Название | Ein ganz klarer Fall |
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Автор произведения | Elke Schwab |
Жанр | Языкознание |
Серия | Kullmann-Reihe |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750237209 |
»Mochten Sie sie so gerne?«
»Wer Marita kannte, musste sie mögen. Sie war der Inbegriff von Liebe und Zärtlichkeit, sie war bei uns Kindern und auch bei älteren Menschen etwas Besonderes. Sie kam oft zu mir herüber, wenn meine Eltern mich allein im Haus ließen. Das waren immer tolle Tage. Marita hatte so etwas Positives an sich. Immer wenn ich böse oder wütend war, konnte sie mich mit ihrer Ausgeglichenheit so besänftigen, dass ich meine eigenen Gefühlsausbrüche nicht mehr verstand. Sie kam mir damals immer vor wie ein guter Engel.«
»Hatte Marita viele Freunde in der Nachbarschaft?«
»Ja, sie hütete viele Kinder aus der Nachbarschaft und alle Mütter waren froh über Marita, weil sie so zuverlässig war und alle Kinder sie liebten.«
»Wissen Sie Anke«, stöhnte Kullmann schwerfällig, »dieser Fall macht mich so unendlich traurig. Meine Stimmung ist in den letzten Jahren ohnehin nicht mehr die beste, aber dieser Fall setzt allem die Krone auf. Am liebsten würde ich das Handtuch werfen und etwas ganz Neues anfangen. Aber was?« Verächtlich lachte er über sich selbst. »Außer der Polizeiarbeit kann ich nichts. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Elend, Leid und Unglück zu sehen. Mit zuzusehen, wie Menschen vernichtet wurden, ohne ihnen helfen zu können. Lange Zeit krampfhaft bemüht, etwas zu verändern auf dieser schlechten Welt, und doch nichts erreicht. Alles was ich wirklich erreicht habe, ist, dass ich alt geworden bin, die Last vieler Schicksale mit mir herumtrage und mich im Kreis bewege. Und nun das hier. Dieser Fall hatte mich damals schon bewegt. Nun muss er doch tatsächlich wieder mit all seiner Macht in mein Gemüt eindringen und mich an mein damaliges Versagen erinnern. Anstatt abzuschalten, zu vergessen, werde ich wieder auf Fälle gestoßen, die längst Vergangenheit sein sollten.« Leise seufzte er und fügte schicksalsergeben an: »Möglicherweise muss es so sein, denn es gibt zu viele Schicksale, bei denen ich nicht helfen konnte - wo die Gerechtigkeit ihren eigenen Weg gegangen ist. Auf diese Weise soll ich noch kurz vor meinem Ende wieder daran erinnert werden, dass ich einfach versagt habe. Ich soll den Platz wohl für jemanden frei machen, der dieses Elend besser in den Griff bekommt. Vielleicht ist das das Resümee meiner 30 Dienstjahre.«
Anke schüttelte heftig den Kopf: »Um Gottes willen, Kullmann. So dürfen Sie niemals denken. Sie haben mit Gewissheit mehr geleistet für die Gesellschaft als manch einer von uns es jemals schaffen wird. Wo kämen wir hin, wenn wir bei dieser Arbeit keine Moral hätten. Sie sind unsere einzige Säule der Moral. Solche Leute brauchen wir einfach. Sie arbeiten für das Gesetz, wie es niemand sonst fertig bringt. Wo wären wir hier ohne Sie? Wir anderen sind doch viel zu impulsiv und unerfahren, um ihre Arbeit so souverän ausführen zu können. Von Ihrer Erfahrung können wir nur lernen.
Leider hat jeder Fall zwei Seiten, da gibt es nicht einfach ein ›Ja‹ und ein ›Nein‹. Unsere Aufklärungsarbeit wird davon nicht tangiert. Was die Justiz am Ende daraus macht, darauf haben wir keinen Einfluss. Glauben Sie trotzdem niemals, nichts erreicht zu haben. Sie sind hier für uns ein großes Vorbild.«
Kullmann lächelte schwach. Er fühlte sich auch schwach. Die Erinnerung an Marita Volz hatte seinem ohnehin schwachen Selbstvertrauen einen bösen Rückschlag versetzt. Jedoch in der Kollegin Anke Deister sah er einen Hoffnungsschimmer. Sie war in ihren jungen Jahren schon so erfahren und klug, sie kannte die Menschen, konnte auf sie eingehen, verstand es mit Opfern und Tätern umzugehen, sie war die Richtige für diese Arbeit. Sie war bedacht und sachlich, niemals kam von ihr ein voreiliges Urteil.
»Ich bin froh, dass ich Sie habe, wirklich. Sie machen nicht nur eine hervorragende Arbeit, sondern schaffen es auch immer wieder, mich aufzumuntern und von senilen Gedanken abzulenken.«
»Also ich muss schon bitten, Sie sind nicht senil.«
»Wie kann man einem Menschen wie dieser Marita nur ein Leid zufügen? Verstehen Sie so was? Ich kann es nicht begreifen. Ich erinnere mich wieder gut an sie, sie war so zierlich und zerbrechlich und still«, murmelte Kullmann. Er schien sich fast völlig in der Vergangenheit zu bewegen.
Herbert Klos saß in dem Gerichtssaal und grinste immer wieder zu Kullmann herüber, der gerade als Zeuge vernommen wurde. Er wurde über die Beweise und Indizien befragt, die für Herbert Klos’ Schuld sprachen. Während der Verteidiger von Marita Volz ihn vernahm, war Kullmann sogar zuversichtlich, so wie die Vernehmung verlaufen war. Ja zuversichtlich war er, erinnerte er sich mit einem verächtlichen Schnauben. Er hatte doch tatsächlich geglaubt, mit seinen lächerlichen Beweisen, wie zum Beispiel die Blutgruppe des Mädchens, die an Klos’ Kleidern gefunden wurde, etwas beweisen zu können. Er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt, als er in dem Gerichtssaal saß tatsächlich als Herrscher über Recht und Unrecht.
Dabei war alles, was dieser Verteidiger ihn fragte, längst bekannt.
Der Verteidiger stand im Grunde genommen nur als Marionette dort und er hatte es erst viel zu spät erkannt. Größere Mächte hatten ihn längst verschluckt. Was interessierte diesen Mann das Leben von Marita Volz?
Sogar die Verletzungen, die Marita augenscheinlich davongetragen hatte, ließ er in dem zwielichtigen Glauben, Marita habe die Möglichkeit gehabt, sie sich selbst zuzufügen. Und doch wollte er glauben, er habe alle davon überzeugen können, dass grobes Unrecht geschehen war.
Als er an die Befragung des Verteidigers geraten war, spürte er vom ersten Augenblick an, dass er verloren hatte. Dieser Mensch konnte ohne Skrupel vorgehen, das Vorleben eines jeden Menschen an den Rand des Abgrunds stellen, ohne diesen Menschen auch nur eine geringfügige Chance zu ihrer Verteidigung zu geben. Er konnte aus einer Heiligen eine Hure machen.
Kullmann grämte sich noch heute bei der Erinnerung an dieses Verhör, das von einem Verteidiger durchgeführt wurde, der sichtlich Genuss daran empfand, das Gesetz zu verdrehen. Alle Aussagen, die es über den Fall Marita Volz gab, sprachen dafür, dass sie niemals zweifelhafte Bekanntschaften gepflegt hatte. Der Fall war so eindeutig klar, dass es zu einer Verurteilung von Herbert Klos einfach hätte kommen müssen. Aber der Fall wurde eingestellt aus Mangel an Beweisen.
Anke, die still Kullmanns Worten gelauscht hatte, meinte: »Marita war durch den dramatischen Tod ihrer Mutter so geprägt, dass sie niemals solch ein Leben hätte führen können. Sie war ein Opfer, in jeder Hinsicht. Selbst verführerisches oder aufreizendes Auftreten konnte man ihr in dem Verfahren nicht vorwerfen, was einige Richter ja gerne tun. Sie war immer hochgeschlossen und so schlicht gekleidet, so dass sie immer ein wenig traurig wirkte, auch wenn sie lächelte.«
Kullmann nickte: »Das ist unsere Justiz. Wie ich schon sagte, wir drehen uns immer wieder im Kreis. Nur der Kreis wird größer. Was hat es bisher genützt, wenn ich einen Fall aufgeklärt habe. Verändert hat sich dadurch gar nichts. Im Gegenteil: Für jeden abgeschlossenen Fall, liegen anschließend zwei neue auf meinem Tisch.«
Kullmann erhob sich von seinem Platz und stellte sich an das Fenster, dessen trostloser Ausblick genau in seine Stimmung hineinpasste.
»Aber nicht nur das. Noch viel schlimmer ist es im Fall Marita Volz gekommen. Da klärt man mit viel Mühe und Zuversicht einen solchen Fall auf und das Ergebnis ist, dass der Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird und die ganze Arbeit hat sich als Zeitverschwendung herausgestellt. Der Täter ist auf freiem Fuß und kann weiter Unheil anrichten. Liebe Anke, verstehen Sie jetzt, warum ich manchmal so bedrückt bin?«
»Ja, jetzt verstehe ich Sie besser. Die Erfahrungen, die sie gemacht haben, haben aus Ihnen diesen Menschen gemacht. Ich hatte bis jetzt immer einen großen Ehrgeiz, aber als ich auf den Fall von Marita Volz gestoßen bin und endlich gesehen habe, was daraus gemacht wurde, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob mein Ehrgeiz so angebracht ist.«
Mit einem Blick, so zuversichtlich wie nur möglich, schaute er die junge Kollegin an und sagte: »Sie sind noch jung, lassen Sie sich nicht entmutigen. Ihre Einstellung zu dieser Arbeit gefällt mir.«
Anke schwieg eine Weile. Ebenfalls stand sie auf und stellte sich ans Fenster. Die Sonne strahlte auf die schmutzverschmierten