Название | Die Grenze |
---|---|
Автор произведения | Leon Grüne |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754170472 |
„Verzeihen Sie, aber haben Sie einen Termin?“, fragte plötzlich eine krächzende Stimme hinter dem Computer. Erschrocken drehte er sich zu seinem Schreibtisch herum und sah wie der kahlrasierte Kopf des alten, runzligen Mannes im Schlafanzug hinter dem Rechner hervorschaute. Zufrieden begann der Alte zu lachen und machte eine abwinkende Handbewegung, während er sich wieder dem vor ihm leuchtenden Bildschirm zuwandte.
„Nur ein Spaß, Doktorchen. Nur ein Spaß“, beschwichtigte er ihn scherzhaft und hämmerte wie ein Berserker auf die Tastatur des Stand-PCs.
Übermüdung. Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Übermüdung ...
„...Halluzination. Atme aus. Du bist nicht verrückt. Fällt Ihnen nichts Besseres ein?“, fragte der Mann im Schlafanzug belustigt und erhob sich von dem Drehstuhl und musterte Kris mit einem gewitzten Schmunzeln.
„Wer sind ...“, fing Kris kleinlaut an, aber wurde rasch unterbrochen.
„Nichts weiter als ein alter gebrechlicher Mann“, sagte er und buckelte symbolisch seinen Rücken und machte zwei Schritte auf ihn zu.
„Hören Sie auf mich ...“
„...zum Narren zu halten?“, beendete der Alte den Satz vor Kris und schaute verschmitzt aus seiner Buckelpose zu ihm hoch. Inzwischen konnte man Kris Gesicht nicht mehr als blass, sondern musste es als kreideweiß bezeichnen. Sein Kopf war überfordert und das auf vielen verschiedenen Ebenen.
„Aber Doktor, was ist denn mit ihnen? Sie sehen so blass aus“, sagte der Mann im Schlafanzug und setzte eine besorgte Miene auf.
„Sind Sie etwa krank?“
Hastig erhob er sich aus seiner gekrümmten Pose und machte zwei schnelle, fast lautlose Schritte auf Kris zu. Kris fiel auf, dass er barfuß war und seine Zehennägel die Farbe von einem dreckigen Gelb hatten.
„Strecken Sie die Zunge raus, singen sie mit geschlossenem Mund die Nationalhymne von Nigeria in D-Dur und drehen Sie sich zehn Mal im Kreis“, forderte er ihn ernst auf und legte ihm den Handrücken an die Stirn. Kris reagierte nicht. Er stand einfach nur stumm da und blickte in die Augen des alten Mannes, die ihn auf irgendeine Weise zu hypnotisieren schienen. Kurzzeitig war er versucht, reflexartig den Mund zu öffnen und ihm tatsächlich seine Zunge raus zu strecken. Doch glücklicherweise hatte sein Verstand rechtzeitig die Kontrolle über seinen Körper wiedergewonnen und hielt ihn von diesem Vorhaben ab.
„Welche Symptome haben Sie? Nein, verraten Sie es mir nicht. Halluzinationen, Schlafmangel, Impotenz, stimmts?“, fragte er immer noch mit demselben ernsten Gesichtsausdruck und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Schwach und mit gespielter Trauer schüttelte er den Kopf.
„Tut mir leid, Doktorchen, aber Sie sind wohl doch verrückt“, sagte er und legte ihm mitfühlend seine knochige Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich leicht, aber zugleich auf irgendeine Weise, die mehr von seinem psychischen Empfinden ausging, als von seinem physischen, drückend an. Plötzlich fing der seltsame Mann an, sein krächzendes Lachen hören zu lassen und nahm die Hand von Kris Schulter.
„Bleiben Sie ganz unbesorgt. Als Arzt unterliege ich selbstverständlich der Schweigepflicht“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand und zwinkerte ihm belustigt zu.
„Was ...“, versuchte Kris erneut eine Frage zu stellen, aber wurde unlängst wieder von dem Mann unterbrochen.
„Sie entschuldigen mich, Doktorchen, aber ich habe noch andere Patienten, die meine unfehlbare Diagnose benötigen. Lassen Sie sich einen Termin geben“, sagte er und fischte mit seinem dürren Arm die Mütze vom Kleiderständer.
„Wir sehen uns, Doktorchen.“
Dann setzte er seine Schlafmütze auf und einen Wimpernschlag später war Kris wieder alleine im Raum. Verwirrt blickte er sich um. Der Computer war ausgeschaltet und sein Stuhl stand wie immer unter dem Tisch. Nichts deutete darauf hin, dass vor wenigen Sekunden jemand hinter seinem Schreibtisch gesessen und den Rechner bedient hatte. Mit einem unwohlen Gefühl, als wenn er sich das Frühstück erneut durch den Kopf gehen lassen würde, stellte er seinen Arztkoffer neben dem Schreibtisch ab und zog den Stuhl unter dem Tisch hervor.
Du bist nicht verrückt. Komm wieder zu dir. Du bist nicht verrückt. Nicht du.
Angespannt drückte er auf den Power-Knopf des PC-Towers und setzte sich auf den Stuhl. Langsam und mit einem lauten Rauschen startete der Computer. In dem Moment, in dem er die Datei des ersten Patienten öffnen wollte, tauchte ein gelbes rechteckiges Feld auf und begann unaufhörlich in der Mitte des Bildschirmes zu blinken.
„SEHEN SIE GENAU HIN DOKTOR“, leuchtete die rote Schrift auf dem Feld auf. Unsicher blickte er sich im Raum um. Er war immer noch leer. Als er seine Augen auf den Bildschirm richtete, war das rechteckige Feld mit der roten Schrift verschwunden und der Windows Homescreen mit allen Programmen und Dateien tauchte auf, als wäre nichts gewesen. Vorsichtig rollte er mit dem Stuhl näher an den Computer heran. Zögerlich griff er nach der Maus und wählte eines der Icons auf dem Bildschirm aus.
Doch anstatt, dass sich das ausgewählte Programm öffnete, erschien innerhalb weniger Millisekunden ein Video. Sofort erkannte Kris das Baby, das er glaubte am gestrigen Abend erst überfahren und dann in seinem Auto sitzen gesehen zu haben. Wie am gestrigen Abend saß es dort mit überfahrenem Kopf und von Blut und Tränen geröteten Wangen und schrie ununterbrochen. Erschrocken wich er vom Bildschirm zurück und hielt sich die Hand vor den Mund, während er das Baby weiterhin schreien und plärren hörte. Eilig versuchte er das Video zu stoppen, bevor Marion oder gar ein Patient etwas davon hören würde, aber er konnte es nicht. Wenige Augenblicke später verschwand das Video vom Bildschirm und das gelbe Textfeld blinkte erneut in der Bildschirmmitte auf.
„DAS IST IHRE ZUKUNFT“, zeigte die rote Schrift, dann startete sich der Computer neu.
Ehe Kris wusste, was er tun sollte, klopfte es an der Tür und Marion streckte den Kopf in das Zimmer.
„Dr. Lindner? Der erste Patient wäre da“, sagte sie emotionslos. Immer noch unter Schock warf er einen flüchtigen Blick auf den Rechner, der inzwischen wieder hochgefahren war und nur darauf wartete benutzt zu werden.
„Schicken Sie ihn rein“, bat er seine Angestellte mit einem wirren und überforderten Lächeln. Mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn verließ Sie das Zimmer, um dem Doktor den ersten Patienten des heutigen Tages zu bescheren. Verunsichert rückte Kris näher an den PC und öffnete probeweise den Internetbrowser.
Du bist nicht verrückt.
Dieses Mal erwarteten ihn keine bösen Überraschungen und er begann mit dem vertrauten Tagesgeschäft.
Aber was, wenn doch?
13
Wie ein geprügelter Hund, was er ja im gewissen Sinne, mit Ausnahme der Spezies, auch war, ging Mark über den Schulhof zu den Steinen, wo er gestern Jonas getröstet und Erik in den Dreck geschubst hatte. Diesen Morgen fand er seinen Freund nicht dort vor, denn er war am heutigen Tag zuhause geblieben. Irgendwas war mit seinem Magen und er musste sich wohl übergeben, hatte seine Klassenlehrerin ihm genervt erzählt, während sie das Mathebuch schnell wieder in ihrer Ledertasche verstaute und zügig aus dem Raum verschwand. Mark war nicht traurig, dass Jonas heute nicht da war. Er hätte ohnehin nicht mit ihm reden können, weil er immer noch mit den Gedanken bei seinem kleinen Bruder Ben war. Und das war in Ordnung so. Es gab für alles eine Zeit im Leben, und jetzt war die Zeit zur Trauer um einen geliebten Menschen. Eine Zeit, die ein jeder im Leben erhalten sollte.
Nachdenklich setzte Mark sich auf einen der Steine und betrachtete in Gedanken versunken seine von der Erde verdreckten weißen Schuhe. Nach ein paar weiteren Schritten würde die Schleife an seinem linken aufgehen. Langsam driftete er in seine eigene