Herzlich willkommen in der Realität. Nicole Franke

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Название Herzlich willkommen in der Realität
Автор произведения Nicole Franke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753190327



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die Gondel Richtung Gipfel. Die Fahrt nach oben ist gesäumt von lauter Uiiis, Ahhhs und Ohhhs meiner Tochter. Herrlich. Oben angekommen gehen wir zuerst auf die Plattform mit dem Gipfelkreuz. Meine Tochter ist hellauf begeistert und saust wie eine Wilde auf dem Plateau herum. Oma und ich lassen unseren Blick über das herrliche Panorama schweifen. Hochgefühle machen sich breit.

      „Mama, da unten liegt ja Schnee“, ruft meine Tochter erfreut. „Bitte lass uns da mal hingehen“. Oma nickt mir lächelnd zu. Meine Tochter stürmt eine Etage tiefer und wir hechten beschwingt hinterher. Schon fliegen uns die ersten Schneebälle um die Ohren. Die Schlacht beginnt und ist untermalt von hysterischem Lachen auf allen Seiten. Was für ein Vergnügen! Nach gut einer Stunde machen sich nicht nur unsere Mägen, sondern auch unsere Blasen mit Nachdruck bemerkbar. Mit leichtem Unmut und Murren packt meine Tochter ihre Handschuhe in den Rucksack und zieht sich den Schneeanzug aus. Wir packen alles zusammen und machen uns auf den Weg.

      Oben angekommen zieht meine Tochter fordernd an meinem Arm. „Wir gehen gleich ins Restaurant, mein Schatz. Oma und ich gehen eben noch kurz auf die Toilette. Musst du auch?“ Schlagartig verfinstert sich der Gesichtsausdruck meiner Tochter. Sie verschränkt vehement die Arme vor dem Körper und stapft bockig mit dem linken Fuß mehrmals auf den Boden. „Nö. Nö. Nö. Ich habe sooolchen Hunger!“ Ich hole tief Luft und versuche ihr die immense Dringlichkeit darzulegen. Da gibt es seitens meiner Tochter kein Halten mehr. Sie fängt an zu wüten. „Menno, ich will aber jetzt was essen.“ Meine Blase steht kurz vor der Explosion. Ein Geistesblitz. Etappenpinkeln. Ich schicke meine Mutter als Vorhut. Derweil säusle ich beschwichtigend auf meine Tochter ein und wühle zeitgleich nach etwas Essbarem im Rucksack. Meine Tochter tobt und tobt und tobt. Ich wühle und wühle und wühle. Vergeblich. Alles bereits beim Schneeball-Intermezzo einverleibt.

      Ein Lichtblick. Meine Mutter steht wieder neben mir und übernimmt den Part der Beruhigungspille. Ab mit mir auf das stille Örtchen. Schlagartige Erleichterung. „Ob sich dieses Gefühl nun auch vor der Tür fortsetzt?“, stelle ich mir etwas beunruhigt die Frage. Draußen angekommen, versucht meine Mutter derweil galant abzulenken und die Laune meiner Tochter mit „Ich sehe was, was du nicht siehst“ positiv zu beeinflussen. Mein Kind sieht aber nur eine Farbe: Rot!

      „O weh“, denke ich mir, „gleich zwei mörderische Komponenten auf einmal“. Wenn beim Nachwuchs Hunger und Müdigkeit ins Spiel kommen, mutiert ein geselliger Familienausflug schon mal zum Himmelfahrtskommando. Ich überspiele meine düsteren Zukunftsvisionen und strahle meine Tochter an: „Sooo, mein Schaaatz, jetzt gehen wir was futtern“. „Ich muss aber noch aufs Klooo“, motzt meine Tochter los. Oma verdreht die Augen. Also das ganze Prozedere noch mal von vorne. Geschafft. Auf zum Restaurant. Ausschau haltend nach einem Platz an der Sonne.

      Glück gehabt, da vorne ist noch ein Tisch frei. Meine Mutter spielt den Platzhalter, während meine Tochter und ich zur Essensausgabe laufen. Meine Tochter wählt einen köstlich duftenden Kaiserschmarrn. Ich entscheide mich für ein Paar Wiener mit Brötchen. Getränke hinzu. Bezahlen. Ab zur Kasse und zurück zum Tisch. Nun entschwindet meine Mutter. Wir setzen uns hin.

      Mit voller Wucht kommt die Sonne durch die Wolkendecke. Warm, hell und leuchtend. Sie scheint uns mitten ins Gesicht. „Wunderbar“ denke ich und lehne mich genussvoll zurück. „Zu helllllllll!“, jammert meine Tochter. „Dann geh doch bitte auf die andere Seite des Tisches. Da hast du die Sonne im Rücken“, fordere ich sie auf. „Das ist mir viel zu warm“, beklagt sie sich. „Mama, ich möchte gerne an einen Tisch ohne Sonne.“ Ich blicke umher. Volltreffer. Drei Reihen hinter uns wird gerade ein solcher frei. Hastig stehen wir auf, um genau dieses Plätzchen zu ergattern. Ich quetsche mir sämtliche Jacken, Mützen, Handschuhe und Schals unter den Arm, streife den Rucksack über und jongliere das Tablett. Wumms! Die Apfelschorle meiner Tochter fliegt zu Boden. Ausgerechnet.

      Gebrüll setzt ein. Meine Tochter wirft sich einen halben Meter neben meinem Malheur auf den Boden. Wutentbrannt schrubbt sie mit ihrem Rücken über den kalten Stein und trampelt fuchsteufelswild die Fliesen in Grund und Boden. Die Leute um uns herum stieren uns verständnislos an. Aber nicht nur die. Meine Mutter kommt zurück. In der Hoffnung, dass sich die Wogen schnell glätten, dackle ich erneut zur Kasse. Ich hole eine neue Apfelschorle und einen ganzen Stapel Servietten, um die Sauerei auf dem Boden aufzuwischen. „Ab zur Mutti und zur Motzkuh“, denke ich mir.

      „Menno, ich will keine Apfelschorle. Ich möchte ein Wasser“, werde ich unwirsch von meiner Tochter begrüßt. „Und außerdem will ich keinen Kaiserschmarrn, sondern Würstchen!“

      Meine Mutter stößt einen tiefen Seufzer aus. „Du wolltest einen Apfelschorle. Hier ist sie! Was anderes gibt es nicht!“, sage ich zu ihr. „Basta!“ Die Augen meiner Tochter füllen sich rasant mit Tränen. Wir könnten glatt mitheulen. Nach minutenlangem Genörgel und Geschimpfe nimmt sie endlich einen Schluck. „Kann ich bitte deine Wurst haben?“ Ich schüttle den Kopf und erkläre ihr, dass sie ihre Wahl vorhin mit dem Kaiserschmarrn getroffen hat. Meine Tochter umklammert mit größtmöglicher Intensität und aufgesetztem Hundeblick meinen Arm. „Bitte, Mama. Bitte. Bitte. Bitte. Wurst. Wurst. Wurst.“ Blicke von allen Seiten. Genervt tausche ich wortlos die Teller und zwinge mir den Kaiserschmarrn runter. Oma hat allmählich den Appetit verloren. Meine Tochter schmatzt zufrieden meine Wurst. „Fehler. Fehler. Möp. Möp“, schallt es in mir.

      Die Augen meiner Tochter werden kleiner und kleiner. Von Bissen zu Bissen. Wir entschließen uns direkt nach dem Essen aufzubrechen. Ein Proteststurm bricht über uns herein. Das Gesicht meiner Tochter ist mit Ketchup getränkt. Sie ist fix und alle. Ich auch.

      Ich nehme sie auf den Arm und laufe mit ihr zur Bergbahn. Oma dackelt im Schlepptau hinterher. Hervorragend. Das ganze Ketchup meiner Tochter klebt nun auch auf meiner neuen Winterjacke. „Teilen ist doch wunderbar“, macht sich Sarkasmus breit. Minutenlang schaukle ich mein vor Müdigkeit krakeelendes Kind in meinen immer schwerer werdenden Armen. Endlich. Die Gondel fährt ein. Wir setzen uns direkt an den Ausgang. Exit: always possible. Meine Mutter traut dem (fast) schlafenden Braten nicht. Sicherheitshalber nimmt sie am anderen Ende der Gondel Platz. Da fängt meine Tochter lauthals an zu schnarchen. Erleichterung macht sich breit. Entspannung tritt ein.

      Unten bei der Talstation werden wir freudig von Opa und Lucy in Empfang genommen.

      Das energische Bellen reißt meine Tochter aus dem Tiefschlaf. Verdutzt reibt sie sich die Augen und sagt bestens gelaunt zum Opa: „Es war ja sooo schön! Lass uns gleich noch mal hochfahren!“

      Das nächste Geburtstagsgeschenk meiner Eltern war übrigens ein Wellness-Gutschein. Für eine Person.

      Zweite Anekdote

      Es ist Spätsommer. Meine Tochter (3) geht seit Ende Juli in den Kindergarten.

      Die dreiwöchige Eingewöhnungsphase ist erfolgreich absolviert.

      Ich: „Wie war es denn heute im Kindergarten?“

      Meine Tochter: „Sehr schön.“

      Ich: „Das freut mich!“

      Meine Tochter: „Frau B. hat mit mir gespielt!“

      Ich: „Klasse!“

      Meine Tochter: „Sie hat viel nach mir gerufen.“

      Ich: „Ach ja? Wie nennt sie dich denn?“

      Meine Tochter: „Bitte aufräumen.“

      Mit Note

      Ein verregneter Sonntagvormittag. Ein zarter Sonnenstrahl bahnt sich den Weg durch die morgendliche graubraune Nebelsuppe und bleibt in meiner müden Visage hängen. Ich recke mich. Meine Glieder ächzen. Mein Blick geht zum Wecker. 7:48 Uhr. Immerhin. Müde kuschle