Der Puppendoktor. Hans Oberleithner

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Название Der Puppendoktor
Автор произведения Hans Oberleithner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750235014



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Tiere länger nicht mehr gerührt haben, waren wir der Meinung, dass sie tot sind. Das waren sie nicht. Wir haben dann über viele Wochen immer wieder Tiere in der Küche gefunden. Die sind bis in die Schubladen vorgedrungen und haben sogar noch gelebt.

      Letzte Weihnachten hat unser Vater einen lebenden Karpfen heimgebracht. Der stammte aus dem Teich eines seiner Patienten. Obwohl dieser Karpfen die ganze Visitentour auf dem Rücksitz, in Zeitungspapier eingehüllt, also im Trockenen, verbracht hat, hat er immer noch gezappelt, als ich ihn aus dem Auto geholt habe. Wir haben dann die Badewanne eingelassen und ihn da reingesetzt. Mein Vater hat gemeint, dass Karpfen häufig Rückenschwimmer seien, weil sich unser Karpfen immer auf den Rücken gedreht hat anstatt unterzutauchen. Jedenfalls hat er noch bis zum 24. Dezember in der Badewanne gelebt, volle zwei Tage. Wahrscheinlich ist er auch nur deshalb gestorben, weil ihn Gerti ins Waschbecken gehievt hat, um wieder duschen zu können. Beim Zähneputzen habe ich ihn dann immer etwas beiseite schieben müssen, damit er keine Zahnpasta abkriegt. Da war er dann wieder zeitweise im Trockenen, zumindest mit der Schwanzflosse, und das hat ihm wahrscheinlich nicht gut getan.

      Einmal in der Woche habe ich am Nachmittag Schule. Jeden Mittwoch, Zeichnen und Handarbeiten. Immer an diesem Tag, also einmal pro Woche bin zum Mittagessen bei meiner Mutter.

      Mittags um halb eins ist die Schule aus. Dann gehe ich die steile Kirchengasse hinauf zum Dunklhof, der nur wenige Minuten vom Gymnasium entfernt ist. Ich drücke das Tor auf und gehe zwischen den alten Mauern vielleicht zwanzig Meter leicht bergauf, bis ich im Innenhof stehe. In der Hofmitte gibt es eine Birke, darunter ein Bank aus Stein. Ich wende mich nach rechts und stehe vor dem Hauseingang. Alle Türen hier sind grün und haben weiße Streifenmuster. Die Haustür ist gewöhnlich offen. Eine steile Steintreppe führt hinauf bis zu einem schmiedeeisernen Gittertor. Rechts hängt eine schwarze Glocke mit Stange und Griff, zum Anläuten.

      Bevor ich daran ziehe, sauge ich die Luft tief ein. Es ist ein Geruch, den es nur hier gibt. Ich finde, es riecht so ähnlich wie in der Kirche. Vielleicht wegen der dicken Mauern. Es herrscht vollkommene Stille. Obwohl ich schon häufig hier war, bin ich noch immer etwas aufgeregt.

      Die Glocke ist hell und laut.

      Dann fliegen die Türen und meine Mutter erscheint mit einem klappernden Schlüsselbund hinter der Gittertür. Sie umarmt und küsst mich, und wischt gleich wieder den Lippenstift von meiner Wange weg. Dann geht sie vor, ich hinter ihr her. Man tritt hier in eine andere Welt ein, das fühlt man. Es riecht weder nach gebohnertem Parkettboden wie in der Schule noch nach Würstelgulasch wie daheim.

      Der Esstisch mit dem weinroten Tischtuch ist schon gedeckt. Drei kleine Schüsseln, drei Stoffservietten, drei Weingläser, Stäbchen. Heinrich erhebt sich aus seinem Polsterstuhl, der unter dem Fenster zwischen Büchern in einer Nische steht und begrüßt mich. Er hat wie mein Vater einen Schnauzbart, der aber schon grau ist.

      Wir setzen uns zu Tisch.

      Heute gibt‘s „chinesisch“. Das ist eins von den zwei Gerichten, die meine Mutter abwechselnd macht, wenn ich hier bin. Nächstes Mal wird es Polenta mit Kalbfleisch geben. Ich mag beides sehr gern. Ich glaube, Heinrich auch. Er macht von Zeit zu Zeit kleine Bemerkungen, alle ziemlich nett und etwas rätselhaft. So sagt er zu meiner Mutter „Jawohl Frau General“ wenn sie ihm aufträgt, den Wein zu holen. Oder wenn sie einen Patzen klebrigen Reis in unsere Schüsseln fallen lässt und dabei mit strenger Miene sagt „Chinesischer Reis muss kleben“, dann antwortet Heinrich wieder „Jawohl, Frau General“, und sieht mich dabei kumpelhaft an. Mir ist das immer ein bisschen peinlich. Ich mag Heinrich zwar irgendwie, aber sein Kumpel will ich nicht sein.

      Dann wird die Stimme meiner Mutter plötzlich weich.

      Heinrich, bitte Wein, sagt sie. Er geht dann zu einem alten Bauernschränkchen, sperrt es mit einem Schlüssel auf, den er aus seiner Hosentasche zieht und holt eine grüne Weinflasche hervor. Ich kriege Orangeade, die beiden Wein. Die Flasche wandert dann gleich wieder zurück ins Schränkchen.

      Im Laufe der Zeit lerne ich mit Stäbchen zu essen.

      Heinrich isst schweigsam, ich erzähle zwischendurch ein paar Anekdoten aus der Schule, während meine Mutter am Weinglas nippt.

      Heinrich, noch ein halbes Glas, bitte, ... und er antwortet ... Jawohl, Frau General ... und schlurft ein zweites Mal zum Schränkchen. Ja, Heinrich schlurft. Ich glaube, das sind seine Schuhe. Die sind schwarz, riesig und sehen schwer aus. Heinrich selbst ist ziemlich klein, zumindest bin ich schon einen Kopf größer. Er trägt sehr weite dunkelgraue Hosen, die auf den Schuhen aufsitzen und Falten wie eine Ziehharmonika bilden.

      Lang halten wir uns nicht beim Essen auf, dann verschwindet Heinrich in seinem Zimmer zum Mittagsschläfchen. Meine Mutter macht noch einen „Türkischen“ in ihrer winzigen Küche und ab geht es ins Atelier nebenan.

      Das Atelier kommt mir fast so groß vor wie ein Tennisplatz. Vorbei an Heinrichs Zeichentisch peile ich das kleine Tischchen an, das am andern Ende des Raums vor einer riesigen Couch steht.

      ... Du bist doch jetzt schon sechzehn, sagt meine Mutter, darfst also rauchen.

      Sie zündet sich eine Malboro an und bietet mir auch eine an. Ich lehne mich zurück in der Couch und blase den Rauch Richtung Balkendecke. Wir rauchen und trinken Mokka. Sie erzählt mir, was sie gerade dichtet und wie sie nach passenden Wörtern jagt.

      Während sie so in ihre Welt versinkt, versinke ich in meine. Ich blicke durch eines der Fenster mit dem Eisenkreuz neben mir und beobachte die vorbeiziehenden Wolken am Himmel. Die Schule ist weit weg, auch mein Zuhause. Irgendwann kommt der Moment, wo die Mutter auf meiner Stirn ein paar Mitesser sieht, die sie dann mit ihren langen Fingernägeln ausdrückt. So vergeht die Zeit im Flug und gegen drei Uhr bin ich schon wieder in der Schule. Dann verschwindet diese andere Welt im Hintergrund. So richtig in der wirklichen Welt bin ich erst dann angekommen, wenn ich am frühen Abend das Würstelgulasch im Hausgang rieche. Und wenn mich dann Irmgard über die Schule ausfragt und mein Vater, leicht angeheitert vom Most der Bauern, von seinen Visiten zurückkehrt.

      Dann weiß ich, wo ich bin.

       Daheim.

      November 1966 - Doppelwelt

      Allerseelen. Und 20°C im Schatten!

      Heute fällt der Nachmittagsunterricht aus. Gelegenheit zum Besuch der Gräber, heißt es. Trotzdem gehe ich wie immer am Mittwoch in den Dunklhof, weil meine Mutter nicht wissen kann, dass nachmittags keine Schule ist. Es ist nicht ihre Welt.

      Wir haben zwar ein Telefon, aber ich rufe sie extrem selten an. Eigentlich nie. Ich mag es nicht, wenn mir alle beim Telefonieren zuhören können. Ich muss dann vielleicht ins Telefon sagen – hallo Mutti – und Mama hört vielleicht zu. Wie peinlich!

      Irmgard nennen Mausi und ich schon längst ‚Mama‘, weil wir vor sieben Jahren noch ein Schwesterchen dazugekriegt haben, die Andrea. Für Andrea ist es die ‚echte‘ Mama. Unsere ‚echte‘ Mama nennen Mausi und ich ‚Mutti‘. Gottseidank spricht Mama nie über Mutti und Mutti nie über Mama. Auch unser Vater nimmt das Wort ‚Mutti‘ praktisch nie in den Mund. Zumindest nie, wenn Mama in der Nähe ist. Er fragt mich beispielsweise, ... bist du morgen wieder im Dunklhof? und sagt nicht, ... bist du morgen bei Mutti? So ist es mir auch viel angenehmer, weil ich mir sonst ein bisschen wie ein Verräter vorkäme, der Mama gegenüber.

      Das Wetter an diesem Allerseelentag ist ungewöhnlich warm, sodass meine Mutter, nach Polenta und Kalbfleisch, Wein und Mokka, und einer Marlboro im Atelier, die spontane Idee hat, mit mir einen Autoausflug zu machen.

      Ich ahne, was auf mich zukommt. Ablehnen ist zwecklos und so füge ich mich.

      Während ich mich in der Riesencouch verkrieche, macht sie ihre Vorbereitungen. Heinrich wird aus seinem Mittagschlaf geholt. Er muss das Garagentor unten im Hof und die große Flügeltür hinaus in die Kirchengasse öffnen. Meine Mutter hat sich inzwischen umgezogen und steht jetzt in ihrer Sportwagenkluft vor mir. Dazu gehört eine beige