Leben, mit meiner "Freundin" der Depression. Stephan Falkenstein

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Название Leben, mit meiner "Freundin" der Depression
Автор произведения Stephan Falkenstein
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783753187792



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uns Kindern verlangt. Von Klein auf wurden wir dazu erzogen uns anständig zu benehmen, Zuhause wie auch in der Öffentlichkeit.

      Beim Essen durften wir nicht reden, auch wenn wir bei der Verwandtschaft oder im Lokal waren, es sei denn, wir wurden etwas gefragt oder dazu aufgefordert. Wir hatten still zu sitzen und wenn wir nach dem Essen aufstehen durften, dann hatten wir nicht zu rennen oder zu toben und uns still zu verhalten.

      Vor älteren hatten wir Respekt zu haben, sie zu grüßen, ob wir sie kannten oder nicht, ob wir wollten oder nicht. Einmal wollte ich einen Nachbarn nicht grüßen, weil er uns unseren Ball nicht wieder gegeben hatte, der aus Versehen in seinem Garten gelandet war. Das gab natürlich Ärger von meinem Vater, als wir nach Hause kamen und Mutter ihm berichtete. Erst den Ball in Nachbars Garten schießen und dann auch noch die Frechheit zu besitzen, den guten Mann nicht zu grüßen. Na, das gab wieder Theater.

      Im Bus hatten wir unseren Sitzplatz anzubieten, Türen zu Geschäften oder Behörden zu öffnen oder für die Leute offen zu halten. Das hat natürlich etwas positives und das höflich sein hat uns ja auch nicht geschadet. Aber das, wie es uns anerzogen wurde, mit dieser Strenge und Härte, das hatte uns Kinder versaut. Fast schon wie eine Gehirnwäsche. Diese Höflichkeitsfloskeln waren so in meinen Kopf gebrannt, dass ich selbst noch mit über 20 Jahren Türen öffnete, durch die ich selbst gar nicht gehen wollte oder ich ältere Menschen gegrüßt habe, die mir entgegen kamen, die ich gar nicht kannte. Solange, bis es mir selbst auffiel und ich mich fragte, ob ich bescheuert bin, für diesen griesgrämigen Mann oder diese unfreundliche Frau überhaupt einen Finger zu krümmen.

      Mir diese eingebläuten Dinge abzugewöhnen war eben so schwer, wie das schlechte Gewissen zu verbannen, das ich hatte, als ich aus der Kirche ausgetreten bin, weil ich nicht an den Gott glaubte, wie er von der Kirche gepredigt wird. Und trotzdem hatte ich eine Zeitlang Angst vor seiner Strafe, falls es ihn doch gäbe.

      In unserer Wohnung habe ich mich meistens in unser gemeinsames Kinderzimmer zurück gezogen. Nur selten und wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, bin ich abends mit ins Wohnzimmer zum gemeinsamen Familien-Fernsehabend gegangen.

      Ich glaube, das fing da an, als ich die schlechteste Erfahrung gemacht habe, die ein Kind machen kann.

      Steige niemals in fremde Autos

      Nur acht Kilometer von uns war ein kleiner Ort, der eine Justizvollzugsanstalt hatte. Mit geschlossenem und offenem Vollzug. Daher haben mir meine Eltern immer wieder gepredigt, dass ich mich nicht von fremden Leuten ansprechen lassen soll, wobei egal war, ob Mann oder Frau. Auch, dass ich niemals in fremde Autos einsteigen solle, auch wenn mir gesagt würde, dass ich z.B. von der Schule nach Hause gefahren werde und dieses mit meinen Eltern abgesprochen sei.

      Wenn mal einer aus der Anstalt geflohen ist, war das natürlich Gesprächsthema Nummer eins unter uns Kindern. Es war schon fast abenteuerlich, als wir uns ausmalten, dass der als Anhalter in unseren Ort kommt und jemanden überfällt. Vielleicht die alte Frau auf der anderen Seite der Bundesstraße, die wir nicht mochten. Oder eine Bank ausraubt oder die Tankstelle, die nur zwei Grundstücke neben der alten Frau war. Ja, das war aufregend für uns Kinder, ich war vielleicht gerade neun oder zehn damals.

      Da konnten sich meine Eltern auf mich verlassen. Ich wäre nie mit fremden Leuten mitgegangen. Obwohl damals einige ausgebrochen sind oder von ihrem Freigang einfach nicht zurück gekehrt waren, ist glücklicherweise nichts passiert. Wir hatten in unserem Alter ja keine Ahnung davon, dass es sich auch um Triebtäter handelte.

      Es kam alles anders als ihr jetzt denkt. Ja, auch ich wurde damals ein Opfer von sexuellem Missbrauch. Ich war irgendwo zwischen 10 und 11 Jahre alt. Ich bin mit keinem fremden mitgegangen und zu niemandem ins Auto gestiegen. Das wusste ich ja von meinen Eltern. Aber die haben mir damals nicht verboten, mit jemandem mitzugehen, den ich kannte und zwar gut kannte.

      Alle, die in unserer Straße wohnten kannten den Typen. Der eine mehr, der andere weniger. Wir Kinder haben ihn wohl am meisten gesehen. Er war wesentlich älter als wir und hatte wohl keine Freunde in seinem Alter. Ab und zu hat er uns ein Eis aus seiner Wohnung geholt oder uns Bonbons geschenkt. Mit den etwas größeren hat er sich auch öfter unterhalten. Er war nett, manchmal sogar sehr lustig. Er hat auch nicht, wie manch andere Nachbarn, geschimpft, wenn wir beim Spielen den Ball in seinen Garten geschossen hatten.

      Irgendwann war ich mal mit ihm alleine. Er hat mir in seiner Garage Matchbox Autos gezeigt und ein größeres Flugzeug, was geflogen ist, wenn man den Propeller aufzog. Er fragte mich, ob ich ein Eis haben möchte. Welches Kind würde da schon "Nein" sagen.

      Irgendwann öffnete er seine Hose und versuchte mich dazu zu bringen, ihn mit der Hand und etwas später oral zu bedienen. Mir wurde kotzübel und ich wollte das nicht. Nachdem er den Druck auf mich erhöht hatte und ich mich fast übergeben musste, ließ er vorerst von mir ab.

      Er lockte mich ins Haus, und obwohl er versprochen hatte, dass er sowas nicht mehr machen würde, wurde es in den nächsten Stunden zum Alptraum für mich.

      Ich wusste gar nicht, was gerade passiert war. Nur, dass es sich nicht richtig anfühlte. Ich fühlte mich so schmutzig und ich schämte mich. Ich hatte das Gefühl, dass mich jeder anstarren würde und mir ansah, was mit mir passiert war.

      Er hatte mir Spielzeug geschenkt. Ich sollte niemandem etwas erzählen, das wäre ein Geheimnis. Er fragte mich, ob ich wüsste was ein Geheimnis ist. Natürlich wusste ich das! Wenn ich das Geheimnis verraten würde, dann würde er allen Kindern in der Straße und den Nachbarn erzählen, was ich gemacht habe.

      Nach dem Spielzeug kamen Drohungen, er würde mich verprügeln und meinen Bruder auch. Und mir würde eh niemand glauben, weil ich ein Kind bin. Und außerdem ist sowas gar nicht schlimm, weil das alle machen würden und es etwas ganz normales sei.

      Selbst in und nach dieser Situation kam meine strenge Erziehung durch. Ich wurde dazu erzogen, Leute, die älter waren als ich, zu respektieren, zu hören und artig zu sein. Und obwohl es sich falsch angefühlt hatte, habe ich nichts meinen Eltern verraten.

      Davon wussten meine Eltern über 37 Jahre nichts. Ich habe nichts davon gesagt, weil ich mich geschämt hatte. Und später habe ich nichts erzählt, weil schon soviel Zeit vergangen war und ich mich noch mehr schämte. So verdrängte ich es Jahrzehnte und es kam erst wieder in meiner tiefsten Depression an die Oberfläche.

      Warum ist das so wichtig, was ich erzähle?

      Diese Situationen führen zu gleichen oder ähnlichem Ergebnissen im Unterbewusstsein, wie zum Beispiel, warum sich manche Menschen davor ekeln, den Mülleimer zu leeren oder den Biomüll zu entsorgen.

      Wenn du als kleines Kind, dass gerade laufen kann und total neugierig auf deine Umgebung, auf Erkundungstour gehst, landest du irgendwann an der Tür vom Spültischunterschrank, hinter der in einem Abfallbehälter der anfallende Müll gesammelt wird.

      Sobald dich dann deine besorgte Mama dabei erwischt, die Angst davor hat, dass du dir die Hände schmutzig machst, vielleicht sogar mit dem Müll spielst und dir das Gesicht verschmutzt, du sogar krank davon werden könntest, will die dich natürlich davon abbringen. Aber das erklärt sie dir natürlich nicht so ausführlich, weil du es gar nicht verstehen würdest.

      Nein, sie sieht dich nur am Mülleimer und sie reißt dich mit einem Ruck zurück und sagt dir, dass das "bäh" ist, dass es eklig und schmutzig ist. Dieses macht sie jetzt jedes Mal, wenn du nur versuchst, die Tür aufzumachen, um zu gucken, was dahinter ist.

      "Das ist pfui, das ist schmutzig, das ist eklig".

      Diese Sätze brennen sich so in dein Hirn, später in dein Unterbewusstsein, dass du dich dann, wenn du größer geworden bist und eventuell das Pech hast, dass die von Mami gelernte Müllsituation so tief als negative Erfahrungen in dir sitzt, einfach dein restliches Leben vor Müll ekelst. Für manche reicht da nur der Gedanke an Müll, dass Ansehen oder der Geruch von diesem, um einen Würgereiz auszulösen.