, weil sie ihren Dienst an der Rezeption zu verrichten hatte. “Ich muss zurück zur Rezeption. Wie gerne hätte ich ihnen weiter zugehört.” Boris: “Kann ich hier bleiben und spielen, ohne dass ich jemanden störe?” Vera: “Das können sie, Boris Baródin. Sie können hier spielen, so lange Sie wollen. Aber was ist mit dem Abendessen. Wollen Sie sich nicht vorher etwas stärken?” Boris: “Vera, ich will spielen. Das ist mein Bedürfnis. Mein Appetit ist nicht so groß. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bringen Sie mir in einer Stunde etwa ein Tablett mit Tee und etwas zu essen.” Vera: “Das bedeutet Nachtschicht für mich. Aber für Sie, den spielenden Engel auf dem Steinway tue ich das gern.”

      Vera verließ den Musiksaal und schloss die hohe Flügeltür leise hinter sich. Sie stand noch einen Augenblick an der Tür und lauschte seinem Spiel des ersten Satzes aus dem zweiten Brahms-Konzert. Dass sie dabei sein Taschentuch in der Hand hielt, merkte sie erst an der Rezeption, als sie es aus der Hand legte, um ein Telefonat zu tätigen. Sein Spiel hatte sie aus der Fassung gebracht, hatte sie “umgeworfen”. Als ein Gast an der Rezeption aufgrund ihrer “Abwesenheit” fragte, ob ihr nicht wohl sei, bemerkte Vera, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war, sondern bei Boris Baródin war, dem jungen und schon so berühmten Pianisten aus Berlin. Er hatte sie völlig in Beschlag genommen, hatte sie erobert, ob er es wollte oder nicht.

      Boris spielte Brahms und war mit seinem Spiel zufrieden. Es war Vera, die mit einem Tablett den Musiksaal betrat, um ihm den Tee und die Spezialität des Tages, eine gespickte Gänsebrust mit Bratkartoffeln und Rotkohl zu bringen. Sie stellte das volle Tablett auf einen Stuhl und goss Tee in die Tasse, als Boris beim Blick auf seine Swatch, die er ausgezogen und links neben die Tastatur gelegt hatte, erschrak, weil es kurz vor Mitternacht war und sich der Mahnung seiner Mutter erinnerte, sich aus gesundheitlichen Gründen noch zu schonen. Vera: “Sie kennen wohl gar keine Pause, Boris Baródin.” Boris schmunzelte: “Die kenne ich schon, Fräulein Vera. Aber ein Infekt mit einer Mandelentzündung hat mir lange genug eine Zwangspause auferlegt. Nun muss ich nachholen, was ich versäumt habe. Und Sie wissen es so gut wie ich, dass das Warschauer Publikum hohe Ansprüche an den Pianisten stellt.” Vera: “Aber Sie spielen einmalig schön. Was kann da noch ausgesetzt werden?” Boris, dem das “einmalig” gefiel, griff zum Wortspiel: “Wenn es beim zweiten Mal nicht so klappt, wie es gespielt sein soll oder beim ersten Mal gespielt wurde.” Vera lachte, während Boris vor dem Flügel saß und über Mendelssohn’s “Lieder ohne Worte” meditierte. Vera: “Wieviel Löffel Zucker nehmen Sie zum Tee?” Boris, ohne den Blick vom Flügel zu nehmen: “einen Teelöffel bitte.”

      Vera rührte den Zucker in den Tee: “Boris Baródin, nun ist eine Pause fällig, denn das Essen ist gerichtet.” Sie schob einen zweiten Stuhl für Boris vor den Stuhl mit dem Tablett und einen dritten Stuhl dazu, auf den sie sich setzte. Vera: “Ich wünsche ihnen einen guten Appetit. Sie müssen doch Hunger haben.” Boris: “Der ist nicht so groß, denn auf dem Flug von Berlin nach Warschau gab es schon das Abendessen, eine gebackene Kalbsleber mit gekochten Kartoffeln und Gemüse.”