NESTOR. Stefan Högn

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Название NESTOR
Автор произведения Stefan Högn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745062748



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verließen sie den Bunten Salon in Richtung Empfangshalle. Rául betätigte einen völlig unscheinbaren Knopf, der gut versteckt unter der linken Freitreppe angebracht war und eine Geheimtür unter der rechten Freitreppe öffnete sich leise. Das war der Grund, warum Lilly den Zentralcomputer bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Hinter der Geheimtür führte eine schmale Treppe nach unten. Rául ging vor.

      »Was macht Nestor Nigglepot eigentlich immer? Man sieht ihn so gut wie nie. Sie habe ich seit meiner Ankunft hier täglich gleich mehrfach, manchmal sogar stundenlang gesehen.«

      »Er arbeitet.«

      »Und was arbeitet er?«

      »Ich glaube nicht, dass Herr Nestor möchte, dass ich dir diese Frage beantworte.«

      »Ach bitte, Rául! Ich will doch nur wissen, was er den ganzen Tag über anstellt. Ich meine, der Kerl ist ja fast nie da, nicht mal jetzt.«

      »Nestor Nigglepot wünscht, dass keine Fragen über ihn beantwortet werden, und ich werde mich daran halten, junge Dame! Und ob er nicht da ist, kannst du gar nicht wissen. Seldom House ist gewaltig. Es gibt über hundert Zimmer, allein im Haupthaus. Besser du fragst nicht weiter nach ihm.«

      »Sind sie mir jetzt böse, Rául?«

      »Nein. Ich wäre sogar enttäuscht, wenn du es nicht wenigstens mal versucht hättest.« Er drehte sich um und lächelte sie an. »Neugierde ist gut. Ohne sie wärest du nicht hier.«

      Die Treppe, Lilly zählte 42 Stufen, mündete in einen Gang, der zwar nicht so hoch wie die Bildergalerie war, aber mindestens genauso lang und hatte je drei Türen ohne Türgriffe zu beiden Seiten. Am Ende befand sich eine siebte Tür. Wände und Boden waren dunkel und völlig matt. Beinahe hatte man das Gefühl durch ein Nichts zu schweben, wäre an der Decke nicht ein blau leuchtendes Band gewesen. Auf jeder Tür leuchteten Symbole, die das Mädchen nicht kannte, ebenfalls in Blau. Rául steuerte auf die Tür am Ende zu und als er ankam, sagte er: »Hallo Sofia! Mach bitte auf!«

      Eine sehr warme Frauenstimme antwortete genauso normal zurück: »Gerne Rául! Willst du mir endlich unsere neue Mitbewohnerin vorstellen?«

      Die Tür verschwand einfach und gab den Weg in einen großen, runden Raum frei, der, verglichen mit dem Gang, sehr hell war. Auch hier war das Licht blau, aber die Wände waren metallisch. Sie bestanden aus wabenförmig angeordneten, handtellergroßen Halbkugeln, die scheinbar unvermittelt aufleuchteten und wieder erloschen. Decke und Boden waren aus dem gleichen Material wie die zuvor im Gang.

      In der Mitte des Raumes, der einen Durchmesser von gut fünfzehn Metern hatte, waren drei moderne, schlichte, schwarze Sessel um einen schwarzglänzenden Tisch angeordnet. Über dem Tisch schwebte die Hauptlichtquelle des Raums. Eine blaue Lichtwolke, gut einen Meter breit, waberte langsam und unregelmäßig vor sich hin. Es war, als hätte man das Licht anfassen können.

      Lilly konnte sich das Staunen in diesem Haus tatsächlich nicht abgewöhnen, denn sie stand mal wieder mit großen Augen da. Die Wolke veränderte plötzlich sehr geschmeidig ihre Form und nahm die durchsichtige Gestalt einer hübschen Frau, mit einer klassisch gewundenen Zopffrisur, an. Als stünde diese Frau mitten in dem Tisch, hörte ihr Körper auf Bauchnabelhöhe auf. Ihr Kleid war klassisch, schlicht und ausgesprochen schick.

      »Hallo Lilly! Ich bin Sofia«, sagte die blaue Erscheinung.

      »Hallo … Sofia!« Die Chinesin traute ihren Augen nicht.

      »Na, mal nicht so schüchtern. Du wirst dich an mich gewöhnen.« Sofia freute sich offensichtlich über die Gesellschaft und schaute dann zu Rául, »Und wie geht es dir, mein Freund?«

      »Das Übliche, das Übliche«, antwortete er. »Herr Nestor und Lilly wollen gemeinsam verreisen.«

      »Du willst mit Nestor auf Tour gehen? Da werdet ihr eine Menge Spaß haben.« Sofia schaute nun wieder zu Lilly. Sie bewegte sich etwas langsamer als echte Menschen.

      Das Mädchen bekam keinen Ton heraus.

      »Alles O.K. mit dir, Lilly?« Der Zentralcomputer schaute sie besorgt an.

      »Ja … schon, aber …« Sie wollte nicht herumdrucksen, aber es ging nicht anders. Das hier hatte doch viel mehr Ähnlichkeit mit einem Gespenst, als mit einer Maschine.

      »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Alles was du von mir siehst, ist nur Licht. Ich kann gar nicht beißen.« Die Maschine winkte Lilly zu sich. »Komm, fass mich mal an!«

      Lilly ging langsam auf den Tisch zu und streckte ihre linke Hand vorsichtig aus. Dort, wo sie Sofia berührte, wich das Licht zurück wie Rauch.

      »Siehst du?«

      Das Mädchen zog die Hand schnell wieder zurück, dabei folgten ihr ein paar Lichtschwaden, um dann langsam wieder in die Ursprungsform zurückzukehren. Sie schaute Hilfe suchend zu Rául.

      »Mach dir keine Sorgen. Sofia ist wirklich nett.«

      Lilly nahm ihren Mut zusammen und sagte leise: »Du sprichst und du denkst … aber du bist doch eine Maschine?«

      »Du sprichst und denkst doch auch.« Sofia schaute das Mädchen interessiert an.

      »Nein … ja doch, tue ich, aber wieso du? Maschinen können doch nicht denken und reden.«

      Sofia schaute nach oben, als würde sie überlegen. »Die meisten Maschinen denken und reden nicht, das stimmt. Aber wieso denkst und sprichst du?«

      »Ich bin ein Lebewesen«, antwortete Lilly.

      »Aber die meisten Lebewesen reden und denken auch nicht, oder etwa doch? Das muss ja ein Geplapper, sein bei euch Lebewesen, wenn jede Ameise und jeder Grashalm ständig ihren Senf dazu geben.«

      »Das ist doch Quatsch. Ich bin ein Mensch, nur darum kann ich denken und sprechen.«

      »Ja stimmt!« Sofia schaute die Chinesin gespielt erstaunt an. »Du bist ein hoch entwickeltes Lebewesen.«

      Lilly hatte verstanden: »Und du bist eine hoch entwickelte Maschine.«

      »So ist es, Lilly!« Die blaue Gestalt sah sie lächelnd an. »Deshalb kann ich denken und sprechen. Und lesen und singen … nur weg kann ich hier nicht so richtig, aber dafür muss ich auch nie zum Klo.«

      Jede ihrer Äußerungen unterstrich sie mit einer deutlichen und passenden Mimik, als wenn sie um jeden Preis verhindern wollte, dass man sie allzu sehr missverstehen könnte. Sie war fröhlich, freundlich und höflich. Sie hatte keine Launen, war offensichtlich ehrlich und sie scherzte gern. Es war tatsächlich gut, dass nicht jeder eine Sofia hatte. Aber aus einem anderen Grund, als Rául ihn befürchtet hatte. Die Welt würde ganz einfach vor Nettigkeit platzen.

      »Wieso bist du so, wie du bist?«, wollte Lilly Foo wissen.

      »Wäre es dir lieber, wenn ich wie die anderen Maschinen wäre? Plump, dumm, unfreundlich, selbstverliebt und am Ende würde mich doch keiner ohne Handbuch verstehen?« Sofia schüttelte den Kopf. »Und wieso bist du so, wie du bist?«

      »Ich bin so geworden …« Etwas Klügeres fiel dem Mädchen auf die Schnelle nicht ein.

      »Mir geht es genauso. Ich musste zwar nicht Laufen lernen, aber ich konnte auch erst denken und sprechen, als ich verstehen konnte. Und das zu lernen, hört nie auf. Jetzt muss ich zum Beispiel lernen, dich zu verstehen.«

      »Und ich dich!«

      »Ganz genau.« Sofia machte eine kurze Pause. »Also ihr zwei Hübschen, wo soll’s denn hingehen?«

      V

      Reisevorbereitungen

      Nestor Nigglepot, Rául und Lilly trafen sich zum Tee im Weißen Salon. Bald zeigte sich auch, wofür dieser riesige Bildschirm gut war, von dem Lilly anfangs dachte, er wäre nur ein großes graues Bild gewesen. Kaum hatten alle drei Platz genommen, fragte der Hausherr: »Können wir loslegen?«

      »Womit?«, wollte das Mädchen wissen. »Wir müssen klären, wer welche Aufgaben