Stadtflucht. Stephan Anderson

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Название Stadtflucht
Автор произведения Stephan Anderson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753193090



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er um Nachsicht für sein Eindringen.

      „Herr Doktor Weiss. Bitte kommen Sie herein und setzen sich“, antwortete Rasch, erfreut über den zusätzlichen Know-How-Input zu dem, in eine Sackgasse führende Gespräch, mit Ulman.

      „Ich komme vom Flughafen.“

      „Flughafen?“

      „Ja, Kommissar Ulman hatte angeordnet, dass die Müllcontainer aus den umliegenden Häuserblocks beschlagnahmt und dort in einen Hangar gebracht werden. Derzeit suchen zwölf Polizisten und vier Spurensucher, unter der Anweisung von zwei meiner Leute, nach Beweismittel.“

      Das stolze Sozialbaukind fühlte sich in seiner schnellen Reaktion bestätigt und setzte ein selbstzufriedenes Grinsen auf.

      „Und, was haben Sie gefunden?“, legte er selbstsicher nach.

      „Herr Kommissar, wir werden dort bis Ende der Woche nicht fertig. Der Müllberg ist zu groß. Alles dreht sich um Effektivität.“

      Bevor dieser noch in seiner direkten und wüsten Art antworten konnte fiel ihm Rasch ins Wort: „Was für ein Blödsinn. Ulman, ich weiß nicht, was ich mit Ihnen machen soll? Ihre wahnwitzige Theorie, dass dieser, unter Schock stehende Zeuge, der Täter ist, ist verrückt. Diesen Fall lösen wir nur mit harter Investigativ-Arbeit und nicht im Dreck. Nun haben wir einen Hangar voll Müll am Flughafen. Was soll ich dem Dezernatsleiter erzählen?“

      „Herr Magister, Herr Doktor und Herr Bürgermeister. Alle feinen Leute. Wenn es Ihnen nicht passt, dann klettere ich allein in den Dreck. Ich bin im Sozialbau und auf den Straßen aufgewachsen. Ich verstecke mich nicht hinter einer Krawatte und die Krawatte nicht hinter einem Schreibtisch.“

      Rasch und Weiss blickten einander, in vertraut verdutzter Weise an. Die allseits gewohnten despektierlichen Rundumschläge des Großstadteingeborenen waren wieder an der Tagesordnung. Oft kam mit dem Mundgeruch der passende Inhalt über Ulmans Lippen.

      „Folgendes. Herr Kommissar. Es klingt verrückt, aber wir müssen jeder Spur nachgehen. Aber diese ist sichtlich kalt. Der Druck der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik ist immens. Alle Einsatzkräfte vom Flughafen abziehen. Wir brauchen nun eine Task-Force. Eine Talente-Aufteilung. Effektivität mit der Uhr und den Ressourcen.“

      Es brodelte wieder unter des Mittsechzigers hohem Stirnansatz und seinen, mit Fett nach hinten gekämmten, zu einen Zopf gebundenen Haaren. Seine Augenbrauen, bedingt durch seine runzelnde Stirn, glitten fast über seine tiefsitzenden rehbraunen Augen und seine Hände ballten sich zu Fäusten, als Weiss kurzerhand einwarf: „Wir haben schon mit der Müllabfuhr gesprochen. Es ist erst ab Samstag möglich den Hangar zu leeren.“

      „Hören Sie das Ulman? Wenn das die Presse mitbekommt. Wir füllen den Flughafen mit Müll an. Um Gottes Willen. Bis Ende der Woche will ich Ergebnisse sehen, ansonsten ziehe ich Sie von dieser Angelegenheit ab. Ich bin der erste Ansprechpartner in diesem Fall.“

      „Aber es war dieser Röttgers!“, fuhr der großstädtische Kommissar aus seinem hageren, dünnen Körper.

      „Da wäre ich mir nicht so sicher“, warf der besonnen gebliebene Weiss ein, „ich bin kein Ermittler und ich mische mich auch nicht ein, aber nichts deutet auf einen ´Overkill´ hin. Ist das nicht oft so, bei persönlichen Verbrechen aus Hass?“

      „`Owakill´ - ´DaskFors´? Sprechen Sie mit mir, wie einen normalen Menschen!“, platzte der hohlwangige Mittsechziger noch mehr durch das prächtig ausstaffierte Büro.

      „Aus!“, beendete der oberkommissarische Karrierist das beidseitige Fantasieren und knallte den Tennisball auf seinen eichenen Schreibtisch, „Weiss, geben Sie mit Ihrem Endbericht der Spurensuche Gas und Sie Ulman, räumen Ihren Arbeitsbereich auf. Danach suchen wir in der ´Task Force´ einen Platz für Sie. Auf geht’s meine Herren!“

      Ohne Wiederwort erhob sich der zum Putzkommando abgestempelte Kommissar aus dem weißen Lederstuhl, schnappte seinen Schnellhefter und schritt, ohne ein Anzeichen einer Verabschiedungsgeste, zur Milchglastüre hinaus.

      Weiss hatte in seiner langen Karriere schon mit vielen schwierigen Charakteren, aus den verschiedensten Dezernaten der Hauptstadt, zu tun gehabt. Vielleicht sogar war es Voraussetzung diesen Beruf ausüben zu können, wenn man schwierig und kantig war. Und genau aus diesem Grund wollte er die Situation noch mit einer freundlichen Begebenheit abschließen, hatten sie doch über die Jahre viele schreckliche Tatorte gemeinsam besucht und hatte er stets die Gefühlsregungen seines cholerischen Investigativ-Kollegen geduldet. Jahrelang hatte er seine Eskapaden ertragen und er fühlte, dass sich der Mittsechziger, in seinem x-ten Dienstjahr, am Ende seines Wohlfühlbereichs angekommen sah.

      „Herr Kommissar! Wie ging es bei Ihrem letzten Fall, dem Blutenden am Tresen in Distrikt zehn, weiter?“

      Verblüfft über das plötzliche Interesse an seiner Person und den damit verbundenen Geschichten, blieb der beleidigte Kommissar stehen und drehte sich mit frohlockendem Gesichtsausdruck, inmitten seines Dreitagesbartes, um und berichtete voller Enthusiasmus. Einen Moment war sein Groll auf die beiden Herren wie verflogen.

      „Der am Tresen Verbliebene saß dort mehr als zehn Minuten allein. Ein anderer Gast kam bei ihm vorbei und bemerkte, dass er aus der Seite blutete. Der Typ sah, dass sein Hemd auf der linken Seite komplett blutverschmiert war und in dem Moment, wo ihm das klar war, sank er zusammen und stürzte vom Barhocker und verreckte. Der Typ bekam einen Bauchstich und merkte es nicht mal. Keiner wusste wer es war und niemand wollte es gewesen sein. Beim Vorbeigehen schnell hin gestochen.“

      „Das ist ja tragisch“, zeigte sich der schnauzbärtige Weiss, über den Ausgang des Falles und den belustigten Enthusiasmus des lachenden Erzählers erstaunt.

      „Keine Angst. Der Fall ist gelöst. Das was Leute aus den Bergen und feine Herren aus wohlhabendem Haus nicht verstehen ist, dass der Täter dann drei Tage später in einer Seitengasse, nahe der Bar mit einer tiefen Bauchwunde tot aufgefunden wurde“, berichtete Ulman mit gewohnt tiefer, kratziger Stimme. „Was ist dabei Ihre Apperzeption? Haben Sie nicht genug davon?“, fragte der Spurensucher erstaunt nach.

      Der alternde Kommissar schüttelte den Kopf.

      „Verwenden Sie bitte Worte, die jeder Mensch versteht. In meiner Stadt bekommt jeder seine Rechnung. Teure Rechnungen, die einfache Menschen wie ich ständig zahlen müssen.“

      Noch bevor der, sich verteidigen wollende Weiss, ausführen konnte, dass sein Vater Schlosser und seine Mutter Hilfsköchin waren und ihm der akademische Weg nicht geschenkt wurde, verschwand der gedemütigte Choleriker in Richtung seiner vermüllten Schreibtischburg.

      Mit der Dunkelheit zog auch wieder ein leichter Nieselregen, der viertelstündlich stärker wurde, über die Metropole am Strom. Aaron saß, voller Genugtuung, am Rücksitz des Polizeiwagens, welcher ihn zum Nordbahnhof brachte. Seine akute Fluchtangst hinter sich gelassen, machte sich in ihm ein Gefühl der Selbstzufriedenheit breit. Nun konnte er genüsslich aus dem Fenster blicken und die vorbeiziehenden Menschenmassen, ausgeleuchtet durch das künstliche LED-Licht der Straßenbeleuchtung, mit Entzücken beobachten. Wie ein Fürst in seiner Kutsche, wie aus einem geschützten Subkontinent heraus, beobachtete er das rege Treiben auf den Straßen der Großstadt, die ihn mit Amüsement unterhielten. Menschen, die versuchten vorm Regen zu fliehen, andere die mit ihren Regenschirmen alle anderen Passanten niederrammten und wieder andere, die sich aus öffentlichen Verkehrsmitteln heraus- oder hineindrängten, nur um keinen Tropfen Wasser abzubekommen. Jogger, die neben dreispurigen, stark-frequentierten Straßen liefen und unweigerlich nass wurden. Muslimische Mütter, die versuchten das Innere ihrer Kinderwägen vor dem himmlischen Nass zu schützen und Jugendliche, die lediglich mit Trainingsanzug und Frühlingsjacke unter Bäumen dem Wetterschauer zu trotzen versuchten. Nur eines konnte Aarons Stimmung noch steigen lassen, endlich wieder nach Hause zu kommen, aufs Land.

      Seinen Cousin, den er als Bruder betrachtete, zu besuchen und in das Haus seiner Großeltern zurückzukehren, mit dem er die schönsten Kindheitserinnerungen assoziierte. Endlich wieder eine Vertrauensperson, bei der man sich geborgen und verstanden fühlte. Zuletzt hatte er die Hauptstadt vor gut zwei Monaten verlassen