NESTOR. Stefan Högn

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Название NESTOR
Автор произведения Stefan Högn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745062748



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zum Butler ... aber als ich Kind war, gingen die Uhren anders als heute – und auch anders als 1921. Ich habe mich einfach dafür entschieden ... mit der Zeit.«

      VIII

      Rául

      Als Nigglepot schwer beladen zurückkam, waren Rául und Lilly schon lange fertig mit der ersten Fuhre alter Münzen. Er schüttete vier ziemlich große Säcke mit weiteren Geldstücken auf den Tisch.

      »Wenn die hier sortiert sind, müsste es reichen«, dann sagte Nestor »Puh!«, wischte sich theatralisch die Stirn mit dem Handrücken und schloss mit den Worten: »Schafft ihr das auch ohne mich?«

      Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ er wieder den Raum und war für den Rest des Tages nicht mehr zu sehen.

      »Wie haben sie Nestor Nigglepot eigentlich kennengelernt, Rául?«, fragte das Mädchen.

      »So ähnlich wie du ... durch Zufall.«

      »Haben sie es jemals bereut?«

      »Na ja, manchmal kann es schon sehr anstrengend sein für ihn zu arbeiten, aber bereut? Ganz sicher nicht!« Rául überlegte. »Eigentlich hatte ich sehr großes Glück!«

      »Warum?«

      »Ich wurde zu einer Zeit geboren, als Europa im Umbruch war. Meine Eltern habe ich während der Französischen Revolution verloren. Ich weiß nicht, ob sie gestorben sind oder nur in den Wirren von mir getrennt wurden.«

      Lilly schaute ihn mitleidsvoll an, weil sie den Butler beobachtete, der ohne aufzuschauen in den Münzhaufen wühlte.

      »Fest steht, dass ich sie viele Wochen gesucht aber nicht gefunden habe. Meine Eltern waren der Marquis und die Marquise de Castellane, also hatten sie, wie alle Adeligen zu dieser Zeit, nichts zu Lachen ... und ich auch nicht. Ich war zwar erst acht Jahre alt, aber meine Kleidung zeigte allen Leuten, das ich ein Kind der Leute war, die das Volk loswerden wollte. Also musste ich mich die meiste Zeit irgendwo verstecken.«

      »Verstecken?«

      »Nichtadelige Franzosen haben sich gegen die herrschende Klasse zur Wehr gesetzt ... und häufig mit Gewalt. Ganz egal ,ob Mann, Frau oder Kind.«

      »Aber, sie sind offensichtlich entkommen.«

      »Ja, tagsüber habe ich oft in abgelegenen Schuppen geschlafen und mir nachts auf Feldern und in Bauernhäusern etwas zu essen geklaut.«

      »Wurden sie denn nie erwischt?«

      »Oh doch, ziemlich oft! Einmal hat mir ein Bauer sogar mit der Mistgabel in den Hintern gestochen. Ich hatte Glück, dass sich nichts entzündet hat. Stehlen und unauffällig sein, war ursprünglich nicht Teil meiner Erziehung.«

      »Hat sicher weh getan, oder?«

      »Allerdings, aber was noch schlimmer war, mein Hose war hintenrum total kaputt ... und ich hatte doch nur diese eine. Also musste ich mir bei nächster Gelegenheit auch noch eine neue Hose klauen.«

      »Wie peinlich«, stellte Lilly leicht amüsiert fest.

      »Und vor allem schwierig, denn die meisten Menschen hatten damals auch nur eine oder zwei Hosen, die nur ausgesprochen selten gewaschen wurden und mit denen sie oft auch noch schlafen gingen.«

      »Das ist ja eklig!«

      »Ja, aber damals habe ich gar nicht darüber nachgedacht. In der Tat wurden Sauberkeit und Waschen im 18. Jahrhundert nicht so ernst genommen wie heute. Mir war es am wichtigsten satt zu werden und mein blankes Hinterteil zu verbergen.«

      »Konnten sie denn eine neue Hose auftreiben?«

      »Allerdings, aber erst nach drei Wochen! Zum Glück war es Sommer und auch damals zogen die Kinder zum Schwimmen im See ihre Kleidung aus. Das war meine Chance, und die habe ich in einem unbeobachteten Moment genutzt.«

      »Da wird sich aber einer ganz schön geärgert haben«, grinste Lilly, die sich nur schwer vorstellen konnte, das dieser sehr korrekte Mensch, der sich scheinbar ständig unter Kontrolle hatte, wochenlang mit nacktem Hintern quer durch Frankreich gelaufen ist.

      »Ich vermute es! Aber ich habe nicht auf die Reaktion gewartet. In jedem Fall habe ich gleich die ganze Montur genommen, also Hose und Hemd.«

      »Keine Schuhe?«

      »Wo denkst du hin? Schuhe für Kinder auf dem Land? Absolut unnormal!«

      »Und die Unterwäsche?«

      »Neuzeitlicher Kram.«

      Rául konnte an Lillys Gesicht erkennen, dass sie sich ernsthaft fragte, ob er noch immer keine Unterwäsche trug.

      »Zwischenzeitlich habe ich mich daran gewöhnt.«

      Lilly atmete tief durch.

      »Also, ich bin so schnell fortgelaufen wie ich konnte, habe mich dann irgendwo im Gebüsch versteckt und umgezogen. Das war gut, denn als normaler Bauersjunge hatte ich nicht immer sofort den Zorn der Bevölkerung zu befürchten.«

      »Und dann?«

      »Hab ich natürlich doch immer wieder Ärger bekommen, denn sobald ich meinen Mund aufgemacht habe, merkten alle sofort: der ist keiner von uns!«

      »Aber wie haben sie dann Nestor Nigglepot kennengelernt?«, fragte die Chinesin.

      »Irgendwann habe ich mich in einer der Höhlen von Savonnières versteckt, die nicht weit weg von Schloss Villandry liegen, wo ich groß geworden bin. Na ja, und da habe ich die Zeitmaschine von Nestor Nigglepot entdeckt ... und er mich.«

      »Wollte er sie zuerst auch loswerden?«, Lilly nahm sich einen weiteren Schwung Münzen vor.

      »Nein. Aber ich hatte fürchterliche Angst vor ihm. Maschinen waren für mich doch etwas völlig Unbekanntes. Er war so schick wie immer, mit seiner leicht übertriebenen Art und ich war ein kleiner Junge, total verdreckt, völlig verängstigt und trug Kleidung, die mir viel zu groß war.« Der Butler nippte an seinem Tee und fuhr fort: »Wir haben uns unterhalten, nachdem er mir, für mich einigermaßen glaubhaft, versichert hat, er wäre kein böser Geist. Darauf hin erzählte ich ihm, was mir widerfahren war und er hatte Mitleid. Er bot mir eine bessere Zukunft an und ich habe dieses Angebot zum Glück nicht ausgeschlagen.«

      »Mitleid?«, fragte Lilly.

      »Ja, Mitleid.«

      Es war für das chinesische Mädchen wirklich nicht leicht, aus Nestor Nigglepot schlau zu werden. Sie wusste, dass er nerven konnte, dass er oft nörgelte, sich offensichtlich gerne vor der Arbeit drückte und unglaublich eingebildet war. Aber sie wusste nicht, warum er sein gutes Herz so gerne versteckte.

      »Für mich war der Schock in diese Zeit zu geraten vermutlich noch schlimmer als für dich.«

      »Sind sie sich da so sicher?«

      »Das schnellste Fortbewegungsmittel war zu meiner Zeit das Pferd. Ich kannte keinen Strom, Wasser kam aus dem Brunnen und nicht aus dem Wasserhahn. Fliegen konnten nur Vögel und zwei verrückte Brüder, die ein Jahr nach meiner Geburt den Heißluftballon erfunden hatten. Neben Windmühlen und Wasserrädern gab es nichts, was auch nur entfernt an eine Maschine erinnerte. Und wenn man Musik hören wollte, sang man ein Lied, denn Radio gab es noch nicht!«

      »O.K.! Sie haben gewonnen!«, sagte Lilly anerkennend.

      »Ich hab’ es wirklich nicht bereut. Ich musste mein Essen nicht mehr stehlen und meine Kleidung hat mir schnell wieder gepasst. Alle meine Reisen mit Nestor Nigglepot waren sensationell und ich habe jede einzelne davon genossen.«

      »Aber wenn sie mit acht Jahren in diese Zeit hier gereist sind, warum sind sie dann jetzt ein alter Mann und Nestor Nigglepot nicht?«

      »Gute Frage, Lilly!«, sagte Rául und nahm sich den letzten noch unsortierten Haufen Münzen. »Ich wollte ganz einfach älter werden. Nur weil wir immer wieder in diesen Zeithafen zurückkehren, heißt das nicht, dass die persönliche Lebensuhr