Der Herzog. Günter Tolar

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Название Der Herzog
Автор произведения Günter Tolar
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737552592



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      Günter Tolar

      DER HERZOG

      Historienroman

      Allen Menschen gewidmet, die ich in der Zeit, als ich das Buch geschrieben habe verlor. Es waren 18 Jahre – und sehr viele gute Freunde.

      Geschrieben 1989 – 2007

      KAPITEL 0

      Die Geschichte beginnt so schrecklich trivial. Anfangs der 1980er-Jahre wurde in Wien wieder einmal ein Palais von seinen Vorbesitzern geräumt zwecks gewinnbringender Veräußerung, vermutlich an einen russischen Financier. Bei solchen Aktionen wird natürlich alles Mögliche gefunden, besonders Dachböden sind ein potentieller Fundort längst verschollener Kostbarkeiten. Aber nicht alles, was man da findet, ist auch wirklich gleich als kostbar oder gar wertvoll erkennbar. Unter anderem fand sich da ein mit einer groben gelblichen, ziemlich faserigen Hanfschnur zusammen gebundener Packen von 19 recht dicken, unterschiedlich großen Heften. Genau genommen waren es keine Hefte, sondern grob geheftetes Papier. Die Schnur war mit einer Masche zu gebunden, konnte also leicht geöffnet werden. Die 19 Hefte waren voll beschrieben in einer kleinen und auf den ersten Blick ziemlich unfertig wirkenden Handschrift. Das sei es wohl ein Tagebuch, meinte der Finder, ein Angestellter der professionellen Räumungsfirma. Die Frau, die bei der Räumung dabei war, um vielleicht doch die eine oder die andere Kostbarkeit zu retten, sah sich das Tagebuch kurz an, stellte fest, dass ad hoc nicht einmal genau erkennbar war, von wem und wann es geschrieben worden war – und gab es frei zur Entsorgung. Ein Freund des Autors (oder Herausgebers) dieses Buches ist ein sehr eifriger und neugieriger Nachlass-Stöberer. Er nahm jedenfalls diesen Packen von 19 Heften an sich. Er tat dies mit voller Erlaubnis aller zuständigen Personen und Stellen. Man händigte ihm das Konvolut aus mit der Bemerkung: „Zum Anschauen, und wenn es nichts ist, schmeiß es weg.“

      Der Autor hat sich’s angeschaut und kam bald aus dem Staunen nicht mehr heraus.

      Unsere Situation ist nun so einfach, wie sie nur sein kann - und so kompliziert, wie sie nur sein kann.

      Das Einfache:

      Ein Graf Joseph Moritz von Dietrichstein hat ein Tagebuch hinterlassen. Das Bemerkenswerte an diesem Tagebuch ist, dass wir einen sehr persönlichen Blick auf die ersten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts bekommen. Noch bemerkenswerter aber ist, dass das Tagebuch hauptsächlich die Freundschaft und schließlich Beziehung des Joseph Moritz zu einer Figur von höchster politischer Brisanz erzählt: Zum Herzog von Reichstadt.

      Das Komplizierte:

      Joseph Moritz von Dietrichstein ist eine historisch völlig bedeutungslose Figur, er muss also mehr oder weniger mühsam erklärt werden, damit verständlich wird, wie er überhaupt mit dem Herzog von Reichstadt in einen so engen Kontakt kommen konnte.

      Der Herzog von Reichstadt war immerhin eine der hierarchisch und, wenn man das Wort verwenden will, blutmäßig höchstrangig angesiedelte Person, die die Geschichte jemals zu bieten hatte. Eigentlich hieß er Napoléon François Charles Joseph Bonaparte, als (nie als solcher amtierender) Kaiser der Franzosen trug er den Namen Napoleon II. Er war der einzige Sohn Napoleons I. und der Kaiserin Marie Louise. Und diese Marie Louise war immerhin die Tochter des österreichischen Kaisers Franz des I. Der (spätere) Herzog wurde am 20. März 1811 in Paris geboren und noch am Tag seiner Geburt zum ‚König von Rom’ ausgerufen. Napoleon I. ernannte nach seiner Abdankung 1814 seinen Sohn zum Nachfolger. Marie Louise ging mit dem damals dreijährigen ‚jungen Napoleon’ zurück an den Hof ihres Vaters nach Österreich. Am 28. Juni 1815, zehn Tage nach der Schlacht von Waterloo, wurde der Herzog in Abwesenheit von treuen Bonapartisten als Napoleon II. zum Kaiser der Franzosen ausgerufen, aber nach weniger als einer Woche offiziell wieder abgesetzt. 1818 erhielt er das böhmische Herzogtum Reichstadt. 1830, nach dem Sturz König Karls X., hatte der nunmehrige Herzog zwar die Volljährigkeit erreicht, war aber bereits zu stark an Tuberkulose erkrankt, als dass er noch um die Thronfolge hätte kämpfen können. Der Herzog starb am 22. Juli 1832 in Schönbrunn. Sein Nachfolger als Familienoberhaupt der Bonapartes wurde sein Vetter Napoleon III.

      Die Frage, die aber unser vorliegendes Vorhaben betrifft, lautet:

      Wie kam der unbedeutende Joseph Moritz von Dietrichstein überhaupt zum Herzog von Reichstadt?

      Das ist leicht erklärbar. Sein Vater Fürst Moritz Joseph Johann von Dietrichstein-Proskau-Leslie war als Erzieher für den gesamten ‚Bildungsgang’ des Herzogs von Reichstadt bis 1832 zuständig. Vater Dietrichstein war, als er den Herzog ‚übernahm’, vierzig Jahre alt, Generalstabsoffizier, Diplomat, Freund Beethovens und Schuberts, später – nach dem Tod des Herzogs - auch Hofmusikrat und Direktor der beiden Hoftheater.

      Seinem ganzen Naturell nach war Dietrichstein als Lehrer und Erzieher mit der Pedanterie ausgestattet, wie sie von ihm verlangt wurde und wie sie Bedingung war für seine Stellung als Erzieher des Königs von Rom und späteren Herzogs von Reichstadt. Metternich selbst traf im Auftrag des Kaisers die Auswahl und hatte zuerst den Grafen Vecchioli vorgesehen. Des Herzogs Mutter Marie Louise und der Kaiser selbst entschieden aber für Dietrichstein. Weil Dietrichstein nicht seine Wahl war, mutmaßt man, dass Metternich die Bedingung der ‚äußersten Pedanterie’ stellte und nicht anstand, für jeden Fehler, den der Zögling machte, den Erzieher zur Verantwortung zu ziehen. Denn eines war klar: Der Zögling machte schon von seiner Herkunft her keine Fehler. Des Erziehers Pedanterie musste also nicht nur eine höchst flexible, sondern auch eine vorauseilende sein. Er musste alle Fehler, Launen, Streiche, Aktionen und Reaktionen des ihm anvertrauten königlichen Blutes vorausahnend abfangen. Dazu musste er gute Gründe vorweisen können, denn der Herzog begann sehr bald zu fragen, warum dies erlaubt und dies nicht erlaubt sei.

      Der Herzog hatte aufgrund seiner historisch bedingten Isolation nur wenige Ansprechpartner. Dazu kam, dass er sehr bald bemerkte, dem Grafen Dietrichstein hierarchisch um einiges überlegen zu sein. Er fragte daher ungestüm und forderte die Antworten gleichsam als ein ihm zustehendes Recht, er sah es als Pflicht des Gefragten, nun gefälligst zu antworten.

      Wir finden das alles in dem Tagebuch seines Sohnes Joseph Moritz, den 19 mehr oder weniger großen Heften, aus den Spinnweben des alten Dachbodens eines alten Wiener Palais gerettet.

      Wir haben es dabei mit zwei ‚Kategorien’ von Tagebuch zu tun. Das eine ist das begleitende Tagebuch, in dem also das Erlebte mehr oder weniger tagtäglich aufgezeichnet wurde. Als zweite ‚Kategorie’ haben wir den Bericht ‚Was vorher geschah’ vor uns liegen. Joseph Moritz begann im Jahr 1831, dem Jahr, in dem er seinen 30. Geburtstag beging und ein Jahr vor dem Tod des Herzogs, alles Bisherige aufzuarbeiten.

      In den ersten 2 Kapiteln werden wir vorerst aus dem echten Tagebuch zitieren, um dem geneigten Leser die Möglichkeit zu bieten, sich einzulesen. Ab dem 4. Kapitel beginnt dann die komplette Aufarbeitung der vorangegangenen Jahre durch Joseph Moritz von Dietrichstein.

      Alle Einteilungen, die wir hier schildern, sind nicht etwa das Ergebnis von Mutmaßungen oder Spekulationen, sondern entstammen samt und sonders den Notizen des Menschen, der uns jetzt durch zwei Leben führen wird: Sein eigenes und das des Herzogs von Reichstadt.

      KAPITEL 1

      „Er fragt und fragt“, klagte Vater heute wieder, und das Abendmahl wollte ihm so gar nicht munden. „Er treibt den Foresti schier zur Verzweiflung!"

      Der frühere Hauptmann Johann Baptist Foresti war der zweite Lehrer des Herzogs und wurde erster, als der vorherige erste Lehrer Matthäus von Collin im Jahr 1824 gestorben war. Der ‚Franz’ im Folgenden ist übrigens der Herzog von Reichstadt.

      „Was will er denn wissen?", erlaubte ich mir zu fragen, wohl wissend, daß der Franz mit purer Absicht so viel fragte und seine Lehrer gerne transpirieren sah.

      Vater fuhr auf: „Frag’ Er jetzt nicht auch noch! Ich möcht’ wenigstens daheim einmal nicht dauernd gefragt werden!“

      Dann vertiefte er sich doch in die Suppe, die Haut an der Oberfläche wieder, wie er’s immer tut, über den Löffel ziehend, daß es mir ekelte.

      Ich muß dem Franz sagen, er soll ihn nicht so quälen, dem Vater schmeckt die Suppe nicht mehr.

      Dabei hatte Vater Dietrichstein eine wunderschöne Möglichkeit,