Besondere Zeiten. Matthias Deigner

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Название Besondere Zeiten
Автор произведения Matthias Deigner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754931318



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fröhlichen Menschen zu beobachten, die sorglos und unbekümmert feierten. Sie, früher so oft Mittelpunkt, fühlte sich neuerdings in Gesellschaft von Menschen einsam. Einsamer als allein. Sie hörte die Stimmen und das Lachen und spürte, dass sie nicht dazugehörte. Nicht mehr. Ihre Probleme waren andere. Sie fühlte sich ausgeschlossen. Ausgestoßen. Eine dunkle Wolke von Traurigkeit schien sich über ihr Leben gebreitet zu haben.

      Mike, ihr Physiotherapeut, ermutigte und bestärkte sie, wenn der Kampfgeist sie verlassen wollte. »Hab’ Geduld«, mahnte er. »Das Leben ist etwas völlig anderes als ein Urlaub. Bei der Lebensreise kommt es nicht darauf an, möglichst schnell am Hotel, am Pool oder am Meer anzukommen, um zu entspannen. Hier ist die Reise das Ziel. Da geht es darum, möglichst viele ausgefüllte und spannende Tage zu erleben. Jeden Tag als ein Ziel für sich zu sehen.«

      »Ach ja«, höhnte sie, »und kannst du mir vielleicht auch verraten, wie ich das anstellen soll, Mr. Oberschlau?«

      Mike ging nicht auf die Provokation ein. »Du solltest eine weitere REHA machen. Dort wirst du genau das lernen. Die kümmern sich da auch um deine Psyche.«

      Sonja hangelte sich gerade mit zusammengebissenen Zähnen das vierte Mal am Barren entlang und versuchte, ihre Beine einzusetzen. Das gelang ihr eher mäßig. Ihr Atem ging stoßweise. Trotzdem quetschte sie hervor: »Spinnst du? Mein Kopf ist das Einzige, was bisher reibungslos funktioniert. Ich bin doch nicht verrückt! Meinst du, ich habe nicht genug eigene Probleme? Da muss ich mir nicht vier Wochen die Gesellschaft von menschlichen Wracks wie mir antun, die sich gegenseitig die Tiefs ihres Lebens erzählen.« Ausgepumpt ließ sie sich auf die Matte plumpsen. Sie fühlte sich, als wäre sie mit Anlauf gegen eine Wand gelaufen.

      »Ich habe es nicht so gemeint, das weißt du«, begütigte Mike. »Gegen deine Depressionen musst du dringend was unternehmen.«

      »Das haben die doch hier auch schon versucht und es nicht hingekriegt.«

      Mike schwieg.

      »Ich habe wirklich genügend gute Gründe, deprimiert zu sein«, sagte sie eingeschnappt. »Die kann niemand wegzaubern. Deshalb werde ich eben öfter mal deprimiert sein. Warum kann das bloß keiner akzeptieren?«

      »Depressionen sind gefährlich. Nimm das nicht auf die leichte Schulter.« Mike sah sie auffordernd an. »Bereit? – Los, noch eine Runde.«

      Er half ihr auf und legte ihre Hände auf die beiden Seiten des Barrens.

      Nach der Hälfte ächzte sie: »Mike, ich kann nicht mehr. Hilf mir!«

      Er trat an ihre Seite. »Doch, du kannst. Du schaffst es. Nur noch drei Mal umgreifen.«

      »Nein, Mike. Ich kann nicht. Wirklich!«

      »Du strengst dich nicht genug an. Du musst an deine Grenzen gehen und darüber hinaus. Jeden Tag. Wieder und wieder. Dabei ist dir dein Selbstmitleid im Weg.«

      Das nannte man wohl »jemandem die Luft rauslassen!« »Ach, und was meinst du, was ich hier tue?«

      Sonja ließ sich fallen, robbte zu ihrem Rollstuhl, hievte sich unter Aufbietung aller Kräfte und unter Zurücklassung ihrer Selbstachtung hinein und rollte weg. Was bildete sich dieser Neandertaler ein! Nicht genug anstrengen! Wie kam er bloß darauf?

      Sonja fuhr im Aufzug ins Erdgeschoss und schnurstracks Richtung Ausgang.

      Draußen schüttete es, als wollte die Welt untergehen. Sogar unter den überdachten Gang, den Sonja jetzt entlang rollte, trieb es den Regen. Sie zögerte kurz, dann trat sie den Rückzug an und gesellte sich zu denen, die am Eingang darauf warteten, dass der Regen ein wenig nachließ. Eine Frau mit langen, braunen Haaren und ausgezehrtem Gesicht fiel ihr auf, deren Augen tief in den Höhlen lagen. Sonja kannte sie flüchtig vom Sehen. Ab und zu saß sie im Wartezimmer der Physiotherapie, wenn Sonja herauskam.

      Sonja musste sie wohl angestarrt haben, denn die Frau lächelte sie unbefangen an und streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo, wir kennen uns von der Physiotherapie. Ich bin Bianca.«

      Sonja ergriff die dargebotene Hand. »Ich bin Sonja.«

      »Ich habe nicht immer so ausgesehen«, sagte Bianca. »Das macht der Krebs. Blasen-Karzinom. Sehr aggressiv. Tödlich aggressiv.«

      Sonja starrte sie entsetzt an. Wie alt mochte sie sein? Anfang, vielleicht Ende dreißig. Ihre ausgemergelten Züge machten es schwer, sie zu schätzen. »Tödlich?«, ächzte Sonja, betroffen von der Unverblümtheit der anderen. »Heißt das …«

      »Jep. Die Ärzte geben mir noch ein Jahr. Zwei vielleicht, wenn ich Glück habe.«

      Als sie Sonjas Blick sah, fügte sie schnell hinzu: »Es ist in Ordnung. Ich habe meinen Frieden damit gemacht. Es ist nur ... es ist so früh.«

      Sonja schwieg bestürzt. Bianca fuhr schließlich fort: »Noch habe ich ja einige Tage vor mir. Und ich werde jeden einzelnen davon nutzen. Ich verschwende keine Zeit.«

      »Das habe ich gemerkt!« Diese brutale, unerwartete Offenheit, und das von einer Wildfremden! Sonja fühlte sich wie paralysiert.

      »Ja, jeder Tag ist ein neues Ziel. Im Leben wechseln sich Sonne und Regen ab.« Bianca deutete nach draußen. »Schauen Sie, der Regen hört auf.«

      Sie zwinkerte Sonja zu. »Manchmal gibt es nach dem Regen wunderschöne Regenbogen.«

      Sonja folgte Biancas Handbewegung, und beide betrachteten fasziniert den gigantischen Regenbogen, der sich in der Ferne über der Stadt wölbte.

      Schlagartig wurde Sonja bewusst, wie viel Sehnsucht nach Leben in ihr war. Ja, sie hatte Schmerzen. Aber sie lebte! Sie machte Fortschritte. Sie würde sich noch mehr anstrengen! Möglicherweise tatsächlich eine REHA machen. Und zur Not gab es ja den Rollstuhl.

      Sie würde dafür sorgen, dass sie bald viele neue Bilder aufhängen konnte.

      »Ich fahre zurück zur Physio«, murmelte sie beschämt nach einem Blick auf die Uhr. »Ich habe noch eine Viertelstunde. Aber wenn wir uns das nächste Mal sehen, könnten wir zusammen etwas trinken gehen – wenn Sie wollen?«

      »Gerne!« Bianca strahlte. »Ich freue mich darauf.«

      Als Sonja ihren Rollstuhl wendete, regnete es noch immer leicht. Doch in den Ecken ihrer Mundwinkel nistete ein Lächeln, denn da war das Wissen um den Regenbogen.

      Erwachen

      Heike Roloff

      Herr Johanson öffnete die Augen. Wie an jedem Morgen in den letzten Jahren spürte er das Unglück. Es war noch vor ihm erwacht und trommelte seit einer halben Stunde schmerzhaft gegen seine Brust. Von innen.

      Herr Johanson hatte viel über dieses Unglück nachgedacht.

      Es schien ihm aus einer unerschöpflichen Quelle des Begehrens zuzufließen, auf deren Grund das Nichtverwirklichte seines Lebens in jedem Moment Wünsche formte.

      An diesem besonderen Morgen sollte sich Herr Johanson das erste Mal die Frage stellen, ob es nicht doch an der Zeit sei, alles zu verändern. Er dachte an eine kleine Drei-Zimmer-Küche-Diele-Bad-Wohnung mit Gäste-WC, Letzteres aus beruflichen Gründen. Er dachte an eine andere Frau in einer anderen Stadt. An eine größere andere neue frische Liebe. Kurz dachte Herr Johanson an einen anderen Herrn Johanson, einen schlanken, inspirierten, sexy Mann.

      Dann stellte sich Herr Johanson vor, wie er seiner Frau beim Frühstück mitteilen würde, dass er gedenke, sich eine eigene 3 ZKDB-Wohnung zu nehmen. Mit Gäste-WC.

      Er sah, wie in den ohnehin traurigen Augen seiner Frau jeder Sinn, den ihr Leben noch hatte, erlosch, und wie die Kraft, die noch da war, aus ihrem Körper floss. Er konnte sie als alte Frau mit der Einkaufstasche in der Hand sehen, wie sie allein durch die Straßen der Stadt ging, in der sie beide seit vielen Jahren lebten.

      Ganz kurz überlegte Herr Johanson, ob er sich nicht etwas vormachte, ob nicht – ganz im Gegenteil – seine Frau aufblühen würde, wenn er gegangen sein würde, ob sie nicht in kürzester Zeit eine neue Liebe finden und der traurige Ausdruck