Tschapka. Mike Nebel

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Название Tschapka
Автор произведения Mike Nebel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748592488



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von Erfolg und Misserfolg für mich. Nur den Fuß in eine fremde Wohnung zu setzen, wertete ich ab diesem Moment bereits als einen großen Bim-Bam. Erfolg auf ganzer Linie, immer gezuckert mit einem „Bin nah dran“, so fest niedergeschrieben, als ob es wirklich so gewesen wäre. Für Manfred war alles nah dran. Bei jeder Leerfahrt, sogar bei jedem Schluck Cola-Wodka schien er mir nah dran zu sein.

      Nach einer weiteren Stunde Fahrt durch die Stadt – das kurze, erfolglose Bimmeln an zwei Haustüren war währenddessen kaum der Rede wert –, hielt ich den Moment für gekommen, dass uns die hohe Mathematik dieses Mal wieder einen echten Besuch bereithalten würde. Doch ich lernte, dass auch die hohe Wahrscheinlichkeitsrechnung mal Fehler machen konnte. Wir mussten zwei weitere Klingelmanöver an Haustüren durchstehen, die wieder im Nichts verendeten. Der Nachmittag ging für Manfred denkbar schlecht los und genauso schlecht weiter. Wir kamen jetzt auf vier Leerfahrten und ich dachte einen kurzen Moment, Manfred würde am Steuer zu Weinen beginnen. „Herr Schlüter, Mitte Sechzig, Großvater“, las ich und was mich verwunderte, auf dem Zettel stand noch der Hinweis „Gehfehler, kann nicht richtig laufen“. Was die Leute doch am Telefon alles über sich erzählen. Oder aber die Anrufer der Firma fragen Dinge wie: „Gibt es bei Ihnen irgendwelche Besonderheiten, die wir wissen sollten?“

      Manfred läutete bei Herrn Schlüter im Zehnsekundentakt, ohne das sich was rührte und erklärte mir unterdessen: „Wenn der Mann nicht richtig laufen kann, dauert es halt, bis er sich zur Tür schleppt.“ Dann folgte, er war schon nervlich ziemlich durchgeschüttelt, von ihm echtes Sturmklingeln. Als das nichts half, schlug er gegen die Eingangstür des Wohnblockes. Wie ein Irrer.

      „Ich muss mit Herrn Schlüter reden, ich muss von Schlüter einen Auftrag bekommen, jetzt!“, schrie Manfred gegen die geschlossene Eingangstür. Es war ein letztes Aufbäumen, dann legte er seinen Kopf gegen die Tür und war in sich gekehrt. Verstummt im Angesicht der erneuten Niederlage. Er drehte ab und gab auf. Ich fühlte mich dabei ziemlich schlecht, dachte kurz an aufbauende Bemerkungen wie „beim Nächsten reißen wir es wirklich“, doch war ich mir unsicher, wie jemand, der derart massiv auf der Verliererstraße fährt, reagieren könnte. Im Wagen angekommen, schrieb er wieder für alle neuen Fehlversuche: „Bin nah dran!“ Mittlerweile konnte ich „Bin nah dran“ nur noch in „Bin nah dran am Rauswurf“ übersetzen. Auf der nächsten Karte stand: älteres Akademiker-Ehepaar, Töchter, Söhne und mehrere Enkel. Er Hochschulprofessor, sie Grundschullehrerin. Na dann viel Spaß Manfred.

      Wir mussten raus aus der Stadt und fuhren in ein Wohngebiet, gespickt mit Einfamilienhäusern in naturnaher Umgebung. Großzügige Villen mit altem, viele Meter hohem Baumbestand. Alles wirkte nach einer willkommenen Abwechslung. Statt Mietskasernen, Villenviertel. Du bist nah dran, Manfred, bist nah dran. Ich sprach zu mir selbst und gönnte ihm von Herzen wenigstens einen Auftrag an diesem Tag. Oder nur wirklich ganz nah dran zu sein. Die Auffahrt war mit Limousinen zugeparkt, und so stellten wir uns in eine kleine Seitenstraße. Noch angeschnallt, zeigte ich kurz direkt auf seine Skibrille und er verstand diesmal sofort. Bevor wir läuteten, strich sich Manfred vor der Haustür mehrere Male über seine dünne rote, schlangenartige Krawatte. Die Tür war eher ein Tor, welches wie ein Halbmond aus tiefdunklem Holz geschnitzt aussah, als würde man sich nach Betreten in einem südländischen Museum wiederfinden.

      „Manfred, warte, läute noch nicht! Mach dein Jackett bitte zu!“ Ich war zwar alles andere als eine modische Leuchte, aber die ganz absurden Sachen sah ich schon. Aus seinem Jackett guckte nun unten ein roter Schlangenkopf hervor. “Mach es wieder auf!“

      Geöffnet und ihm direkt gegenüber stehend war es noch schlimmer. Um ehrlich zu sein, er sah aus wie jemand, den man problemlos an seiner Schlange durch die Straßen hätte hinterherziehen können, oder sogar müssen. Wir hatten nun fast einen ganzen Tag miteinander verbracht und mittlerweile hatte ich keine Probleme mehr damit gehabt, ihn lange und intensiv einfach zu beäugen. Zum Gelderwerb hätte ich mich mit ihm auch in einer Fußgängerzone vor einem Kaufhaus stellen und die Passanten fragen können: “Wollen Sie mal für eine Mark an der Krawatte von diesem Mann ziehen?“

      Doch nun dachte ich an das ältere Akademiker-Ehepaar hinter dem hölzernen Halbmond, der Mann in Pullunder und Golf-Hose, seine Frau in keine Ahnung was, was Schickes halt für den Nachmittagstee. Wäre dies der Fall, Welten würden zwischen uns liegen. Und dies nur optisch.

      Ich überließ Manfred das Läuten an der Tür. Es war ein tiefes Ding-Dong mit einem langen Nachhall, der noch immer zu hören war, als sich der hölzerne Halbmond öffnete. Ich blickte mit gesenktem Kopf in das Gesicht einer alten, asiatischen, sehr kleinen und krummen Frau, die uns freundlich hineinbat, um sodann in gebückter Haltung auf filzigen Pantoffeln in das Innere des Hauses voran zu tapsen. Nach Überschreiten der Türschwelle in den Wohnraum, überkam mich das Gefühl, Teil eines Gemäldes zu sein. Mittig im Raum stand ein Paar im gesetzten Alter, kerzengerade und stocksteif und beide waren außergewöhnlich große Menschen. Die anwesenden Herrschaften wirkten so, als ob sie auf dem Sprung ins Theater oder noch bedeutender, sich für einen Empfang im Kreise von irgendwelchen lokalen Politikgrößen herausgeputzt hatten. Der Herr Professor trug einen Frack mit einem dezent blauen, gestülpten Tuch am Hals und ein weiteres guckte spitz aus der oberen Brusttasche hervor. Seiner Gattin fiel vom Hals bis zu den Knien ein Kostüm herab, welches ich wirklich auch als Kostüm wahrnahm und sie steckte in einer pfirsichfarbenen Strumpfhose, alles sozusagen Ton in Ton. In ihren Händen hielt sie eine Tasse Tee oder Kaffee, die eine Hand an der Untertasse, die andere die Obertasse haltend, alles sehr anmutig mit abgespreizten Fingern. Dass die Hausherrin überhaupt lebte, vernahm ich erst, als sie die Tasse galant an ihren Mund führte. Damit war zwar das Stillleben, was sich mir bot, durchbrochen, aber allzu lang hätte ich diese Situation der absoluten Regungslosigkeit auch nicht mehr durchstehen können. Ihrem Gatten fehlte irgendetwas in seiner Gesamterscheinung. Das Bild des Professors war irgendwie nicht vollkommen. Der Künstler des Gemäldes hätte ihm einen Zylinder verpassen müssen, was er jedoch vergaß. Ich trat in Gedanken einen kleinen Moment weg und sah, wie der Herr Professor einen Schritt auf mich zu machte, dabei seinen Zylinder – einen solchen, wie man ihn von Zirkusdirektoren her kennt – zu mir herabschwingen würde, und aus dem Zylinder sah ich ein weißes Kaninchen hervorkrabbeln. Um den plüschigen Hals des rotäugigen Putzig blickte ich auf ein Band, in dem ein Fünfhundert-Mark-Schein eingewickelt war. „Herr Luschke, ein kleines Willkommensgeschenk für Sie, damit Sie morgen ihre Hotelrechnung begleichen können.“ Der Herr Professor machte tatsächlich einen Schritt zu mir und begrüßte mich mit festem Händedruck, nur von seinem Zylinder und dem Kaninchen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Was die Realität doch alles anrichten kann.

      Der Wohnraum um das Ehepaar herum, hatte von Beginn an eine einzige traumatische Wirkung auf mich. Es war nicht nur die unglaubliche Größe, alles wirkte wie in einem nostalgischen Herrenhaus von Kolonialisten irgendwo in Afrika vor hundert Jahren. Das Mobiliar war aus schwerem tiefdunklem Holz, sämtliche Tür- und Schubladengriffe waren aus poliertem Messing oder Gold, und der Salon – ich stand in nichts anderem als in einem Salon – war mit Antiquitäten, eisern oder hölzern, bis an den Rand des Erträglichen gefüllt. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie an einem solchen Ort, sonntäglich, eine Gruppe von europäischen Farmern zu gutem Whisky zusammenkamen. Einige würden auf der dunkelgrünen, ledrigen Couch und in den Sesseln whiskyglasschwenkend sitzen, andere würden mit einer Hand leicht auf den Rücklehnen gestützt aristokratisch genau dort stehen, wo es bestens ins Bild passen würde. Ich konnte förmlich ihren Gesprächen lauschen.

      „Wenn es nicht bald zu regnen beginnt, werde ich dieses Jahr in ernste Schwierigkeiten mit meiner Ernte geraten.“ „Wir hoffen alle, mein lieber Mortimer. Bei mir haben letzte Nacht die Löwen wieder einige meiner Ziegen gerissen.“

      Ja ja, die armen Ziegen, ja ja, der wunderschöne Salon, in dem ich stand. Mit einer anmutigen kleinen Handgeste des Hausherrn durften Manfred und ich auf der tiefgrünen Ledergarnitur Platz nehmen. Das ohne Zweifel tonnenschwere Möbelstück war derart hoch, dass ich bei normaler Sitzposition nur mit meinen Zehenspitzen den geölten Holzboden berühren konnte. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, aber noch porig offen, sodass viele kleinste Lichtstreifen in den Salon fielen und von den mir gegenübersitzenden Eheleuten, durch viele ihrer Körperstellen, wie gemalt und auf wundersamste Art und Weise gebrochen wurden. Es hätte jemand