DER WIDERSACHER. Eberhard Weidner

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Название DER WIDERSACHER
Автор произведения Eberhard Weidner
Жанр Языкознание
Серия Anja Spangenberg
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750214880



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      Anja seufzte, senkte den Blick und sah sich das oberste Foto an. Es war in der Tiefgarage, allerdings aus einiger Entfernung aufgenommen worden, sodass die Frauenleiche im Hintergrund kaum als solche zu erkennen war. Sie nahm das Foto und steckte es nach hinten. Bei der nächsten Aufnahme war der Fotograf schon näher dran gewesen, doch noch immer war von dem Leichnam kaum etwas zu erkennen. Man konnte allerdings die beiden bunten Einkaufstüten und die Handtasche sehen, von denen Plattner gesprochen hatte und die inzwischen weggeräumt worden waren. Sie besah sich aufmerksam ein Bild nach dem anderen. Da sich der Fotograf dem Leichnam immer mehr angenähert hatte, nahm dieser immer mehr Raum auf den Aufnahmen ein, wodurch auch immer mehr Details erkennbar waren, bis die Leiche schließlich in Großaufnahme und all ihrer Schrecklichkeit zu sehen war. Anja erschauderte bei dem Anblick, doch es war nichts gegen das Angstgefühl, das sie stets hatte, wenn sie sich in direkter Gegenwart einer menschlichen Leiche befand.

      Langsam arbeitete sie sich durch den Stapel in ihrer Hand und beäugte eine Aufnahme nach der anderen aufmerksam. Doch nichts, was sie darauf sah, erklärte, warum sie hier war. Doch dann war auf einer der letzten Aufnahmen in Großaufnahme eine rechteckige weiße Karte zu sehen. Die Karte war ihr bereits vorher aufgefallen, denn sie hatte in der Nähe der einzelnen Stichwunde auf dem Leichnam gelegen, Anja hatte ihr aber keine besondere Bedeutung beigemessen. Doch nun, aus unmittelbarer Nähe, erkannte sie, dass es sich um eine Visitenkarte handelte. Und nicht etwa um irgendeine Visitenkarte, denn Anjas Name, ihr Dienstgrad und ihre dienstliche Telefonnummer standen darauf.

      Jäh überkam sie ein Gefühl von Déjà-vu, als sie sich unwillkürlich daran erinnerte, dass schon einmal Visitenkarten von ihr an mehreren Tatorten zurückgelassen worden waren. Damals hatte ihr Widersacher mit der Hilfe eines Serienkillers versucht, ihr mehrere Morde an Menschen, die sie in ihrer Kindheit gekannt hatte, in die Schuhe zu schieben. Beinahe wäre ihm das auch gelungen. Zeitweise hatte Anja sogar selbst geglaubt, sie hätte die Morde im Alkoholrausch begangen, und deshalb sogar Beweismittel beiseitegeschafft, die sie belasteten. Der Anblick der Visitenkarte weckte in Anja nun zahlreiche ungute Erinnerungen, denn es war damals ausgerechnet Krieger gewesen, der sie aufgrund der Spurenlage der Morde verdächtigt hatte. Nachdem schließlich der wahre Täter getötet worden war, hatte sich Krieger bei ihr entschuldigt; allerdings war er seitdem stets besonders misstrauisch ihr gegenüber gewesen. Er war davon überzeugt gewesen, dass Anja ihren Kollegen wichtige Informationen vorenthalten hatte und insgeheim ihr eigenes Süppchen kochte. Und damit hatte er nicht einmal unrecht gehabt, auch wenn er ihr dabei kriminelle Motive unterstellt hatte, die sie nicht besaß.

      »Jetzt wissen Sie, warum Sie hier sind«, sagte Plattner.

      Anja hob den Blick und sah ihn an. »Aber ich kannte die Frau doch gar nicht.«

      »Sind Sie sich sicher?«

      Sie nickte. »Absolut! Ich bin dieser Psychiaterin noch nie im Leben begegnet.«

      »Warum hat der Täter dann Ihre Visitenkarte auf die Leiche gelegt?«

      »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Anja seufzte. »Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass dahinter derselbe Kerl steckt, der meinen Vater, meinen Mann und Krieger umgebracht hat. Anscheinend hat er wieder damit begonnen, seine Spielchen mit mir zu treiben.«

      Englmair nickte. »Das dachte ich mir auch gleich, als ich die Visitenkarte sah. Deshalb hielt ich es für das Beste, dass du von der Sache erfährst.«

      »Wovon redet ihr zwei eigentlich?«, fragte Plattner irritiert.

      »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Anja und sah Englmair fragend an.

      Der zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es besser, wenn wir ihn einweihen. Schließlich spielt er jetzt in unserem Team.«

      »Einweihen in was?«

      Anja nickte und sah Plattner an. »Es gibt da jemanden, der es auf mich abgesehen hat und mir seit einiger Zeit immer wieder das Leben schwermacht, indem er Leute umbringt oder umbringen lässt. Anschließend verwickelt er mich dann in diese Mordserien, indem er mir Nachrichten schickt oder es so aussehen lässt, als hätte ich die Taten begangen. Fragen Sie mich aber bitte nicht, warum er das tut, denn das weiß ich nicht. Ich nenne diesen Mann den Widersacher. Wenn er allerdings im Darknet mit anderen Psychopathen kommuniziert, dann lässt er sich von ihnen Jack nennen.«

      »Jack?« Plattner lachte. »Wie in Jack the Ripper etwa? Echt jetzt? Ihr wollt mich bloß verarschen, oder? Das ist ein Streich, den man den Neulingen in der Mordkommission spielt. Und gleich kommen die Kollegen hereingestürmt, lachen sich scheckig, weil ich euch auf den Leim gegangen bin, und rufen: ›Hereingelegt, Grünschnabel!‹«

      »Schön wär’s«, sagte Englmair und sah Anja an. »Wieso sind wir nicht auf diese Idee gekommen?«

      Anja zuckte mit den Schultern. »Vermutlich, weil man mit so etwa, vor allem an einem Tatort wie diesem, keine Scherze treibt.«

      »Daran wird’s wohl liegen«, stimmte Englmair zu.

      »Ihr meint das also wirklich ernst?«, fragte Plattner noch einmal nach. Das Grinsen war ihm scheinbar vergangen, denn er guckte reichlich konsterniert aus der Wäsche.

      »Todernst!«, versicherte ihm Anja. »Außerdem haben wir uns den Namen nicht ausgedacht, den hat er selbst gewählt. Vermutlich ist die Assoziation mit dem berühmtesten Serienmörder aller Zeiten dabei durchaus beabsichtigt. Der Widersacher ist allem Anschein nach sehr von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt. Und dazu hat er auch allen Grund, denn bislang ist es niemandem gelungen, ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen oder auch nur seine wahre Identität zu enthüllen.«

      »Und was hat dieser mysteriöse Jack so alles angestellt?«, fragte Plattner.

      »Soweit wir wissen, begann alles vor annähernd sechsundzwanzig Jahren. Damals wurden hier in München drei Mädchen entführt, die bis auf ihr langes dunkelbraunes Haar, das Geschlecht und die Altersgruppe kaum etwas gemeinsam hatten. Ich kannte sogar eines der Mädchen; sie hieß Helena und ging mit mir in eine Klasse. Mein Vater war damals für die Vermisstenfälle zuständig und leitete zusammen mit seinem Partner die Sonderkommission, die gebildet worden war. Doch noch während der Ermittlungen starb mein Vater. Ich fand damals seine Leiche, als ich nach Hause kam und die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete. Der Widersacher hatte ihn getötet, weil mein Vater ihm vermutlich auf die Schliche gekommen war und zur Rede gestellt hatte. Er hatte den Mord allerdings erfolgreich als Selbstmord inszeniert, sodass jahrelang alle – auch ich – davon ausgingen, er hätte Suizid begangen.« Anja verstummte und verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an damals, die sie noch heute gelegentlich in furchtbaren, immer wiederkehrenden Albträumen quälten.

      »Und was passierte dann?«, fragte Plattner neugierig.

      »Danach geschah erst einmal lange Zeit gar nichts«, sagte Anja. »Vielleicht trieb Jack woanders sein Unwesen, möglicherweise im Ausland, denn ich kann nicht glauben, dass jemand wie er von heute auf morgen einfach mit dem Morden aufhört.«

      »Und die drei verschwundenen Mädchen?«

      »Sind nie wieder aufgetaucht«, antwortete Englmair, den Anja nach Kriegers Tod in alles eingeweiht hatte.

      »Stattdessen ist vor fast etwa zweieinhalb Jahren der Widersacher wieder in Erscheinung getreten«, fuhr Anja fort. »Allerdings nicht persönlich, sondern mithilfe einer Reihe anderer Killer, die er als Werkzeug benutzte. Außerdem schickte er mir Nachrichten, sodass ich in die Mordfälle involviert wurde. Auf diese Weise erfuhr ich auch, dass mein Vater sich nicht selbst getötet hatte, sondern von Jack ermordet worden war. Und dass der Widersacher sich noch im Haus aufhielt, als ich den Leichnam meines Vaters fand. Darüber hinaus ermordete er meinen Mann und ließ es ebenfalls wie einen Suizid aussehen, um ihm die Schuld an mehreren Morden in die Schuhe zu schieben, die in Wahrheit eines seiner Werkzeuge begangen hatte.« Anja verstummte und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vor, Plattner hier und jetzt alles haarklein zu erzählen. Es genügte, wenn er die groben Umrisse der Geschichte kannte. »Seitdem versuche ich herauszufinden, wer der Widersacher ist, um ihm endlich das Handwerk zu legen.«

      »Und