Название | Zwei Ozeane auf Abwegen |
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Автор произведения | Jenny Karpe |
Жанр | Языкознание |
Серия | Zwei Kontinente |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753196671 |
Sie nickte und senkte ihren Kopf auf das Kissen, wobei sie sich fragte, ob sie sich alles nur eingebildet hatte. Die Insel, Aaron, den Sprung. Ihr Leben. Aber wenn diese Frau von einem Administrator sprach, der Inseln programmierte, war sie noch innerhalb eines Experiments von Wyoming Wonders.
»Wer bist du?«, fragte sie tonlos.
»Ich bin deine Juniper. Wir sind seit zehn Jahren ein Paar. Ich hoffe, dass du dich bald von selbst erinnerst.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie den Raum mit einer Eile, die ein flaues Gefühl in Kiras Magengegend verursachte.
Sie wartete zwei Minuten, in denen ihr Herz immer schneller pochte. Dann schob sie einen Fuß über die Bettkante. Das Parkett knarrte, als Kira durch den Raum schlich und nach ihrer Kleidung suchte. Kopfschüttelnd stellte sie fest, dass sie zunächst ihren eigenen Körper finden musste.
Auf einem Stuhl entdeckte sie einen grauen Rock, eine Strumpfhose und einen weißen Pullover mit gestricktem Knotenmuster. Wer zwang erwachsene Menschen dazu, sich so anzuziehen? Allerdings blieb ihr keine Wahl, wenn sie nicht im sonnengelben Nachthemd durch die Straßen taumeln wollte. Von Schuhen fehlte jede Spur. Wo war die Person, die diesen Körper zuvor benutzt hatte, um ihn in den schrecklichen Pullover zu hüllen? Hatte Kira diese Seele verdrängt?
Sie öffnete nachdenklich die Schubladen einer Kommode und fand darin Brettspiele und Berge von Süßigkeiten. Für eine Sekunde überkam sie eine unbändige Gier. In ihrer Heimat hatte es fast nichts Süßes gegeben. Das hier waren Dinge, die sie nicht einmal aussprechen konnte, allerdings erkannte sie Schokolade und buntes Papier. Eilig ermahnte sie ihre Finger, still zu sein, schob die Schublade mit ihrer Hüfte zu und fuhr sich dabei durchs Gesicht.
Bei dem Gedanken, der fremden Frau das Herz zu brechen, wurde ihr erneut übel. Doch was blieb ihr übrig? Sie hatte keine Zeit, sich umsorgen zu lassen. Augustin hatte sie gebeten, von ihrer Insel zu springen, und das hier war sicherlich nicht Teil ihrer Aufgabe. Sie musste dringend Aaron finden und Kontakt zu Augustin aufbauen. Vielleicht war danach Zeit, sich bei Juniper für den geklauten Scheusalspullover zu entschuldigen. Seufzend schlüpfte sie in die Kleidung.
Die Tür war zwar ein Ausgang, aber zum Glück nicht die einzige Option. Durch das Fenster konnte Kira hinter Dutzenden Flachdächern und Sonnensegeln den Ozean sehen, allerdings war er näher, als sie es gewohnt war. Diese Insel war niedriger. Die Nähe zum Wasser war bestimmt praktisch und nicht so gefährlich wie die schwindelerregend hohen Klippen von Kiras Heimatinsel.
Kira öffnete das Fenster und grinste. Carla würde ihren Plan von heute Morgen doch umsetzen, und Juniper würde es dieses Mal nicht verhindern können. Sie sprang aus dem Fenster, wobei sie etwas zu spät feststellte, dass sie im oberen Stockwerk gewesen war. Mit einem unvermeidlichen Aufschrei landete sie erst auf einem Stofftuch und purzelte dann in eine Hecke. Fluchend kämpfte sie sich aus dem Geäst und beeilte sich, die schattige Straße hinter sich zu lassen. Vielleicht hatte sie jemand gehört, also rannte sie in Wollstrumpfhosen über schmutziges Kopfsteinpflaster und knarrende Bretter, die notdürftig Felsen und Wasserlöcher bedeckten. Das Meer versuchte, die Stadt zu unterwandern.
In den beengten Gassen wurde Kira von Gestalten mit trüben Augen begutachtet. Anscheinend waren das die Einheimischen. In Kiras Heimat, Insel 317, hatte es die blassen und meist übergewichtigen Amerikaner neben den dunkelhäutigeren Ruanern gegeben. Zwei Völker, die sich ständig beschuldigt hatten, einander das Wasser zu stehlen. Zum Glück waren diese Streitigkeiten vor drei Jahren aus dem Programm entfernt worden.
Die Leute, die hier herumliefen, kannte Kira nicht. Sie musste entweder in einem anderen Teil des Programms sein – einem anderen Experiment – oder in einer verwirrenden Realität. Die Möglichkeit, dass alles unecht war, erschien ihr beruhigend und bedrohlich zugleich. Auch die Gassen sahen anders aus als in ihrer Heimat. Zwischen ihnen hingen gewaltige Baldachine, die den Blick zum Himmel verwehrten. Das Licht war dadurch ungewohnt schummrig, aber es passte zu den Gebäuden, die Kira an untergegangene Schiffe erinnerten. Ihre Wände bestanden aus dunklem Holz mit lauter Nägeln darin. Löcher wurden mit zusätzlich aufgenagelten Brettern verborgen, statt gläserner Fenster gab es schiefe Holzläden. Die meisten von ihnen standen offen, aber Kira traute sich nicht, einen Blick ins Innere zu werfen. Diese Stadt war ihr unheimlich.
»Kann ich dir helfen?«, fragte jemand tonlos und lächelnd. Kira schüttelte hastig den Kopf und drängelte sich an den Leuten vorbei, die sie fragend ansahen.
Flach atmend erreichte sie das Meer. Kira wartete auf die Schritte von Verfolgern, aber bis auf die Wellen war nichts zu hören. Es würde vermutlich nicht lange dauern, bis Juniper nach ihrer verwirrten Lebenspartnerin suchte, doch Kira brauchte den Moment, um durchzuatmen und sich zu orientieren. Sie legte den Kopf in den Nacken. Wie eine reisefaule Sturmwolke bedeckte ein Schatten den Großteil der Stadt. Über den Häusern ruhte eine Insel, die dieses Gebiet verdunkelte. Im Gegensatz zu Kiras Heimat war der Schirm des steinernen Pilzes wie von Würmern durchlöchert. Sie schlussfolgerte, dass diese untere Insel aus den Überresten der oberen errichtet worden war. Aus dem Meer ragten Trümmer wie eigene kleine Inseln, die Wellen brachen sich daran.
Was hatte das zu bedeuten? War dort oben ein Experiment gescheitert? Kira ermahnte sich, dass sie zu wenig Zeit hatte, um darüber nachzudenken. Allmählich hörte sie Tumult in den Gassen, der wahrscheinlich ihr galt. Auf keinen Fall wollte sie zurück – womöglich musste sie dann für immer bleiben, gefangen in Carlas Körper. Sie zog die Mundwinkel nach unten und beschleunigte ihre Schritte. Kira weinte selten, aber jetzt staute sich Verzweiflung an, genau zwischen ihren zusammengezogenen Augenbrauen und dem Kloß in ihrem Hals. Die Stege knarrten ungeheuerlich und boten nicht nur glotzenden Möwen ein Zuhause, sondern auch Seepocken und glitschigen Algen. Ein Ruf nach Carla ertönte. Kälte kaperte Kiras Körper. Juniper wollte den Administrator holen, und dieser Gedanke behagte ihr nicht. Dieser Forscher namens Mortimer würde wissen, dass Kira eine andere Person überschrieben hatte, oder? Wenn er Carla untersucht hatte, musste es ihm aufgefallen sein. Die Forscher Hana und Elliott, die so etwas wie die Administratoren ihrer Heimat gewesen waren, hatten einmal zwei Roboter heruntergefahren und innerhalb weniger Minuten festgestellt, dass die Seelen von Augustin und Kira in ihnen steckten. Wenn selbst die beiden das schafften, wusste es der Administrator definitiv. Vorausgesetzt, dieser Name stand nicht wie Khan oder Basílissa für einen Herrschertitel eines einzelnen Experiments, sondern für den Verwalter von Wyoming Wonders. Kira schauderte.
Sie blieb hinter einem Kistenstapel stehen, um durchzuatmen. Wie praktisch es war, kein Roboter mehr zu sein, wurde ihr immer wieder neu bewusst. Sie konnte leichtfüßig laufen und jederzeit ihre Gefühle zeigen, wovon sie nie gedacht hätte, dass das eine wertvolle Fähigkeit war. Eigentlich wäre sie nach ihrem Fall in den Ozean erneut in einem Roboter aufgetaucht. Allerdings wusste Kira nicht, was genau passierte, wenn sie ein Experiment mit einem Sprung verließ. Im Grunde genommen war es ein Fehler des Systems, dass sie nicht vom Server aufgefangen und in ein anderes Experiment geschickt worden war.
Kira erstarrte. Was dachte sie da? Genau das war ihr passiert! Sie war behandelt worden, wie es eigentlich sein sollte – umgesiedelt in ein anderes Experiment. Jetzt blieb noch die Frage offen, warum sie den Körper einer anderen Seele eingenommen hatte. Wenn sie sich recht entsann, hätte sie einen eigenen bekommen sollen. Außerdem dürfte sie sich nicht mehr an ihr vorheriges Dasein erinnern, oder? Sie hoffte, dass Augustin eine Erklärung für all das hatte.
Langsam lehnte sie sich vor und lugte an den Kisten vorbei. Am Hafen lagen nur wenige Boote, behelfsmäßig zusammengezimmert und offenbar für den Fischfang gedacht. Eine Fähre zu ihrer Heimatinsel wäre zwar praktisch gewesen, aber Kira hatte in ihrer Kindheit lange genug das Meer beobachtet, um zu wissen, dass es solche Schiffe nicht gab. Es gab auch keine U-Boote, keine Hubschrauber, keine Flugzeuge, keine Züge. Aber es gab Autos. Sie waren die verrostete Heimat von Unkraut oder wurden in Garagen vergessen.
Einige Männer arbeiteten am Kai und trugen Ausrüstung von einer Lagerhalle auf ein schmales Boot, das den Namen