Название | Geschichten des Windes |
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Автор произведения | Claudia Mathis |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753197715 |
Was soll ich nur machen?
Schon öfter war ihm der Gedanke gekommen, einfach für eine Weile wegzuschleichen und sich an seinem zweiten Lieblingsort, den Stallungen des Castles, zu verstecken. Dort würde seine Lieblingsstute Vika auf ihn warten, die sich immer freute, wenn er zu ihr kam und sie streichelte. Sie war ein geduldiges und sanftmütiges hellbraunes Wesen und hatte eine etwas gedrungene Statur.
Der Junge gab sich seinen Gedanken hin und die Sehnsucht nach Freiheit wurde fast übermächtig. So reifte in ihm der Entschluss heran, dieses Mal wirklich wegzulaufen.
Berauscht von einem Gefühl der Macht und Selbstbestimmtheit öffnete er sacht die Tür seines Gemachs und schaute mutig auf den langen Gang davor. Der Junge befand sich im obersten der zwei Stockwerke des so genannten Palais, dem größten und neuesten Gebäude des Castles.
Er hatte einen langen Gang und eine gewundene Treppe vor sich bis zur großen Eingangshalle, seinem Weg in die Freiheit. Es war zum Glück gerade die Zeit der Mittagsruhe und Maiga würde schlafen - so hoffte er.
Er schlich also los. Wie ein Geist versuchte der Junge leichtfüßig an den zu dieser Stunde glücklicherweise wenigen umher gehenden Bediensteten vorbeizukommen. Viele Schweißtropfen und unzählige Augenblicke angehaltenen Atems später erreichte er die massige eisenbeschlagene Eingangstür und öffnete sie so leise wie möglich. Euphorisch stellte er fest, dass sich vor dem Gebäude niemand aufhielt, sein Herz pochte bis in die Schläfen. Vorsichtig trat der Junge ein paar Schritte heraus und drehte sich um.
Der Palais hinter ihm bestand aus vier Flügeln und der Junge bemerkte zum ersten Mal, dass an manchen Stellen etwas hellere Steine verbaut waren, als ob sie nachträglich eingefügt worden wären. Gemeinsam mit der ihm so verhassten Kapelle, aus deren Fassade auch eine Menge hellere Steine hervor blitzten, umrandete es einen großen rechteckigen Innenhof mit Brunnen und einer gigantischen Eiche in der Mitte. Der Junge schaute sehnsüchtig zu diesem Baum mit den riesigen, weit ausladenden Ästen und dem dicken gefurchten Stamm. Seine Großmutter hatte ihm erzählt, dass der Baum von seinem Ururgroßvater im Jahre 1586 gepflanzt worden war. In diesem Jahr konnte der fünfjährige Bau des Palais beendet werden. Die Eiche trotzte dem kargen Boden, gedieh prächtig und war nun genau einhundert Jahre alt.
Seine Großmutter erzählte außerdem, dass die Ururgroßmutter des Jungen unbedingt ein neues, vor allem größeres und eleganteres Wohnhaus bauen lassen wollte. Sein Ururgroßvater aber war dagegen gewesen. Er verstand den Sinn hinter solch einem Bau nicht, denn ihm genügte das alte Tower House, in dem bereits viele seiner ehrwürdigen Vorfahren gewohnt hatten. Aber schließlich konnte er sich nicht gegen den Willen seiner Gemahlin durchsetzen. Diese bekam am Ende doch meistens das, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und dieses Mal war es sogar ein ganzes Haus. Der Palais sah mit seinen verzierten Fenstereinrahmungen, den Türmchen und der Galerie im Obergeschoss sehr hübsch aus, fand der Junge.
Er schaute zurück. Über die Dächer seines Wohngebäudes hinweg erblickte er das Tower House, den eigentlichen Bergfried des Castles. Es war das höchste Gebäude der Burg. Für den Jungen sah es aus wie ein riesiger Turm, in dem man wohnen konnte. Das Tower House hatte drei Stockwerke, die durch enge Wendeltreppen miteinander verbunden waren. Er bemerkte zum ersten Mal, dass auch hier offenbar nachträglich gebaut worden war und wunderte sich, warum er das nicht schon früher bemerkt hatte.
Der Junge kannte alle Kammern des Tower Houses und sogar den großen Keller mit den uralten Steingewölben. Sein Freund Angus, der alte Verwalter des Castles, wohnte im untersten Stockwerk und hatte ihm alles gezeigt. Viele Kammern waren verstaubt und mit alten Möbeln und allerlei Gerümpel vollgestellt. Außer Angus wohnten auch noch andere Bedienstete darin, zum Beispiel Kevin, der Gärtner, der den kleinen Gemüsegarten der Burg bewirtschaftete.
Der Junge machte sich vorsichtig auf den Weg und schlich auf Zehenspitzen voran. Als er den Hof verlassen hatte, kam er zuerst an einem Haus rechts von ihm vorbei. Man nannte es Waterton`s Lodging und es war eigentlich für den Sohn des Lairds und seine Braut gedacht. Also würde er selbst eines Tages darin wohnen, bis er der Laird des Castles sein würde. Zurzeit wohnte seine Großmutter Kendra dort. Das neben dem Palais klein wirkende Haus beinhaltete einige private Gemächer sowie eine große Halle und einen Zugang zum Haupthaus.
Hinter seinem zukünftigen Wohnhaus eröffnete sich rechts von dem Jungen ein großer freier Platz, der Bowling Green. Hier wurden die seltenen Feste der Familie McCunham gefeiert. Links von diesem befand sich die Mauer des Kirchhofes, in dem die Toten der Familie McCunham begraben wurden. Sein Vater hatte einmal mit ihm die Gräber besucht und versucht, ihm seine Ahnen zu erklären. Doch der Junge erinnerte sich nur mühsam an deren Namen.
Er ging weiter, kletterte auf eine kleine Anhöhe mit Mauer und hatte plötzlich einen atemberaubenden Ausblick auf das scheinbar endlose Meer. Der kalte Wind blies ihm einen Hauch von Freiheit um die Nase, denn Dunnottar Castle2 war keine gewöhnliche Burg. Sie lag schwindelerregende 160 Fuß 3über dem Meer und wurde von steilen Sandsteinklippen begrenzt. An diesen imposanten hellroten Felswänden brachen sich schäumend die Wellen der rauen Nordsee.
Die elf Gebäude des Castles befanden sich auf einem kleinen, annähernd runden Hochplateau, welches von struppigem, kurzem Gras überwachsen war. Nur ein schmaler Pfad verband die Landzunge Dunnottar mit dem Festland. Wenn man von diesem aus die Burg betreten wollte, musste man durch das massive, stark befestigte Torhaus gehen, welches vor langer Zeit in einem Felsspalt errichtet worden war.
Aber es gab noch einen zweiten Zugang zum Castle: auf der Nordseite der Klippen befand sich eine vom Meer geschaffene Höhle, von der ein äußerst steiler Pfad zu dem ebenfalls gut befestigten Hintereingang führte. Der Junge war diesen eindrucksvollen Weg ein paar Mal gemeinsam mit seinem Vater gegangen, wenn sie im Meer gefischt hatten. Er wunderte sich jedes Mal erneut, wie viele in Stein gehauene Stufen er hinaufsteigen musste, um vom Meer endlich bis zum Hintereingang zu gelangen. Mehrmals nahm er sich vor, sie zu zählen, aber immer musste er knapp nach der Hälfte aufgeben, weil er zu sehr mit dem Atmen beschäftigt war oder ihm die Zahlen ausgegangen waren.
Bei solchen Ausflügen zum Meer erzählte sein Vater stolz von den einstigen Erbauern von Dunnottar Castle. Sie hatten, wie er sagte, diesen Platz für die Burganlage gewählt, da die Lage strategisch günstig war und sie somit die nordschottischen Schifffahrtsrouten sowie auch ein langes Stück der Küste mit ihren endlosen Hügeln kontrollieren konnten. Die imposante Festung galt lange als uneinnehmbar. Sie benötigte nicht einmal eine Festungsmauer. Der Junge kannte zwar die Bedeutung des Wortes „strategisch“ nicht, aber er genoss die Erzählungen seines Vaters und die kostbaren Stunden mit ihm allein sehr.
Obwohl der edle Laird von Dunnottar Castle ein strenger und eigenbrötlerischer Mann war, mochte ihn sein Sohn aufgrund seiner ruhigen und manchmal durchaus humorvollen Art. Auf jeden Fall war ihm seine Gesellschaft lieber als die seiner Mutter, die ihn immer noch wie einen kleinen Jungen behandelte.
Am liebsten aber mochte er seine Großmutter. Sie war immer freundlich zu ihm und erzählte ihrem Enkel viele spannende Geschichten über seine Vorfahren und oft auch schottische Sagen. Und, da sie des Lesens fähig war, las sie ihm auch aus dem Geschichtenbuch vor.
Nach diesem kurzen Ausblick über das Meer machte sich der Junge auf den Weg zu seinem eigentlichen Ziel: den Stallungen des Castles. Das langgezogene Gebäude, neben dem sich noch die Schmiede und ein Lagerhaus befanden, lag direkt an den Klippen. Je näher er kam, desto intensiver wurde der Geruch von frischem Heu, Mist und Pferden. Der Junge lauschte dem vertrauten Schnauben.
Mit den elf Tieren war der Stall voll. Fünf davon dienten als Transportponys, die so genannten Garrons. Da der schmale Pfad zur Burg mit ungefähr zweihundert Stufen versehen war, konnte keine Kutsche in den Burghof hineinfahren. Es wurde alles von den robusten und besonders trittsicheren Ponys getragen.
Der Junge hatte die Boxen immer wieder gezählt und die Namen der Pferde