Steinige Jagd. Thomas Jütte

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Название Steinige Jagd
Автор произведения Thomas Jütte
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754140512



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erläuterte Santu weiter, „der Riesenberg an Geschenken. Was machen wir damit? Was ist mit den Lagerkosten? Und dann noch unser Personal, die Zulieferer, die Ausfallhonorare, und nicht zuletzt, unser Tier- und Fuhrpark… Was ist damit?"

      Rooperti überlegte - zumindest tat er so. Eine direkte Antwort hatte er also nicht.

      „Stell dir einmal vor, jemand verschickt einen Hund oder eine Katze", fuhr Santu fort, „gut verpackt in einem Pappkarton."

      „Ja, schooon, aber…"

      „Was meinst du wohl, wie die Tierchen nach drei oder mehr Wochen aussehen…?", fuhr Santu unbeirrt fort.

      „Selbst, wenn sich die Sache nur zwei Wochen verzögern würde“, fuhr er fort, „dann stell‘ dir einmal vor: Das aufgeregte Kindchen packt mit großen Augen erwartungsvoll sein Geschenk aus. Und statt eines schmuseweichen Kläffers hält es plötzlich ein Steifftier in der Hand, das nie wieder bellen wird, geschweige denn mit dem Schwanz wedeln. Ein ehemaliges Tier, das nach ein paar Tagen Einzelhaft nur noch an einen makabren Scherzartikel zu Halloween erinnert. Und dann noch, brrrh, der Geruch. Ich möchte mir‘s gar nicht vorstellen…"

      „Ja, ja, ist schon gut, ich verstehe", stoppte Rooperti die plastischen Ausführungen seines Chefs. „War ja nur so ein Gedanke. Also, was schlagen Sie vor?"

      „Ganz einfach: Wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Was kaputt geht, kann auch wieder repariert werden. Und zwar von uns: WIR reparieren es!"

      Die Lösung

      Leichter gesagt als getan: Denn in seinem ganzen Stab gab es nicht einen einzigen wirklichen Spezialisten auf diesem Gebiet. Niemanden, der sich mit altertümlichen Transistoren und Kondensatoren auskannte. Es gab lediglich die unbedarften Wichtel, die aber nur für grobe Packarbeiten taugten, sowie das phlegmatische Nutz- und Zug-Getier.

      Santu seufzte: „Da bleibt mir wieder einmal nichts anderes übrig, als es selbst zu richten...“

      Nur, ohne Schaltplan, Netzliste, Blitz-Zeichnung oder Blaupause bestand von vornherein nicht die geringste Chance für eine erfolgreiche Reparatur. Was er brauchte, war zumindest eine Kopie davon.

      „Die Maschine ist schon recht alt", sinnierte Claus laut. „Ich kann mich vage daran erinnern, dass ein Schaltplan von diesem Gerät existiert. Aber wo ist der? Wo, zum Teufel, fliegt dieser Wisch rum… hmmm?!? Los, Knecht, streng auch 'mal deine grauen Zellen an! Schließlich bist du für den ganzen Schlamassel verantwortlich."

      Natürlich. Schuld sind immer die Anderen.

      Gespannt beobachtete der „Verantwortliche“ seinen grübelnden Vorgesetzten, um ihn plötzlich in seinem Brainstorming zu unterbrechen.

      „Der Plan könnte auch beim letzten, letzten… äh Vulkanausbruch verschütt‘ gegangen sein, oder?!" Rooperti war zumindest bemüht, sich konstruktiv an der Lösung des Problems zu beteiligen.

      „Vulkanwas?" Santu verdrehte die Augen. „Nee, mit Sicherheit nicht. Einen Vulkanausbruch gab's hier seit Menschengedenken nicht mehr. Wenn dir nichts Besseres einfällt, müssen den Plan eben suchen. Und zwar sofort!"

      Gesagt getan. In den nächsten Stunden glich Korvatunturi einem Ameisenhaufen. Alles was zwei, drei - selbst versehrte Tiere machten mit - oder vier Beine hatte, suchte, schnüffelte und durchstöberte jeden Winkel, kehrte Unterstes zuoberst, räumte alles, was nicht niet- und nagelfest war, von links nach rechts. Doch ohne Erfolg. Im ganzen Betrieb gab es weder Bauplan, noch Blaupause. Und erst recht keine Blitz-Zeichnung.

      „Ok, geben wir's dran", resignierte Rooperti nach stundenlanger, ermüdender Suche. „Da kann man eben nichts machen. Das ist wirklich Pech. Also, was nun? Jetzt doch packen?"

      Claus war sichtlich am Boden zerstört. Sein doppeltes Kinn, das unter der reichlichen Manneszier nur zu erahnen war, schien lang und länger zu werden. Es fehlte nicht viel, und die weiße Bartspitze würde Muster in den Staub auf den Estrich malen.

      Das darf doch wohl nicht wahr sein, grübelte der Weißbärtige. Und das KANN NICHT sein. Da muss es doch einen Ausweg geben. Mühselig durchforstete er die hintersten Winkel seiner drei Gedächtnis-Areale, so dass das Glühen seines neuronalen Netzwerkes selbst bei einer Mondfinsternis zu sehen wäre.

      „Wir haben doch den Gravitativen Zeitdilatator seinerzeit von meinem Vorgänger übernommen, stimmt‘s?", kam er zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück.

      Damit meinte er niemand Geringeres als den Nikolaus, auch Sankt Nikolaus genannt, den Mann des 6. Dezembers.

      Nikolaus, amtlich-korrekt auch Bischof Nikolaus von Myra genannt, der von seinen Anhängern auch Heiliger Nikolaus gerufen wurde, war in der Tat der erste amtliche Besitzer des besagten Zeitdilatators.

      Der Bischof lebte und wirkte um 300 nach Christi in Myra, einem kleinen Örtchen an der lykischen Küste, seinerzeit hellenistisch, dann römisch, später osmanisch und heute türkisch.

      Nikolaus wurde damals wie heute als Heiliger verehrt. Er soll den Überlieferungen zufolge sein ganzes, von seinen Eltern geerbtes Vermögen verschenkt haben.

      „Das Geld", so schilderte Santu Claus die Legende, „hatte Nikolaus einer verarmten Familie zukommen lassen, damit der Vater nicht gezwungen war, seine Töchter zur, pfui, Prostitution hergeben zu müssen. Nikolaus soll es durch den Kamin geworfen haben. Und es landete in den darin zum Trocknen aufgehängten Strümpfen."

      „Wahrscheinlich in Fishnets…", kommentierte Rooperti im Bestreben um eine geistreiche Bereicherung dieser Geschichte.

      „Fishnets?!?"

      „Schon gut, Chef. Unwichtig."

      Die Nummer mit dem Strumpf hatte man dann als alljährlichen Brauchtumstag übernommen, mit dem Stichtag 6. Dezember, dem Nikolaustag, wusste Santu weiter zu berichten, um sich dann zu empören:

      „Da aber heutzutage die kindliche Erwartungshaltung das Fassungsvermögen von Socken und Strümpfen bei weitem übertrifft, stellt der Nachwuchs mitlerweile gleich ganze Stiefelpaare vor die Tür. Eine Unverschämtheit, oder?“

      „Genau. Und deswegen gibt's dann Haue…", ergänzte Rooperti.

      Claus schüttelte den Kopf. Das war es eigentlich nicht, worauf er hinaus wollte, sondern auf etwas anderes: Denn seit dieser Sockenstory seines bischöflichen Vorgängers hätten sie beide jedes Jahr die ganze Plackerei mit den Paketen, die von Jahr zu Jahr zahlreicher und voluminöser zu werden schienen.

      Vielleicht sollten wir doch einmal eine Pause einlegen? Nachdenklich holte Santu seine Thermoskanne und ein in Pergamentpapier eingewickeltes Butterbrot aus seiner Aktentasche. Zeit für eine kleine Stärkung.

      Plötzlich versteifte sich Santus Haltung, und sein Blick fiel wie magnetisch angezogen auf das Butterbrotpapier. „Pergamentpapier! Bauplan! Steinrelief! Abdruck!", brach es aus ihm heraus.

      Rooperti erschrak: „Chef, alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen?“ Seine Sorge war diesmal wirklich echt.

      „In der Transportverpackung des Zeitdilatators befand sich seinerzeit ein Pergamentpapier! Ein Abdruck, der von einem Steinrelief genommen wurde. Denn auf dieser steinernen Tafel war dieser vermaledeite Bauplan eingemeißelt worden, weißt du nicht mehr, Rooperti? Rooperti!?!"

      „Ja, so vage…", erinnerte sich der Angesprochene kein bisschen.

      „Schön akribisch und haarklein eingemeißelt. Ein regelrechtes Kunstwerk seinerzeit. Und wenn‘s einen Abdruck auf einem Pergament gibt, dann gibt's auch ein, ein...?“

      Rooperts‘ Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

      „…richtig, du ahnungsloser Traumtänzer. Ein Original. ORIGINAL! Und dabei handelt es sich genau um diese Druckplatte, dieses Stein-Relief", nahm der Weihnachtliche weiter Fahrt auf.

      „Aber nach so langer Zeit? Wo, zum Teufel, sollen wir denn danach suchen, Chef?"

      „Fluche nicht, mein Sohn. Der Heilige Nikolaus hat