Hilferuf aus Griechenland. Irene Dorfner

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Название Hilferuf aus Griechenland
Автор произведения Irene Dorfner
Жанр Языкознание
Серия Leo Schwartz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847679851



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Erstaunen alle kannte. Dieses Jahr stand sein fünfzigster Geburtstag bevor und er hatte doch Bammel vor der magischen Zahl, was er natürlich niemals zugegeben hätte. Früher hielt er alle Menschen über fünfzig für alt. Nicht mehr lange, und er gehörte selbst dazu. Leo fand, dass er sich für sein Alter sehr gut gehalten hatte. Für ihn schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Mit seinen 1,90 Meter, der schlanken Figur und den in seinen Augen sehr hippen Klamotten (blaue Jeans, alte Lederjacke, Hemd oder T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband und Lederstiefel) wirkte er für seine Begriffe sehr jung, obwohl ihn die mittlerweile grauen Haare störten, die er immer ziemlich kurz hielt. Aber Leo blieb dabei: Er war mit Abstand jünger als die gleichaltrigen Männer, die er kannte.

      Er fuhr nun auf der A8 an Augsburg vorbei und mehr und mehr stieg die Vorfreude auf seine Freunde und ehemaligen Kollegen.

      Stau!

      Deutschland war das Land mit den besten Autobahnen. Trotzdem gab es hier die meisten Staus. Leo schüttelte den Kopf über die Unvernunft anderer Fahrer, die versuchten, sich ein paar Meter vorzudrängeln. Wie konnte man sich nur so chaotisch und rücksichtlos verhalten? Nur, um schneller voranzukommen, als alle anderen? Wenn sich der Verkehr staute, konnte man dem Stillstand sowieso nicht entkommen.

      Leo war erstaunt über das hohe Verkehrsaufkommen. Er war am heutigen Sonntag extra zeitig losgefahren, damit er sich mit den vielen Lkws nicht herumschlagen musste. Woher zum Geier kamen die ganzen Fahrzeuge um die Zeit? Und woher kamen die vielen Lkws? So viele Ausnahmegenehmigungen konnte es doch nicht geben! Bislang ging es langsam, beinahe im Schneckentempo vorwärts. Plötzlich ging nichts mehr, absoluter Stillstand. Leo suchte einen Sender mit einer Verkehrsdurchsage, um wenigstens den Grund für diesen plötzlichen Stopp zu erfahren. Er hatte keinen Erfolg damit. Er gab auf und schob eine CD ein, denn seit geraumer Zeit wurde die gute Musik von unendlich langweiligem Gequatsche mit einem Promi, den er überhaupt nicht kannte, unterbrochen. Das nervte ihn tierisch. Er reckte und streckte sich, nahm einen Schluck Wasser und wartete. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde er immer ungeduldiger. Sein Ziel war nicht mehr weit, nur noch knapp dreißig Kilometer. Leo beobachtete die anderen Verkehrsteilnehmer vor ihm, die sich die Beine vertraten, telefonierten und sich unterhielten. Ob er auch aussteigen sollte?

      Dann ging es endlich weiter. Zwar langsam, aber immerhin. Nach einigen Kilometern sah Leo schließlich den Grund des Staus: Eine Baustelle! Ein riesiges Schild informierte die Bürger über den Umfang und die Notwendigkeit, sowie über den Fertigstellungstermin, an dem Leo seine Zweifel hatte. Man brauchte doch nur an den neuen Flughafen in Berlin denken! Leo war sauer. Natürlich ging es bei diesem Stau um eine Baustelle, Deutschland war schließlich ein Land der Autobahn-Baustellen! Irgendwann passierte er die Baustelle und konnte es nicht glauben: Die wenigen Arbeiter standen nur rum und kein Fahrzeug bewegte sich. Typisch! Natürlich war heute Sonntag, aber das Hinweisschild machte deutlich, dass die Arbeiten rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche durchgeführt wurden. Alles zum Wohle der Bürger und für einen reibungslosen, fließenden Verkehrsfluss. Lächerlich! Es war jetzt kurz vor halb zwölf – schon Mittagszeit? Leo ärgerte sich und fluchte, denn schon oft kam er an solche Autobahnbaustellen vorbei, auf denen er wenige oder überhaupt keine Arbeiten feststellen konnte.

      Nun erreichte er endlich seine Autobahnausfahrt, hatte nur noch wenige Kilometer vor sich und ärgerte sich jetzt über seine Ungeduld auf der Autobahn. Er hatte schließlich Urlaub und jede Menge Zeit. War er schon zu so einem Grantler geworden, der sich über alles und jeden ärgerte? Leo nahm sich fest vor, an seiner Geduld und Einstellung zu arbeiten! Seine Laune besserte sich merklich und er pfiff und sang die Lieder auf seiner CD mit. Die Umgebung kam ihm sehr vertraut vor und sofort fühlte er sich zuhause. Als er das Ortsschild Ulm passierte, musste er unwillkürlich hupen. Endlich zuhause! Er fuhr in die Einfeldstraße und sah seine Freundin Christine Künstle schon von weitem. Sie schien ungeduldig zu warten, denn sie lief hektisch hin und her und hatte die Arme in die fülligen Hüften gestemmt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich Sorgen machte. Als sie Leos Wagen erkannte, winkte die zweiundsechzigjährige Frau mit den kurzen braunen Haaren hektisch, wobei sich ihre Gesichtszüge entspannten. Nun strahlte sie übers ganze Gesicht. Leo parkte, stieg aus und rannte zu Christine, nahm sie in die Arme und wirbelte sie übermütig durch die Luft. Sie schrie und lachte.

      „Lass mich sofort runter, du verrückter Kerl. Was fällt dir ein? Wo bleibst du denn so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht.“

      „Diese blöde Baustelle hat mich fast eine Stunde gekostet. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich über die Bundesstraße gefahren.“

      „Schwamm drüber, jetzt bist du ja da. Komm rein, ich habe Essen gemacht, dein Gepäck kannst du später holen.“

      Sie zog Leo mit sich, der gerade noch seinen Wagen mit der Fernbedienung zusperren konnte. Es gab Maultaschen und Kartoffelsalat, was Leo als gebürtiger Schwabe nicht nur sehr liebte, sondern auch seit Monaten nicht mehr gegessen hatte. Er langte kräftig zu. Während sie aßen, berichtete Christine über Neuigkeiten bei der Ulmer Polizei und den vertrauten Kollegen, die Leo heute Abend zu sehen bekam, denn Christine hatte sie alle eingeladen: Die hübsche, schlagfertige und sehr intelligente Anna Ravelli, mit der Leo sehr gerne zusammengearbeitet hatte. Dann Stefan Feldmann, Leiter der Spurensicherung Ulm, ein wahres Genie in seinem Job. Er war mit Anna liiert, die beiden gaben ein wunderschönes Paar ab. Und natürlich Ursula Kußmaul. Die dreißigjährige, kleine, untersetzte Frau mit der dicken Hornbrille war völlig durchgeknallt und strotzte vor Selbstbewusstsein. Ihre Schlagfertigkeit und ihr loses Mundwerk waren legendär. Sie musste aufgrund eines Unfalls unförmige Gesundheitsschuhe tragen, was ihr aber nichts ausmachte. Ihre Kleidung war kunterbunt und sehr auffällig. Wegen ihrer vielen Narben am Kopf, die sie immer an viele Operationen erinnerten, trug sie täglich die verrücktesten Kopfbedeckungen, die nie zum Rest der Kleidung passten. Leo hatte Ursula Kußmaul bei seinem letzten Fall in Ulm kennen- und schätzen gelernt. Sie war wegen seiner Versetzung fest ins Team aufgenommen worden.

      Nachdem Leo seine Sachen geholt und in dem extra für ihn hergerichteten Gästezimmer eingeräumt hatte, machten die beiden einen ausgedehnten Spaziergang durch Ulm. Sie tranken Kaffee und besuchten liebgewonnene Plätze der Vergangenheit. Leo fühlte sich sehr wohl. Wollte er jemals wieder zurück? Hier war er zuhause und hier gehörte er hin.

      „Wir müssen zurück, es ist schon kurz nach fünf, in einer Stunde kommen die anderen.“

      Leo und Christine richteten den Tisch im Wohnzimmer her. Christine hatte Häppchen und Schnittchen, sowie reichlich Getränke besorgt. Endlich klingelte es. Die Gäste kamen gemeinsam, vorsorglich mit einem Taxi.

      Sie begrüßten sich alle herzlich. Sie lachten, schwatzten und Leo fühlte sich pudelwohl. Erst weit nach Mitternacht und reichlichem Alkoholkonsum verabschiedeten sie sich. Es war klar, dass sie sich alle in den nächsten Tagen noch sehen würden, und zwar mehrfach.

      Leo hatte sich mit dem Alkohol zurückgehalten. Er wollte auf jeden Fall am nächsten Tag ganz früh raus, um dann über seine geliebte Schwäbische Alb zu wandern. Natürlich nur, wenn das Wetter auch mitspielte, denn die Vorhersagen waren nicht sehr berauschend. Er stellte seinen Wecker auf fünf Uhr.

      Er war schon vor dem Klingeln wach. Beschwingt sprang er aus dem Bett, zog sich an, nahm den gepackten Rucksack und verließ das Haus. Es war zwar stark bewölkt, aber es regnete nicht, was Leo vollauf genügte. Er fuhr los. Unterwegs holte er sich einen Kaffee und ein Croissant bei einem Bäcker, bei dem er sich schon früher mit Frühstück eingedeckt hatte und wo er auch sofort wiedererkannt und freundlich begrüßt wurde. Sie hatten ihn nicht vergessen. Mit einem guten Gefühl fuhr er schließlich über die Schwäbische Alb, öffnete trotz der Kälte das Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ja, diese Luft gab es nur hier. Zielsicher steuerte er einen ganz bestimmten Parkplatz an, den er kurz nach sechs Uhr erreichte. Er sprang aus dem Wagen und sog die Luft nochmals tief ein. Endlich war er wieder hier!

      Es war noch nicht richtig hell, nur langsam erwachte die Natur. Außer ihm war niemand auf dem Parkplatz. Nachdem er sich die Wanderschuhe und die Jacke angezogen hatte, nahm er seinen Rucksack, schaltete sein Handy aus und lief los.

      Nach einer guten Stunde begann es zu nieseln, nach einer weiteren Stunde regnete es richtig, was aber Leos Laune